Brasilien vor der Wahl: Ein Hitler-Fan greift nach der Macht
Jair Bolsonaro hetzt gegen Linke, will die Folter wieder einführen und soziale Errungenschaften demontieren. Trotzdem hat er Chancen, neuer brasilianischer Präsident zu werden.
Wenige Tage bevor ihm ein Messer in den Bauch gerammt wurde, stand der rechtsradikale Präsidentschaftskandidat Jair Messias Bolsonaro noch auf einer Bühne im brasilianischen Bundesstaat Acre. Er rief: «Wir werden die Petralhada füsilieren!» Petralhada ist ein Schimpfwort für AnhängerInnen von Brasiliens linker Arbeiterpartei, dem Partido dos Trabalhadores (PT). Bolsonaro schnappte sich ein Kamerastativ und ahmte damit ein Sturmgewehr nach, das er abfeuerte. Die Menge jubelte, Bolsonaro lachte.
Die Gewalt, die der Kandidat rhetorisch beschworen hatte, sollte nur wenige Tage später ihn selbst treffen. Ein geistig verwirrter Mann stach Bolsonaro bei einem Wahlkampfauftritt einige Tage später ein Küchenmesser in den Bauch. Bolsonaro sass gerade auf den Schultern eines Anhängers und genoss das Bad in der Menge. Eine Notoperation rettete dem 63-Jährigen das Leben. Weil der Angreifer einst Mitglied der kleinen linken Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL) gewesen war, bedrohten Bolsonaro-Fans in den sozialen Netzwerken nun PSOL-AnhängerInnen.
Lula darf nicht
Jair Bolsonaro führt alle Umfragen zur ersten Runde der brasilianischen Präsidentschaftswahlen an diesem Sonntag an. Rund 25 Prozent der WählerInnen wollen für ihn stimmen. Allerdings hat Bolsonaro die Spitzenposition erst eingenommen, nachdem ein Wahlgericht die Kandidatur von Expräsident Lula da Silva verboten hatte, der noch einmal ans Ruder wollte. Lula sitzt seit April eine umstrittene Gefängnisstrafe wegen Korruption ab. Er hatte Brasilien in den wirtschaftlichen Boomjahren zwischen 2003 und 2011 geführt und mit Sozialprogrammen Millionen Menschen aus der Armut geholt.
Dafür sind ihm viele bis heute dankbar, vor allem im ärmeren Nordosten und in den städtischen Peripherien. Und so würde ihn eine Mehrheit der BrasilianerInnen selbst als Gefängnisinsassen noch wählen. Aber man lässt sie nicht. Für die Linke ist Lula deswegen ein «politischer Häftling», dessen erneute Präsidentschaft von Brasiliens konservativer Elite verhindert wird. Für die Rechte ist er hingegen «ein Dieb», der seine verdiente Strafe absitzt.
Fest steht jedenfalls: Jair Bolsonaro ist der grösste Nutzniesser des Antrittsverbots für Lula. Und so könnte Brasilien, das mit Abstand grösste und wirtschaftlich bedeutendste Land Lateinamerikas, bald von einem Rechtsradikalen regiert werden. Bolsonaro will aus den «kommunistischen» Vereinten Nationen austreten, er hält Hitler für einen grossen Staatsmann und will Folter offiziell als Mittel der Polizeiarbeit einführen.
Wie ist es ausgerechnet solch einem Mann gelungen, Millionen zu begeistern? Die einfache Antwort lautet: Bolsonaro bündelt den Zorn, die Angst und Unzufriedenheit weiter Teile der Bevölkerung. Nicht zu Unrecht sind viele BrasilianerInnen wütend auf die korrupte politische Klasse. Sie leben in ständiger Furcht vor der ausufernden Kriminalität. Und sie leiden unter der miserablen wirtschaftlichen Lage, die dreizehn Millionen Arbeitslose und eine der höchsten Erwerbslosenraten Lateinamerikas hervorgebracht hat (zwölf Prozent).
Weil es keinem Kandidaten gelingt, plausible Auswege aus dieser Situation aufzuzeigen, liebäugeln viele mit radikalen Lösungen. Bolsonaro präsentiert sich als der Mann mit dem Kärcher, der das Parlament säubern und mit harter Hand gegen Kriminelle vorgehen werde, etwa durch die Legalisierung aussergerichtlicher Tötungen durch die Polizei.
Über die Wirtschaft, das gibt Bolsonaro zu, wisse er zwar nicht viel. Aber das werde sein Wirtschaftsminister erledigen. Mit Paulo Guedes hat er sich einen liberalen Ökonomen ins Boot geholt, der für die Privatisierung von Brasiliens Staatsunternehmen eintritt, etwa im Energie-, Post- und Wassersektor. Den Gewerkschaften steht Guedes feindlich gegenüber. Bolsonaro hat ihnen bereits den Kampf angesagt: «Der Arbeitnehmer kann sich entscheiden, ob er weniger Rechte und Arbeit will. Oder alle Rechte und Arbeitslosigkeit.»
