Peru: Fehler im System
Von schwachen demokratischen Strukturen und der unklaren Machtverteilung zwischen Parlament und Präsidentschaft profitieren im Fall Castillo wieder die Strippenzieher der Oligarchie
Am 7. Dezember 2022 wurde der peruanische Präsident Pedro Castillo vom Kongress abgesetzt. Die Abgeordneten beschuldigten ihn, einen Putschversuch gegen das Parlament unternommen zu haben. Er sei der „Rebellion“ schuldig. Kurzerhand wurde er von seinen Leibwächtern in den Polizeigewahrsam eskortiert. Mittlerweile sitzt er in Untersuchungshaft.
In Artikel 346 des Strafgesetzbuches der Republik Peru wird der Tatbestand der „Rebellion“ mit einer „Freiheitsstrafe von nicht weniger als zehn Jahren und nicht mehr als 20 Jahren“ geahndet. Dass die jeweiligen Machthaber jede gegen sie gerichtete Rebellion als Bedrohung der Ordnung verurteilen, ist nicht überraschend. Was passiert aber, wenn es die Staatsmacht selbst ist, die rebelliert?
Am 11. April 2021 hatte mit Pedro Castillo überraschend ein praktisch Unbekannter in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen 18,92 Prozent und damit den größten Stimmenanteil auf sich vereinigen können. Castillo, indigener Abstammung aus einer der ärmsten Städte des Landes, war Kandidat von Perú Libre (PL), einer 2016 gegründeten marxistisch-leninistischen Partei, die sich an den Theorien von José Carlos Mariátegui1 orientiert.
Sein Sieg war ein schwerer Schlag für die rassistischen und neoliberalen Eliten Limas. Diese weiße städtische Oberschicht regiert seit Jahren an der Landbevölkerung der Andenregionen vorbei.2 Linke Projekte werden von ihr systematisch diskreditiert, indem sie diese mit den Gräueltaten der kommunistischen Guerilla Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad) in den 1980/90er Jahren in Verbindung bringt. Gegen Castillo, den „kommunistischen Bauernlümmel“, der von sozialer Transformation sprach und eine verfassunggebende Versammlung einberufen wollte, setzte sie alle Hebel in Bewegung.
Zunächst wurden die Medien mobilisiert, insbesondere die beiden größten Tageszeitungen des Landes, El Comercio und La República. Die Comercio-Gruppe gehört der Familie Miró Quesada, einer der reichsten des Landes, die in Tourismus, Bergbau, Immobilien und Bankwesen aktiv ist und zudem etwa 80 Prozent der Printmedien kontrolliert.3 Der Konzern profitierte stark von der Diktatur Alberto Fujimoris in den Jahren 1990 bis 2000.
Die beiden El-Comercio-Redakteure Patricia Montero und José Jara wurden nach eigenen Angaben entlassen, weil sie sich während der Präsidentschaftskampagne 2011 „der Anweisung widersetzt hatten, die Kandidatur von Keiko Fujimori zu unterstützen und den damaligen Präsidenten Humala anzugreifen“.4 Die zweitgrößte Zeitung des Landes, La República, wird von Gustavo Adolfo Mohme Seminario geführt, der das Blatt von seinem Vater übernommen hat.
Beide Medienhäuser stellten sich gegen Castillo. Zunächst wurde er als Kandidat totgeschwiegen, nach seinem Wahlsieg und seinen Amtsantritt am 28. Juli wurde er direkt angegriffen. Eine Analyse der Titelseiten zwischen Januar und November 2022 durch das lateinamerikanische Forschungszentrum für Geopolitik (Celag) ergab, dass in El Comercio 79 Prozent und in La República 78 Prozent der Artikel negativ über Castillo berichteten.5
Pedro Castillo ist „ein Feind der Meinungs- und Pressefreiheit“ (La República, 31. Oktober 2022); „Justiz ermittelt gegen Castillos Berater wegen des Verdachts auf organisierte Kriminalität“ (La República, 11. März 2022); „Der Präsident und sieben seiner Familienmitglieder haben Gefälligkeiten von Unternehmern angenommen“ (El Comercio, 12. Juli 2022). Für keine dieser Anschuldigungen wurden irgendwelche Beweise vorgelegt.
