Die Wütenden von Brasília
Zu Besuch bei Antikommunisten, militanten Patrioten und Evangelikalen
Auf dem Platz vor dem Supremo Tribunal Federal, dem Obersten Gerichtshof in Brasília, liegt zwischen zerbrochenem Glas und Tränengaspatronen eine 50 Meter lange brasilianische Flagge. Kriminaltechniker der Polizei versuchen an diesem Dienstag, dem 10. Januar, im Innern des Gebäudes Fingerabdrücke zu sichern. Andere Ermittler befragen das Sicherheitspersonal, um den Ablauf der Ereignisse vom Sonntag zu rekonstruieren, jenem 8. Januar, als tausende Anhänger des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro die zentralen Institutionen der brasilianischen Demokratie stürmten.
Das Gebäude des Supremo Tribunal Federal wurde nach Angaben der Polizei von den dreien am Praça dos Três Poderes, dem Platz der Drei Gewalten, am schlimmsten beschädigt. Wenig erstaunlich, denn Bolsonaro hat den Hass auf das Oberste Gericht des Landes ständig geschürt.
„Der frühere Präsident müsste wegen Anstiftung zum Staatsstreich und Verbrechen gegen die Demokratie strafrechtlich belangt werden“, sagt die Rechtsprofessorin María Fernández und fügt hinzu, dies gelte ebenso „für alle politischen Verantwortlichen, die seit vier Jahren seine Reden und Drohungen wiederholen“. Am Freitag, dem 13. Januar, gab der Oberste Richter Alexandre de Moraes dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft statt, zu ermitteln, welche Rolle Bolsonaro bei dem Aufstand gespielt hat.
Laut der großen konservativen Tageszeitung O Globo, die nicht mit Bolsonaro sympathisiert, hat der abgewählte Präsident seit Anfang 2020 durchschnittlich alle 23 Tage die Gewaltenteilung bedroht, indem er Entscheidungen der Legislative und Judikative nicht respektierte oder seine Anhänger dagegen aufbrachte.1
Irgendwann wird die Justiz vielleicht die geistigen Drahtzieher des Putschversuchs zur Rechenschaft ziehen. Einstweilen befinden sich mehr als tausend militante Bolsonaristen im Gefängnis: Am 11. Januar wurden 1159 militante Anhänger in zwei Gefängnissen der Hauptstadt inhaftiert, am Abend des 8. Januar waren bereits 209 direkt im Innern des Präsidentenpalasts festgenommen worden. Zahlreiche der Beteiligten jedoch konnten, bisher zumindest, einer Verhaftung entgehen.
Der brasilianische Geheimdienst Abin hatte die Sicherheitskräfte von Brasília vor dem Putschversuch informiert, dass am Samstag, dem 7. Januar, 3900 Personen mit 156 Bussen in die Stadt gekommen und zum landesweit größten Protestcamp von Bolsonaro-Anhängern gefahren seien. Das Camp war am 30. Oktober direkt vor dem Hauptquartier der Armee errichtet worden. Es sollte das Militär dazu drängen, die Macht zu übernehmen und die Rückkehr der Linken an die Regierung zu verhindern. Allerdings hatte die Amtseinführung von Luiz Inácio Lula da Silva am 1. Januar den Protestlern den Wind aus den Segeln genommen; die Mehrheit verließ das Camp.
Eine selbst gebaute Bombe
Sechs Tage später wurde ein neuer Anlauf gestartet, um „alle Patrioten nach Brasília zu holen“. Ein über soziale Medien und Messenger-Dienste verbreiteter Text rief zur nationalen Mobilmachung am 8. Januar auf, um „den Kommunismus in Brasilien zu verhindern und die Korruption auszumerzen“. Weiter hieß es: „Wir fordern ein sofortiges Eingreifen der Streitkräfte und deshalb werden wir den Platz und die Gebäude der Drei Gewalten besetzen, alle Raffinerien blockieren, den Straßenverkehr, Industrie, Handwerk und Landwirtschaft lahmlegen sowie jegliche Steuerzahlung aussetzen.“ Brasília sollte das Zentrum der Revolte sein, dem der Rest des Landes dann folgen würde.
