Lulas Taktik vor der Wahl

Le Monde diplomatique –

Im brasilianischen Wahlkampf geht die Arbeiterpartei ein Bündnis mit den Kräften der rechten Mitte ein. Denn Lulas Wunschgegner für die Stichwahl ist Bolsonaro.

Was hat er sich bloß dabei gedacht? Lula da Silva, Brasiliens Staatschef von 2003 bis 2010 und als Chef der Arbeiterpartei (PT) eine zentrale Figur der lateinamerikanischen Linken, tritt bei den Präsidentschaftswahlen am 2. Oktober ausgerechnet mit Geraldo Alckmin als Vize an. Der ehemalige Gouverneur von São Paulo kommt aus der Sozialdemokratischen Partei (PSDB), die in Wahrheit aber ein neoliberales Programm vertritt und bis vor wenigen Jahren eine wichtige Rolle innerhalb der brasilianischen Rechten spielte.

Aus Alckmins Perspektive scheint dieser Schritt irgendwie logisch. Die überraschende Wahl des rechtsextremen Ex-Militärs Bolsonaro 2018 stürzte die alten Rechtsparteien in die Bedeutungslosigkeit. Alckmin, der erfolglos bei den Wahlen 2006 gegen Lula und 2018 gegen Bolsonaro angetreten war, tauschte daraufhin sein Parteibuch gegen das der gemäßigt linken Sozialistischen Partei Brasiliens (PSB) aus. So konnte er mit Lula in Verhandlungen treten und ein Bündnis eingehen.

Was aber ist die Logik des ehemaligen Metallarbeiters Lula? Man könnte anführen, dass seine Partei eine Geschichte höchst heterogener Koalitionen hat. Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff stützte sich für ihre zweite Amtszeit ab 2015 auf Michel Temer von der rechtsgerichteten Partei der Demokratischen Bewegung Brasiliens (PMDB). Das war allerdings keine kluge Idee, denn Temer orchestrierte 2016 auf seinem Posten als Vizepräsident einen parlamentarischen Putsch gegen seine Bündnispartnerin, um selbst Präsident zu werden.

Die PSDB ist zwar nicht die PMDB; aber vor Bolsonaros Aufstieg stand Alckmins Truppe 25 Jahre lang an der Spitze der brasilianischen Rechten. Für die PT verkörperte sie immer den Gegner und gewiss keinen potenziellen Verbündeten.

Um die Strategie der brasilianischen Linken zu verstehen, muss man einige Jahre zurückgehen. Mit dem Ende der Militärdiktatur (1964–1984) gerieten die reaktionärsten der bürgerlichen Parteien in Schwierigkeiten. Diskreditiert, gespalten und ohne politische Perspektive, schwammen sie gegen den weltgeschichtlichen Strom des Neoliberalismus und orientierten sich an einem überkommenen Konservatismus und Teilen der Sozialdemokratie.

Zu dieser Zeit erstarkte die Linke im Land. Die 1980 gegründete PT legte ein Programm vor, das auf einen Bruch mit dem Kapitalismus abzielte. Schon 1989 erreichte ihr Kandidat mit dem Spitznamen Lula die zweite Runde bei den ersten Präsidentschaftswahlen seit 1964. Die alte Rechte – die Erben der Diktatur und Repräsentanten des Großkapitals – setzte damals auf Fernando Collor, der sich als Streiter sowohl für Moral als auch für Modernisierung präsentierte. Es ging dabei vor allem darum, den Kandidaten der PT zu verhindern, was auch mit einem Vorsprung von 7 Prozentpunkten gelang. Allerdings versank der erste Präsident des demokratischen Übergangs im Korruptionssumpf und wurde nach nur drei Jahren abgesetzt.

Die PT setzte auf ein Bündnis mit der jungen PSDB. Die hatte sich 1988 von der PMDB abgespalten, weil sie sie für verstaubt hielt und für unfähig, den Übergang zur Demokratie zu managen. Doch die PSDB entschied sich trotz ihres Parteiprogramms, das die „notwendige Modernisierung des Kapitalismus“ in den Mittelpunkt stellte, gegen die PT und verbündete sich stattdessen mit einer der Nachfolgeorganisationen der Militärjunta (der Partei der Liberalen Front, PFL) sowie mit einem Teil der PMDB.

Ihre Absicht war, das konservative Lager neu zu organisieren, um den Wahlsieg der PT zu verhindern. Die PSDB kam mit ihrem intellektuellen Anstrich und ihren stilvollen Anführern in der urbanen Mittelschicht gut an und bot den bürgerlichen Kräften die perfekte Gelegenheit, die Karten vor den Wahlen neu zu verteilen. Unter den Präsidenten Itamar Franco (1992–1994) und Fernando Cardoso (1994–2002) trug sie entscheidend dazu bei, eine marktfreundliche neoliberale Agenda durchzusetzen.