Die harten Worte kommen an
Obwohl es viele BrasilianerInnen persönlich treffen würde, wenn Bolsonaro seinen Worten tatsächlich Taten folgen lassen sollte, kommen diese Machosprüche beim Publikum an. Zum Beispiel bei Carolina Andrade. Ihr Fall zeigt, wie unvorhersehbar der Wahlausgang ist. Die 39-Jährige ist nämlich eine ganz unwahrscheinliche Anhängerin des Rechtsaussen. Die beiden trennen Welten. Andrade ist schwarz, alleinerziehend und arbeitet als Maklerin auf eigene Rechnung in einer Immobilienfirma – was bedeutet, dass sie nur bei Vertragsabschluss Geld verdient. «Es ist wegen der Krise immer weniger geworden», klagt Andrade. «Es reicht kaum, um über die Runden zu kommen.»
Was sie an Bolsonaro überzeugt, ist seine Kampfansage an die Kriminellen. Man trifft die 39-Jährige nach Feierabend in Rio de Janeiros zentralem Stadtteil Botafogo. Vor dem Messerangriff hat sie Bolsonaro hier auf der Strasse gesehen, er stieg plötzlich aus einem Auto. «Sofort war er von einer Menschenmenge umringt», sagt Andrade. Diese skandierte: «Mito, mito!» Mythos, Mythos!
Andrade hat zwei Stunden Zeit für ein Gespräch, dann muss sie einen Pendlerbus besteigen. Sie ist kürzlich zu ihrer Mutter an die Peripherie Rios gezogen, weil sie die Miete in Copacabana nicht mehr bezahlen konnte. Wenn sie Glück hat, ist sie in anderthalb Stunden dort. Wenn sie Pech hat, dauert es drei. «Es ist eine unsichere Gegend», sagt Andrade. Ihre Tochter im Teenageralter lässt sie nicht alleine zum Bäcker gehen.
Vor siebzehn Jahren wurde Andrades Vater dort ermordet. Der Mörder wurde schnell ermittelt, aber wegen der Schlampigkeit der Justiz nie verurteilt. Das Erlebnis hat Andrade geprägt, auch weil sie und ihre Mutter nie eine Entschädigung erhalten haben. «Es gibt keine Gerechtigkeit in Brasilien», sagt Andrade. «Für Verbrecher setzen sich Menschenrechtsgruppen ein, aber für die Opfer nicht.»
Brasilien hatte 2017 mit fast 64 000 Morden die höchste Mordzahl der Welt. Einer der Hauptgründe: die Straflosigkeit. 95 Prozent der Fälle landen nie vor einem Richter. Und die Opfer werden alleingelassen. Carolina Andrade wiederholt einen gängigen Spruch Bolsonaros: «Menschenrechte nur für rechtschaffene Menschen!»
Glorifizierung der Diktatur
Andrade mag also Bolsonaros Versprechen, hart gegen Kriminelle vorzugehen. Andererseits behagen ihr Bolsonaros Nähe zum Militär und seine verbalen Aggressionen gegen Minderheiten nicht. Bolsonaro ist Oberst der Reserve und verteidigt Brasiliens Militärdiktatur als glorreiche Epoche, die nur den einen Fehler gehabt habe, dass damals «zu wenige getötet» worden seien. Häufig hetzt Bolsonaro auch gegen Schwarze («sind fett»), Indigene («kriegen keinen Zentimeter mehr für Reservate»), Homosexuelle («muss man schlagen») und politische Gegner («abknallen»). Zu einer linken Abgeordneten sagte er einmal: «Du verdienst es nicht, von mir vergewaltigt zu werden.»
Diese Ungeheuerlichkeiten haben auch den Effekt, dass fünfzig Prozent der WählerInnen laut Umfragen niemals Bolsonaro wählen würden. Es ist der höchste Grad an Ablehnung aller dreizehn Präsidentschaftskandidaten. Insbesondere Frauen fühlen sich von ihm abgestossen. Auch Carolina Andrade glaubt, dass Bolsonaro verbal über die Stränge schlage. Aber seine Zitate würden oft von den Medien aus dem Kontext gerissen, verteidigt sie ihn. In den sozialen Netzwerken könne man sich besser informieren.