Es war nicht das erste Mal, dass aus dem Camp der Bolsonaristen in Brasília zu Gewaltaktionen aufgerufen wurde. Am 12. Dezember wurden während der Zeremonie im Obersten Gericht, mit der Lulas Wahlsieg bestätigt wurde, Busse und Autos angezündet. Am 22. Dezember entdeckte die Polizei eine selbstgebaute Bombe in einem Tanklaster in der Nähe des Flughafens von Brasília. Der Tatverdächtige, George Washington de Oliveira Sousa (54), gestand der Polizei, dass der Anschlag im Camp geplant wurde, um die Streitkräfte im folgenden Chaos zum Eingreifen zu bewegen.
Viele in Brasilien verstehen nicht, warum die Regierung Lula so gelassen auf die Mobilisierung der Bolsonaristen reagiert, die nach dem zweiten Wahlgang vor Dutzenden von Kasernen Protestcamps errichtet hatten. Der neue Justizminister Flavio Dino etwa wollte direkt nach der Amtsübernahme Lulas die bolsonaristische Bewegung zerschlagen, die er als „Brutstätte von Terroristen“2 bezeichnete. Dagegen nannte der dem Militär nahestehende Verteidigungsminister José Múcio Monteiro die Camps eine „Demonstration von Demokratie“.3
Monteiro stützte sich auf Armeeinformationen, wonach die Proteste an Stärke verloren hätten: In einem Lula Ende Dezember vorgelegten Bericht hieß es, von den zunächst 43 000 Bolsonaristen, die sich in den Camps zusammengefunden hatten, seien nach dem zweiten Wahlgang Ende Oktober nur 5000 geblieben. Bis zum Tag des Putschs war es Lulas Plan, nichts gegen sie zu unternehmen. Erst am Tag danach wurden dann alle Protestcamps im Land geräumt.
Das Camp in Brasília hatte riesige Ausmaße und war mit Abstand das größte. Es war auch das am besten organisierte, ausgestattet mit Chemietoiletten, Duschen, einem Raum für „Influencer“ und einer Bühne für Veranstaltungen. Täglich wurden für die mehreren tausend „Patrioten“ kostenlose Mahlzeiten zubereitet. Viviane, die aus der Stadt Londrina im Bundesstaat Paraná in die Hauptstadt gekommen war, führte uns vergangenen Dezember durch das Protestcamp. Weil Medien nicht gern gesehen waren, gab ich mich als einfache Touristin aus, die sich für die Protestbewegung interessiert.
Viviane ist eine kleine dynamische und freundliche Frau, Anhängerin des früheren Präsidenten. „Ich war arbeitslos und man hat mir vorgeschlagen, hierherzukommen und die Bewegung zu unterstützen“, erzählt sie, ohne zu präzisieren, wer sich hinter dem etwas vagen „man“ verbirgt. Geld bekomme sie aber nicht. Doch sie schuftete über zwei Monate lang zwölf Stunden am Tag und musste Geld an ihre Mutter schicken, die sich um ihre beiden in Londrina gebliebenen Kinder kümmerte.
Bundesbeamte für Bolsonaro
Hinter großen Zeltplanen verteilte sie Vorräte auf ein Dutzend mit Generatoren betriebene Kühlschränke und betete dabei die bekanntesten Fake News des Bolsonarismus herunter: „Wenn Lula das Land regiert, werden wir ein neues Venezuela. Der Kommunismus wird eingeführt und unser ganzes Geld geht nach Kuba“, sagte sie und verstaute ein paar Würste.
Die Lebensmittel wurden von Lkws angeliefert, aber Viviane wusste weder, woher sie kamen, noch worin die Fracht genau bestehen würden „Ich muss improvisieren. Ich weiß nie im Voraus, was man uns bringt“, erzählte sie lachend. Wieder dieses mysteriöse „man“.