Bis zur Wahl Bolsonaros 2018 war die Konfrontation zwischen PT und PSDB bestimmend in der brasilianischen Politik, stellvertretend für sämtliche sozialen Gegensätze, sei es zwischen Progressiven und Konservativen, Linken und Rechten, Anhängern einer staatlich gelenkten Entwicklung und Neoliberalen, zwischen Arbeitern und Unternehmen, Kleinbauern oder Landarbeitern und Großgrundbesitzern.

Als Lula 2002 seine erste Wahl gewann, übernahm die PSDB die Führung der Opposition. Es waren ihre Kandidaten, die bei den Präsidentschaftswahlen 2002 und 2006 gegen Lula und 2010 und 2014 gegen Rousseff in die Stichwahl kamen. Sie half Temer bei seinen parlamentarischen Manövern, um die erste Präsidentin in der Geschichte des Landes zu stürzen. Ebenso unterstütze sie die Antikorruptionskampagne des Richters Sergio Moro, die Lula für 588 Tage ins Gefängnis brachte – bevor sich die Anklage gegen ihn als unbegründet erwies und Beweise für eine politische Instrumentalisierung der Justiz ans Licht kamen.

Die PSDB verschaffte Temer die parlamentarische Mehrheit, die er für seine neoliberale Schocktherapie brauchte.1 Nachdem Rousseff gestürzt und Lula in Haft war, glaubten die Parteistrategen der PSDB, sie könnten sich bei den Präsidentschaftswahlen 2018 wieder die Macht sichern. Dann hätte man auch die zweifelhaften Machenschaften gegen Rousseff, welche die meisten Brasilianer für unschuldig hielten, vergessen machen können.

Doch es lief nicht nach Plan. Im ersten Wahlgang bekam PSDB-Kandidat Alckmin nur knapp 5 Prozent der Stimmen. In der Stichwahl traten dann Bolsonaro und Fernando Haddad von der PT, Ex-Bildungsminister und früherer Bürgermeister von São Paulo, gegeneinander an. Mit seinem Sieg fegte der rechtsextreme Bolsonaro die traditionelle Rechte hinweg, die noch nie eine derartige Niederlage erlebt hatte.

Manche Beobachter vergleichen den Aufstieg Bolsonaros mit dem von Mussolini und die brasilianische extreme Rechte mit dem italienischen Faschismus. Auch wenn sich die historischen Umstände stark unterscheiden, gibt es in der Tat einige Gemeinsamkeiten. Auf beide lässt sich Marx’ Analyse des „Bonapartismus“ aus dem „18. Brumaire des Louis Bonaparte“ anwenden: Angesichts des Scheiterns des politischen Systems und der bürgerlichen Parteien taucht eine autoritäre Gruppierung in der politischen Arena auf, um die drohende Destabilisierung der herrschenden Ordnung zu verhindern.

Die neuen Radikalen wollen den Augiasstall ausmisten und die diskreditierten traditionellen politischen Formationen auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgen – um zugleich eine neue Hegemonie zu errichten, die den Fortbestand des Systems garantiert. Unterstützung, so Marx, erhält diese Gruppierung von Teilen des Lumpenproletariats und vom Militär. Sie knüpfe zudem Beziehungen zu großen Unternehmern, deren Interessen sie vertritt, ohne ihnen jedoch die Macht zu überlassen.

Man könnte den Bolsonarismus als eine Form dieses Bonapartismus bezeichnen. Die alten bürgerlichen Parteien Brasiliens sind diskreditiert und tatsächlich nicht mehr in der Lage, die Macht im Staat (jedenfalls auf Bundesebene) zu übernehmen. Das Militär, das seit jeher eine Art Vormundschaft über den Staat ausgeübt hat, stellte sich auf die Seite des Präsidenten und schützt ihn, ist aber einstweilen nicht bereit, Schritte zu unternehmen, die die Verfassung von 1988 hinwegfegen würden.

In Brasilien gibt es keine zentralisierten Organisationen, wie sie für den Faschismus typisch sind. Aber es hat sich eine Konstellation aus Milizen, Polizeikräften und evangelikalen Gruppen gebildet, die von einem beträchtlichen Teil des Bürgertums, insbesondere dem Kleinbürgertum und der Mittelschicht, unterstützt wird und die dem Bolsonarismus eine starke Mobilisierungsfähigkeit verleiht.

Die Allianz zwischen dem Ex-Militär Bolsonaro und den Unternehmen erwies sich allerdings – trotz der Ernennung des neoliberalen Paulo Guedes zum Wirtschaftsminister – als nicht sehr stabil. Die Wirtschaftsbosse und die durch sie mehr oder weniger direkt kontrollierten Machtzentren – Medien, Parlament, Justiz – haben nach und nach das Vertrauen in den Präsidenten verloren. Die Meinung der Hardliner unter den Bolsonaristen, dass ein Bruch mit der liberalen Demokratie nötig sei, um die „notwendigen Reformen“ durchzusetzen, teilen sie nicht.