Andrades wichtigster Beweggrund, für Bolsonaro zu stimmen, ist das diffuse, aber überwältigende Gefühl, dass in Brasilien keine Regeln mehr gelten. «Kriminelle gehören weggeschlossen», sagt sie mehrmals. Und das treffe auch für den Kongress zu. Wie die meisten BrasilianerInnen hat Andrade in den vergangenen Jahren fast wöchentlich erlebt, wie PolitikerInnen in die gigantischen Korruptionsskandale um den Erdölgiganten Petrobras und den Baukonzern Odebrecht gezogen wurden. Im Parlament und im Senat stehen mehr als die Hälfte der insgesamt 594 Mitglieder mindestens im Verdacht, korrupt zu sein oder andere Verbrechen begangen zu haben, darunter sogar Mord. Die Mehrzahl der 25 Parteien im Kongress ist betroffen, von links bis rechts.
Bolsonaro gehört dem Parlament zwar seit 27 Jahren an. Aber er präsentiert sich erfolgreich als Aussenseiter. «Ich werde Brasília ausmisten», verspricht er. Und viele wollen es ihm glauben. Mit Sicherheit wird Bolsonaro deswegen den zweiten und entscheidenden Wahlgang um die Präsidentschaft erreichen.
Dort wird er höchstwahrscheinlich gegen Fernando Haddad antreten. Der zurückhaltende Exbürgermeister von São Paulo wurde zwar 2016 nach nur einer Amtsperiode krachend abgewählt. Dennoch hat die Arbeiterpartei ihn anstelle Lulas aufgestellt. In ihren TV-Spots verkauft sie ihn als den Statthalter des Expräsidenten. Haddad trägt stets ein rotes T-Shirt mit dem Konterfei Lulas und sagt kaum einen Satz, in dem er ihn nicht erwähnt. Das wirkt leicht lächerlich, weil man glauben sollte, dass ein 55-Jähriger auf eigenen Beinen stehen kann. Aber die Strategie ist klar: Die einfachen und ungebildeten Menschen im armen Nordosten sollen Haddad mit Lula identifizieren.
Weit weniger Hoffnungen darf sich der linksliberale Exminister Ciro Gomes machen. Der intellektuelle und stets gut gelaunte Dampfplauderer aus einer reichen Familie im nordöstlichen Bundesstaat Ceará ist die Alternative für das linke Bürgertum, das niemals Bolsonaro wählen würde und die PT wegen ihrer Korruptionsskandale für verbrannt hält.
«Brasilien ist politisch leer»
Abgeschlagen hinter Haddad und Gomes liegt der konservative und der Korruption verdächtigte Exgouverneur des Bundesstaats São Paulo, Geraldo Alckmin. Er gehört dem liberal-konservativen PSDB an und ist der Lieblingskandidat der Wirtschaft und des mächtigen Medienkonzerns Globo. Er wird von fast allen Parteien rechts der Mitte unterstützt, was ihm wegen des Wahlrechts die meiste Werbezeit im Fernsehen eingebracht hat.
Etwa gleichauf mit Alckmin befindet sich die rührige Umweltschützerin und evangelikale Christin Marina Silva. Sie tritt bereits zum dritten Mal an, hat aber wohl erneut keine Chance. Ihr wird fehlende Durchsetzungsfähigkeit vorgeworfen.
Einen definitiven Wahlausgang wagt bislang dennoch niemand zu prognostizieren. Es zeigt sich, was der brasilianisch-chilenische Philosoph Vladimir Safatle 2014 sagte: «Brasilien ist politisch leer.» Mit der Ära Lula sei ein Zyklus zu Ende gegangen, ohne dass ein neuer begonnen habe. Das Vakuum zu füllen, versuchen nun ein Rechtsradikaler und vier PolitikerInnen ohne Ideen für Brasiliens Zukunft.
#EleNão – #DerNicht
Es war der grösste Flashmob in der Geschichte Brasiliens: Am Samstag demonstrierten mehrere Hunderttausend Frauen in über dreissig Städten gegen den rechtsextremen Präsidentschaftskandidaten Jair Bolsonaro. Zu den Protesten hatte nicht etwa eine Allianz aus Frauenorganisationen aufgerufen, sondern eine Facebook-Seite mit dem Hashtag #EleNão (#DerNicht). Sie war am 30. August von der selbstständigen Werbefachfrau Ludimilla Teixeira nach einem Chat mit einer Freundin eingerichtet worden. Die beiden Frauen hatten sich über die frauenfeindlichen Ausfälle des Kandidaten empört und wollten etwas tun. «Wir dachten: Richten wir doch eine Facebook-Seite ein und rufen zu einer Demonstration auf», erzählte Teixeira lokalen Medien.
Nach 48 Stunden hatte die Seite 6000 AbonnentInnen, nach einer Woche waren es eine Million, heute sind es über drei Millionen. Mindestens jede Zehnte davon war am vergangenen Samstag auf der Strasse. Frauen stellen in Brasilien mit 52,3 Prozent die Mehrheit unter den WählerInnen. Im Parlament jedoch sitzen zu 90 Prozent Männer.