Einen Monat später, Mitte Januar, hat die Bundespolizei bereits an die hundert Unternehmen identifiziert, die das Camp und den Bustransport der Bolsonaristen in die Hauptstadt für den Putsch am 8. Januar finanziert haben. Ohne ihre Namen zu nennen, erklärte die Polizei, die Unternehmen kämen aus der Agrarwirtschaft, dem Transportwesen und dem Baugewerbe und hätten ihren Sitz mehrheitlich in den Bundesstaaten Paraná, Mato Grosso do Sul und São Paulo, deren Gouverneure Gesinnungsgenossen Bolsonaros sind.
Einige der Unternehmenschefs waren bei den Ausschreitungen am 8. Januar persönlich dabei – wie Albert Alisson Gomes Mascarenhas. Seine Baufirma Construtora Meirelles Mascarenhas erhielt während der Präsidentschaft Bolsonaros Dutzende öffentliche Aufträge. Er postete ein Video, auf dem er selbst die Menge zum Sturm auf das Kongressgebäude anstachelt. Derzeit ist er nicht unter den Inhaftierten.
Auch die Gruppe „Brasil verde e amarelo“ (grün-gelbes Brasilien) rief ihre Mitglieder dazu auf, am Wochenende des 8. Januar nach Brasília zu kommen. Sie ist ein Zusammenschluss von mehr als 300 Körperschaften aus dem Agrarsektor, angeführt von dem Sojaproduzenten Antônio Galvan
Von Ende Oktober bis zum 9. Januar standen regelmäßig „Patrioten“ aus dem Camp vor den Absperrungen zu den Militäranlagen, skandierten „SOS Streitkräfte“ und schwenkten ihre Fahnen. Ihrer Ansicht nach waren die Präsidentschaftswahlen manipuliert. Was sie vorbringen, ist manchmal fast komisch: Die Linke hätte Falschinformationen verbreitet, Stimmen erkauft und dergleichen. Das ist genau das Rezept von Bolsonaros eigener Mobilisierungsstrategie.
Autos fuhren hupend am Camp vorbei und bekundeten ihre Unterstützung. In der Hauptstadt, in der die öffentliche Verwaltung mit Abstand der wichtigste Arbeitgeber ist (40 Prozent der Beschäftigten), stimmte die Mehrheit für den Kandidaten, der immer wieder mit der Zerstörung der brasilianischen Demokratie gedroht hatte: In der Stichwahl erzielte Bolsonaro in Brasília 58,81 Prozent der Stimmen gegen 41,19 Prozent für Lula.
Am 30. Oktober 2022 hatten sich die Anhänger des damaligen Präsidenten voller Stolz und mit den Attributen des Bolsonarismus in die Wahllokale aufgemacht: brasilianische Flagge auf dem Autodach, im grün-gelben Trikot der Seleção (der Fußballnationalmannschaft). Die meisten antworteten bereitwillig auf die Fragen der Presse und schimpften auf die „Korruption in der Arbeiterpartei“, die sie nach den Präsidentschaften von Lula (2003–2010) und Dilma Rousseff (2011–2016) auf keinen Fall wieder an der Macht sehen wollten.
Fragen nach der (desaströsen) Coronapolitik ihres Favoriten und nach seinen Angriffen auf die Demokratie wischten sie systematisch beiseite: „Die wirkliche Gefahr ist die Rückkehr der PT“, versicherte mir Sergio Davila, der als Beamter im Wirtschaftsministerium arbeitet. „Die Androhungen Bolsonaros sind nur heiße Luft. Aber Lula wird wieder Länder wie Kuba finanzieren. Mit dieser Politik ist nichts zu gewinnen.“
Für die PT-Abgeordnete des Bundesdistrikts rund um die Hauptstadt, Erika Kokay, kommen solche Worte nicht überraschend: „So unglaublich es klingt, aber die gut verdienenden Beamten von Brasília unterstützen Jair Bolsonaro. Selbst als er damit drohte, die Demokratie zu zerstören, hat er hier nicht an Rückhalt nicht verloren.“ Abgesehen von ein paar wenigen Ausnahmen haben sich die Beamten allerdings nicht den „Patrioten“ im Camp angeschlossen.