Das hat aber nichts mit funktionierenden republikanischen oder verfassungstreuen Reflexen zu tun; die waren unter den Königen der brasilianischen Wirtschaft nie weit verbreitet. Sie sind eher der Ansicht, die Bedrohung sei nicht groß genug, um etwas zu tun, das sich als schlecht für das Geschäft erweisen könnte. Zudem sind sie schlicht genervt von Bolsonaro, den sie dumm, vulgär und rüpelhaft finden.

Diese Teile des Bürgertums, die die historische Basis der PSDB bilden, hängen jener ideologischen Vorliebe an, welche die US-amerikanischen Philosophin Nancy Fraser als „progressiven Neoliberalismus“2 beschrieben hat: der Vorstellung, dass die repräsentative Demokratie, die Verteidigung von Minderheitenrechten und die Mechanismen der sozialen Umverteilung am ehesten geeignet sind, eine stabile ökonomische Dominanz zu sichern.

Die Spaltung innerhalb des konservativen Lagers und der Wechsel eines Teils der bisherigen Bolsonaro-Unterstützer zur Opposition bilden den Hintergrund der strategischen Überlegungen der PT für den aktuellen Wahlkampf. Anfang vergangenen Jahres deutete noch alles darauf hin, dass die PT auf eine breite Linksfront hinarbeiten würde, angeführt von Lula mit einem Programm zum Bruch mit dem Neoliberalismus. Die Bemühungen, die unzufriedenen Anhänger Bolsonaros für die PT zu gewinnen, wurden auf die Zeit nach dem ersten Wahlgang verschoben. Denn viele rechneten mit einem Sieg Lulas bereits in der ersten Runde.

Das änderte sich zwischen März und Mai 2021, als das oberste Bundesgericht die Urteile gegen Lula aufhob und damit offiziell den Weg für seine Kandidatur frei machte. Denn von einem Teil der PT-Strategen wurde dieser Schritt durchaus als ein Warnsignal aufgefasst. Sie sind – nicht zu Unrecht – davon überzeugt, dass die Justiz von der Rechten instrumentalisiert wird.

In der Gerichtsentscheidung sahen sie deshalb ein Indiz für das Entstehen einer bürgerlich-liberalen Opposition, deren Strategie darin bestand, den Kandidaten Lula zu benutzen, um Bolsonaro zu schwächen und im zweiten Wahlgang den PT-Kandidaten zu schlagen. Für die PT ging es nun darum, zu verhindern, dass diese Opposition einen Präsidentschaftskandidaten hervorbringt, der es in den zweiten Wahlgang schaffen und Bolsonaro, den idealen Gegner, aus dem Rennen werfen könnte.

Die Spaltung des konservativen Lagers ermöglichte es, das Narrativ der bevorstehenden Wahlen zu verändern: Es war nun nicht mehr der Kampf zwischen links und rechts, sondern zwischen Demokratie und Autoritarismus. Diese Logik wird durch Bolsonaro selbst befeuert, der mehr als einmal die Demokratie und das brasilianischen Wahlsystem kritisiert hat – ganz zu schweigen von seinen Drohungen, das Ergebnis der Wahlen im Oktober nicht anzuerkennen.

Die Zeit war somit reif für eine Strategie der „breiten Front“, um all jene zu vereinen, die die Verfassung verteidigen wollen. Das war die Grundlage für die Verhandlungen mit Alckmin. Das Bündnis mit dem Konservativen ermöglichte es, den Kampf gegen den Bolsonarismus zur Priorität zu erheben und vom Kampf gegen den Neoliberalismus zu trennen.

Diese Strategie stößt allerdings auf Kritik. Hätte man angesichts der Diskreditierung der zentristischen Parteien nicht einen Teil ihrer Wähler für die PT gewinnen können, auch ohne programmatische Wende? Und ohne ein Bündnis mit politischen Zombies, die ihre verstaubte Agenda verteidigen? Hätte man so nicht mehr linke Abgeordnete ins Parlament bringen können, um die Kungeleien und die notorische Korruption3 zu bekämpfen?

Und was passiert, wenn Lula gewählt ist – falls er denn gewählt wird, wie die Umfragen derzeit vermuten lassen? Er selbst meint, seine neuen Verbündeten seien durch ihre früheren Schandtaten so geschwächt, dass er sie nach seiner Pfeife tanzen lassen kann, auch wenn er politische Maßnahmen gegen den Neoliberalismus durchsetzen will. Es könnte sein, dass er sich täuscht und seine Bündnispartner seine Bewegungsfreiheit drastisch einschränken werden. Und dass ein Teil seiner Basis die Lösung ihrer wirtschaftlichen Probleme dann woanders sucht – womöglich bei der extremen Rechten.

1 Siehe Guilherme Boulos, „Das brasilianische Desaster“, LMd, Januar 2017.

2 Nancy Fraser, „From progressive neoliberalism to Trump – and beyond“, American Affairs Journal, Bd. 1, Nr. 4, Denville, Winter 2017.

3 Siehe Lamia Oualalou, „Parlamentarismus auf brasilianisch“, LMd, November 2015.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Breno Altman ist Journalist und Gründer der Website Opera Mundi.