«Putins Netz»: Die erfolgreichste Mafia aller Zeiten

Nr. 16 –

Die Journalistin Catherine Belton schildert in einer umfangreichen Recherche den Aufstieg des kriminellen Kreises um den Kremlchef.

Ohne Adolf Hitler kein Nationalsozialismus und kein Zweiter Weltkrieg. Wer aber das «Dritte Reich» allein mit der Person Hitler erklären wollte, würde zu kurz greifen. Und ohne Wladimir Putin würde wohl auch Russland kaum einen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine führen – aber Putin allein erklärt den russischen Überfall auf die Ukraine nicht. Es reicht nicht, Putin als Kriegstreiber und Kriegsverbrecher zu brandmarken, man muss vielmehr verstehen, was in Russland geschehen ist, seit er im Mai 2000 russischer Präsident wurde.

Hier hilft ein 700-Seiten-Wälzer weiter, der am Vortag der Invasion auf Deutsch erschienen ist: «Putins Netz», verfasst von Catherine Belton, einer britischen Journalistin, die von 2007 bis 2013 in Moskau als Korrespondentin der «Financial Times» arbeitete. Im Untertitel kündigt die Autorin einen veritablen Politkrimi an: «Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste». Ihre Geschichte beruht auf bereits bekannten Fakten, auf Insiderwissen und gründlichen Recherchen. Beltons Gewährsleute sind überwiegend Russ:innen, oft ehemalige Parteigänger und Profiteure des Regimes. Sie entlarvt dabei die Lebenslügen der politischen Klasse im Westen, denen zufolge sich Putins Charakter oder seine Agenda plötzlich verändert hätten, weswegen man die Eskalation gegenüber der Ukraine – und perspektivisch gegen ganz Europa – nicht hätte absehen können.

Eine Art Gangsterkapitalismus

Doch, man konnte das alles absehen. Viele Wissenschaftler:innen, Journalisten, Politikerinnen in Osteuropa hatten lange gewarnt. Putin und sein engerer Kreis entstammen dem KGB, sie waren geschult für einen verdeckten Krieg gegen einen Feind, den sie auch heute noch im Visier haben. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der chaotische Übergang zu einer Art Gangsterkapitalismus unter der Herrschaft neureicher Oligarchen, meistens Mitglieder der ehemaligen Nomenklatura, die sich immer grössere Teile der vormaligen Sowjetökonomie aneigneten: Das ist der historische Kontext, in dem Putin und seine Clique ihren Aufstieg zur Macht begannen.

Schon bevor Putin Präsident wurde, war das langfristige Ziel dieser Gruppe klar: Die Niederlage im Kalten Krieg sollte wettgemacht werden, Russland wieder Weltmacht werden. Die besondere Form des Oligarchenkapitalismus führte dabei zu einer alles überwuchernden Korruption – und zu extremer sozialer und ökonomischer Ungleichheit.

Was sich auch geändert hat, ist die Machtstruktur in Russland. «Putins Aufstieg zur Macht ging mit einer Eroberung des Kremls durch den KGB einher», schreibt Belton. Er und sein Clan nutzten ihre Macht, um sich die Oligarchen zu unterwerfen, sich Geldquellen zu sichern und Milliarden in schwarzen Kassen anzuhäufen. Dieser enorme Reichtum, den sie mithilfe von russischen Mafiosi erworben und sicher in Steueroasen im Ausland parkiert hatten, wurde genutzt, um sich Staat, Justiz und Medien untertan zu machen. Ohne die organisierte Geldwäsche, die von der laxen Finanzkontrolle im Westen lebt, hätte dieses Netz keine globale Reichweite bekommen können.

Was dabei herauskam, war eine neue Form des Kapitalismus, beherrscht von einer anderen Oligarchie. Wer nicht mitspielte, wurde ausgeschaltet. Putins Netzwerk gelang es so, eine Scheindemokratie zu installieren. In wenigen Jahren ist es dadurch zur erfolgreichsten Mafia aller Zeiten aufgestiegen: das einzige kriminelle Netzwerk, dem es je gelang, einen ganzen Staat und eine ganze Volkswirtschaft zu kapern.

Strategie der Destabilisierung

Seine Macht nutzte dieses Netz auch dazu, den Einfluss Russlands in aller Welt auszubauen. Mittels Propaganda und Korruption sowie der Unterstützung von Russland freundlich gesinnten Organisationen – etwa den rechtspopulistischen Europafeinden in Frankreich, Deutschland oder Grossbritannien. Die Infiltration des als dekadent geschmähten Westens gehörte von Anfang an zur Strategie der Destabilisierung. Heute weiss man: Es handelte sich um die Vorbereitung zum Angriff. Auf die Drohungen, die man in Europa häufig nicht hören wollte, folgte die offene Gewalt.

Der Blick auf die Strukturen des mafiösen KGB-Staates sollte zugleich vor einer weiteren Illusion bewahren: Auch ohne den autokratisch regierenden Präsidenten wird dieses Netzwerk weiter bestehen und das Ziel verfolgen, Russland die Herrschaft über ganz Eurasien zu sichern. Selbst wenn Putin morgen gestürzt würde, wäre Russland noch immer im Griff dieses Netzwerks. Seine Kumpane, die Strippenzieher von gestern und heute – alle seien sie «Geisel des Systems», so Belton.

Die Autorin schildert viele Einzelheiten und berichtet von vielen kriminellen Manövern. Investigative Journalist:innen lieben derlei, und Belton macht das gut. Ihr Buch ist aber keine systematische Untersuchung der Wirtschaft und der Gesellschaft Russlands. Auch lässt sie die Armee, den militärisch-industriellen Komplex und die Zivilgesellschaft unterbelichtet. Belton vermittelt aber eine Unmenge an Fakten, die man kennen sollte, wenn man die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen will.

Catherine Belton: Putins Netz. Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste. HarperCollins. Hamburg 2022. 704 Seiten. 40 Franken