Familienangehörige von Militärs hingegen waren dort sehr aktiv. Die Ehefrau von General Eduardo Villas Bôas wurde bei ihren regelmäßigen Besuchen wie ein Ehrengast gefeiert. Ihr Mann, ein ehemaliger Armeekommandant, ist ein enger Vertrauter von Bolsonaro. Im April 2018 hatte er in einem Tweet dem Obersten Gericht mit dem Eingreifen des Militärs gedroht, sollte es gegen die Verhaftung Lulas stimmen, der damals ohne Beweise wegen Korruption angeklagt war.
Die Anwesenheit von Soldatenangehörigen im Camp war, obgleich nicht offiziell, ein offenes Geheimnis. Dies erklärt vielleicht auch zum Teil, dass sich die Armee zunächst weigerte, am Abend des 8. Januar, nach dem Sturm auf den Platz der Drei Gewalten, das Camp zu räumen. Erst am Morgen des 9. Januar war sie dazu bereit – nachdem die Putschisten Zeit gehabt hatten zu fliehen.
Am 21. Januar entließ Präsident Lula den Chef des brasilianischen Heeres Julio César de Arruda. An die Presse durchgesickerte Berichte legen nahe, dass der General sich geweigert hatte, einen jungen, Bolsonaro nahestehenden Offizier aus der Militärverwaltung zu entfernen. Verteidigungsminister Múcio sprach von einem „Vertrauensverlust“ zwischen Lula und de Arruda und bekräftigte, dass man die „Ermittlungen bis zu Ende führen“ werde. Lula werde „keine Nachsicht mit den Putschisten“ zeigen, egal ob es sich dabei um Zivilisten oder Militärs handle.4
Zahlreiche Videos zeigen, dass die Sicherheitskräfte die randalierenden Bolsonaristen gewähren ließen. Sie konnten ohne Schwierigkeit in die Gebäude eindringen und sie dann über zwei Stunden lang verwüsten. Auf einigen Bildern stehen Polizisten, Militärs und Aufständische einträchtig vor dem Kongress, derweil die Menge bereits das Kuppeldach erklommen hat. Ein anderes Video zeigt das Innere des Gebäudes: Die Polizei lässt die Eindringlinge passieren und Richtung Plenarsaal ziehen.
Die verstörendsten Szenen wurden im Planalto aufgenommen, dem Präsidentenpalast. Zu sehen ist ein Militärkommandant, der die Militärpolizei (die für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zuständig ist) daran zu hindern versucht, die Aufständischen zu verhaften. Andere Bilder von der internen Videoüberwachung des Palastes wurden bisher noch nicht für die Öffentlichkeit freigegeben und sind vermutlich noch heikler.
„Ich werde mir alle Videos ansehen“, erklärte Lula in einer Pressekonferenz am 11. Januar. „Diejenigen, die ich bisher gesichtet habe, zeigen bereits, dass es Absprachen zwischen den Aufständischen, der Militärpolizei und den Streitkräften gab. Ich bin davon überzeugt, dass man sie einfach in den Präsidentenpalast ließ, denn es wurde keine Tür aufgebrochen.“
Renato Sérgio de Lima, der Direktor der NGO Brasilianisches Forum für öffentliche Sicherheit, ist nicht erstaunt. „Unsere Studien belegen, dass die Sicherheitskräfte eine große Nähe zum Bolsonarismus haben. Sie zeigen auch, dass sich die Armee sehr viel stärker radikalisiert hat als die übrige Bevölkerung.“ Die NGO hat festgestellt, dass die Zahl der Polizisten, die in Bolsonaristen-Gruppen auf sozialen Medien aktiv sind, um 27 Prozent gestiegen ist.5 Mehr als ein Drittel der Ordnungskräfte sind demnach in solchen Netzwerken präsent, 21 Prozent davon bei den radikalsten.
Von der Militärpolizei mit ihren mehr als 400 000 Leuten folgen laut der NGO 51 Prozent bolsonaristischen Accounts im Netz, davon 30 Prozent den extremsten. Die brasilianische Autobahnpolizei mit ihren ca. 13.000 Beamten ist eine weitere Brutstätte des Bolsonarismus. „Innerhalb von vier Jahren hat sich dieses Polizeikorps vollständig in den Dienst des Ex-Präsidenten und seiner Ideologie gestellt“, sagt Sergio de Lima. „Die Autobahnpolizei wurde am Wahltag gesehen, wie sie im Nordosten Straßensperren errichtete, um Lula-Anhänger vom Wählen abzuhalten. Im Mai 2022 war sie zusammen mit der Militärpolizei auch an Massakern in den Favelas beteiligt, obwohl die absolut nicht ihr Zuständigkeitsbereich sind.“
In einem Interview auf dem Fernsehkanal Globonews erklärte Justizminister Flavio Dino, er werde der Radikalisierung der Ordnungskräfte seine volle Aufmerksamkeit widmen. Ein paar Tage nach dem Sturm auf den Platz der Drei Gewalten forderte er außerdem Experten dazu auf, ihm mit Vorschlägen zur Seite zu stehen. Diese Bitte lieferte der extremen Rechten die Gelegenheit, wieder einmal Fake News in die Welt zu setzen: Der Minister musste auf Twitter dementieren, dass er zu seiner Unterstützung den französischen Philosophen Michel Foucault eingestellt habe. „Ich habe nicht die Macht, eine 1984 verstorbene Person wiederauferstehen zu lassen“, schrieb Dino am 14. Januar 2023.
Botschaften vom Supermarkt
Im Laufe der letzten Monate erreichten die Aktivitäten der bolsonaristischen Verschwörer ihren Höhepunkt. In Diskussionsforen, vor allem aber auf Telegram, wurden die krudesten Theorien verbreitet und millionenfach im ganzen Land gelesen und geteilt.
Hier eine Blütenlese: Am 30. Dezember, als Bolsonaro in Richtung USA davonflog, um seinem Nachfolger nicht persönlich die Präsidentenschärpe weitergeben zu müssen, zeigen sich die Bolsonaristen überzeugt, dass er in Wirklichkeit einen anderen Plan verfolgt. „Er hat die Macht an den Vizepräsidenten General Mourão übergeben. Der wird heute Abend in seiner Rede an die Nation einen Militäreinsatz anordnen“, erzählte uns in vollem Ernst der Rentner Marcelo P., der in Brasília lebt und jeden Abend ins Camp kam.
Am nächsten Tag ordnete der Vizepräsident jedoch keinen Einsatz an. Dafür kritisierte er in seiner Fernsehbotschaft die Camps vor den Kasernen. Die sozialen Netzwerke fielen über ihn her: „Noch ein Verräter“, der den Präsidenten und die Armee im Stich lässt.
Anderes Beispiel: Bolsonaro-Anhänger, die sich in Deutungen noch über die kleinste Bewegung ihres Führers ergehen, nehmen ein Video auseinander, das den Ex-Präsidenten in einem Supermarkt in Florida zeigt. Ana Priscila Silva de Azevedo, deren Telegram-Kanal „Der Fall von Babylon“ fast 55 000 Abonnenten hat, veröffentlicht am 27. Dezember 2022 sofort ein Video, um den „Beginn des Krieges“ auszurufen. „Habt ihr gesehen, dass er vor den Batterien stehengeblieben ist?“
Auf dem Video wirft Bolsonaro tatsächlich einen zufälligen Blick auf das Regal vor der Kasse. „Er will uns sagen, dass wir Batterien für Lampen und Radios brauchen, weil der Krieg beginnen wird“, erklärt Silva de Azevedo. Als sie am 10. Januar verhaftet wird, sorgt das für viel Gesprächsstoff in den sozialen Medien. Sie habe vom Militär geschützt und dann aus dem Präsidentenpalast herausgeschleust werden sollen, sei dann aber dort festgenommen worden. Tatsächlich wurde sie erst zwei Tage nach den Ereignissen in Brasília verhaftet, 60 Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Seitdem sitzt sie im Gefängnis.
Es wäre aber sicher falsch, den Bolsonarismus mit den Verschwörungstheoretikern an seinen Rändern gleichzusetzen,6 über die man sich leicht lustig machen kann. Amaro Martins zum Beispiel ist wütend. Er befürchtet „den Tod unserer konservativen Bewegung. Was sollte die Forderung nach einer militärischen Intervention? Ich war nie dafür.“
Martins war im vergangenen Oktober bereit, uns bei sich zu Hause, in einem tristen Vorort eine Autostunde vom Zentrum Rio de Janeiros entfernt, zu empfangen. Der einzige Luxus in dem bescheidenen Haus ist ein Fernseher, der mitten im Wohnzimmer thront. An diesem Oktobersonntag kommt er gerade mit seiner Frau vom evangelikalen Gottesdienst. Der 42-Jährige mit den kurz geschorenen Haaren und der athletischen Figur besitzt zwei kleine Geschäfte in Campo Grande. Seine Frau bietet im Haus Kosmetikbehandlungen an.
Während er das Mittagessen vorbereitet, kommt Amaro Martins auf „seinen Präsidenten“ zu sprechen, von dem er damals hoffte, dass er wiedergewählt wird: „Ich habe Bolsonaro 2014 hier auf einem Markt getroffen. Er war, glaube ich, im Wahlkampf für die Parlamentswahlen. Ich habe ihn sofort gemocht. Er ist ein einfacher Mann, ein guter Mann.“ In jenem Jahr hat sich Martins wie viele Brasilianer für Politik zu interessieren begonnen.
Im Juni 2013 hatte es in Brasilien nach zehn Jahren PT-Regierung erste soziale und politische Unruhen gegeben. Es kam zu riesigen Demonstrationen, anfänglich mit der Forderung nach besseren öffentlichen Dienstleistungen. Die Proteste wurden schnell von der extremen Rechten vereinnahmt. Die Forderungen veränderten sich. Zielscheibe war nunmehr Präsidentin Dilma Rousseff und die Korruption, für die sie angeblich stand. Am 20. Juni 2013 versuchten Demonstranten mit dem Schlachtruf „PT raus“ den Kongress und das Außenministerium in Brasília zu stürmen.
„Ich habe mich im Internet politisch gebildet, habe Kurse auf Youtube mitgemacht“, erzählte Martins, der seit 15 Jahren der Baptistenkirche angehört. Er zeigte uns auf seinem Smartphone den Kanal Terça Livre, der seit 2014 von dem Blogger Allan dos Santos betrieben wird. Von Richter Alexandre de Moraes 2021 zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil er „zu antidemokratischen Aktionen angestiftet, Fake News verbreitet und die Behörden angegriffen“ hatte, floh dos Santos mit Hilfe der Familie Bolsonaro und ihrer Netzwerke in die USA.
Die „Akademie Terça Livre“, deren Youtube-Kanal und Twitter-Account von der Justiz gesperrt wurden, bietet auf ihrer Webseite immer noch kostenpflichtige „Bildungs“-Kurse an. Die Themen sind weit gefasst: Kommunismus, Nationalsozialismus, Informationskrieg, Unterwanderung der katholischen Kirche durch die Linke und so weiter. Martins sagte: „Dort habe ich gelernt, was der Sozialismus ist, und habe verstanden, dass ich ein Konservativer bin, ohne es gewusst zu haben. Ich bin gegen die Sexualisierung von Kindern, gegen die Gender-Ideologie, die in der Schule gelehrt wird und die die Linke immer verbreitet hat.“
Je mehr er sich im Internet informiert habe, desto mehr habe er begriffen, wie verhängnisvoll der Kommunismus sei. „Die Arbeiterpartei hat dafür gesorgt, dass wir die Reichen verachten, dabei schaffen sie Arbeitsplätze und verbessern das Leben der Armen. Die Linke beschließt Steuern, die den Schwächsten das Leben schwermachen. Sie hat den Armen noch nie geholfen, sie hat sie benutzt“, schimpfte Martins plötzlich heftig los.
Für den Historiker Odilon Caldeira Neto, der die Beobachtungsstelle für Rechtsextremismus an der Bundesuniversität Juiz de Fora (UFJF) koordiniert, ist „diese Mischung aus Wirtschaftsliberalismus und konservativen, religiösen Werten schon immer der ideologische Kern der brasilianischen extremen Rechten gewesen. Sie überzeugt nach wie vor Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer.“
Renato O. wollte der Presse seinen vollen Namen lieber nicht nennen. Der Handelsvertreter, der seit mehr als 20 Jahren für einen Eishersteller arbeitet, hatte ebenfalls eingewilligt, uns Anfang Dezember zu treffen. Er wollte uns erklären, warum er Bolsonaro unterstützt. Jedes Wochenende fuhr er zum Camp der Bolsonaristen nach Belo Horizonte, der Hauptstadt des Bundesstaats Minas Gerais, nördlich von Rio de Janeiro. Er hatte sein Seleção-Trikot übergezogen und stellte sich neben andere „Patrioten“ auf den Bürgersteig.
An die 500 Menschen hatten sich an diesem sonnigen Sonntag versammelt. Den Patriotismus liebt Renato O. ganz besonders an der Bewegung: „Bolsonaro hat uns gelehrt, dass Brasilien ein großes Land ist. Er hat den Patriotismus in uns geweckt. Vorher habe ich gesagt, dass Brasilien korrupt ist und dass sich das nie ändern wird. Aber die Bewegung hat mich umdenken lassen, und jetzt weiß ich, dass ich zu einer großen Nation gehöre.“
Das Opfernarrativ, das Bolsonaro so gern bemüht, griff Renato O. bereitwillig auf: „Das Oberste Gericht, der Kongress, niemand hat ihn regieren lassen. Und sogar die Soldaten, denen er tausende Posten verschafft hat, haben ihn fallengelassen. Er steht allein gegen alle.“ Die Einzigen, die ihn noch unterstützten, seien die „Patrioten“.
Er selbst besitzt keine Waffe, machte aber keinen Hehl daraus, dass er bereit wäre, zu den Waffen zu greifen. „Wir werden keine Wahl haben. Wenn wir unser Land verteidigen wollen, müssen wir etwas dafür tun“, erklärte er zwei Wochen vor Weihnachten. Am 10. Januar rief ich ihn an: Er war nicht in Brasília. Aber er war wütend, „in Sorge um Bolsonaro“ und überzeugt, dass linke Provokateure „dieses Chaos angerichtet haben, um die Bewegung zu zerstören“, und verzweifelt wegen „der schweren Strafen, die die Patrioten bekommen werden“.
Am selben Tag erklärte Ricardo Cappelli, Vizejustizminister und Sicherheitschef im Hauptstadtdistrikt, vor der Presse, dass die Polizisten echten „Profis“ gegenübergestanden hätten: „Unter den Demonstranten waren Männer, die taktisch vorbereitet waren und Kampftechniken beherrschten. Auch hier müssen wir herausfinden, wer diesen Angriff finanziert, vorbereitet und organisiert hat.“
Präsident Lula gibt sich mittlerweile entschlossen, Licht in die finanziellen und bewaffneten Strukturen des Bolsonarismus zu bringen, einer Bewegung, die den politischen Anführer überlebt hat, der für ihr Entstehen verantwortlich ist. Höchstwahrscheinlich wird Lula sich auf weitere Auseinandersetzungen mit dieser politischen Kraft einstellen müssen.
1 Bernardo Mello und Marlen Couto, „Investigado por incitar atos golpistas, Bolsonaro fez um ataque grave à democracia a cada 23 dias“, O Globo, São Paulo, 15. Januar 2023.
2 Gespräch auf Globonews, 26. Dezember 2022.
3 Erklärung bei seinem Amtsantritt am 2. Januar 2023.
4 Cézar Feitoza und Catia Seabra, „Lula não vai perdoar ataques golpistas e investigações vão até o fim, diz Múcio“, Folha de S. Paulo, 22. Januar 2023.
5 „Política entre os policias militares, civis et federais do Brasil“, Forum Brasilieiro da Segurança Publica, August 2021, forumseguranca.org.br.
6 Vgl. Patricio G. Talavera, „Starke Bewegung mit schwachem Führer“, LMd, 8. Dezember 2022.
Aus dem Französischen von Uta Rüenauver
Anne Vigna ist Journalistin in Rio de Janeiro.