Pedro Castillo gewann die Präsidentschaftswahlen im zweiten Wahlgang am 6. Juni 2021 mit 50,13 Prozent, einem Vorsprung von nur 45 000 Stimmen gegenüber Keiko Fujimori, der Tochter des inhaftierten Ex-Präsidenten, die auf 49,87 Prozent kam. Noch bevor die Wahlbehörde das Endergebnis der Stimmauszählung bekanntgegeben hatte, sprach das Fujimori-Lager schon von Wahlbetrug, und forderte die Annullierung von 200 000 Stimmzetteln, die sie als „irregulär“ bezeichneten.
78 Minister in 16 Monaten
Da sich große Teile der Bevölkerung hinter Castillo stellten, wurde die Idee fallengelassen, aber die Botschaft war klar: Mag Castillo auch der „legale“ Präsident sein, man werde ihn nicht als „legitimen“ Präsidenten anerkennen. In der Tat verfolgte der Makel eines „selbsternannten Präsidenten“ den neuen Staatschef.
Ablehnung herrschte auch in Militärkreisen. Am 17. Juni 2022 machte Francisco Sagasti, Interimspräsident nach dem Rücktritt von Manuel Merino am 15. November 2020, einen Brief pensionierter Militärs publik, in dem die Streitkräfte aufgefordert wurden, „den Sieg von Pedro Castillo bei der Präsidentschaftswahl nicht anzuerkennen“.6 Dies war als eindeutige Botschaft des Militärs zu verstehen: Wir haben dich im Visier.
Ein zentrales Wahlversprechen von Castillo und seiner PL war ein verfassunggebender Prozess, da die gegenwärtige Verfassung als Erbe des korrupten Fujimori in Verruf geraten war. Das Vorhaben war jedoch nicht leicht umzusetzen. Denn im Kongress mit seinen 130 Sitzen, in dem zehn Parteien vertreten sind, stellt die PL mit 37 Sitzen zwar die größte Fraktion. Aber Fujimoris Fuerza Popular verfügt immerhin über 24 Mandate.
Der Kongress ist in Peru sehr mächtig, und die unklare Machtverteilung zwischen Präsident und Kongress ist ein wesentlicher Grund für die seit Jahren anhaltende politische Krise des Landes: Sechs Präsidenten in sechs Jahren. Gegen drei von ihnen lief ein parlamentarisches Amtsenthebungsverfahren, nachdem sie auf Grundlage von Artikel 113 der Verfassung für „dauerhaft moralisch unfähig“ erklärt worden waren.
In einem Land, in dem das Amt des Präsidenten durch die Korruptionsskandale um den brasilianischen Baukonzern Odebrecht7 ohnehin schon gründlich diskreditiert war – fünf Präsidenten wurden verdächtigt, einige festgenommen –, konnte die Schwäche der PL-Fraktion im Kongress nur dazu führen, dass auch gegen Castillo eine Amtsenthebung versucht werden würde.
Der erste Versuch fand im November 2021 statt, Castillo war seit vier Monaten im Amt. 29 Abgeordnete warfen ihm illegale Parteifinanzierung und Einflussnahme zur Förderung bestimmter Personen innerhalb der Streitkräfte vor und beantragten seine Absetzung. Der Antrag erhielt nur 46 der nötigen Zweidrittelmehrheit von 87 Stimmen. Vier Monate später wurde ein neuer Antrag eingebracht, der mit 55 Stimmen ebenfalls scheiterte.
Aber Präsident Castillo wurde dadurch an der Teilnahme am Gipfeltreffen der Pazifik-Allianz gehindert, das am 25. November 2022 in Mexiko-Stadt mit den Staatschefs von Kolumbien, Chile, Mexiko und Peru stattfinden sollte. Der Präsident durfte das Land nicht verlassen, um der Justiz für eine Befragung im Rahmen von Korruptionsermittlungen zur Verfügung zu stehen. Aus Solidarität mit seinem Amtskollegen entschied sich der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador für eine Verschiebung des Gipfels.
„Lawfare“, die innere Kriegführung mit juristischen Mitteln, wird seit Jahren gegenüber progressiven Regierungen Lateinamerikas praktiziert. In Peru leitete die Justiz in etwas über einem Jahr sechs Ermittlungsverfahren gegen Castillo ein. Insbesondere warf sie ihm vor, „innerhalb seiner Regierung eine kriminelle Organisation zu lenken“.8 Da die Verfassung dem Präsidenten Immunität gewährt, ging es in Wahrheit nur darum, sein Image zu beschädigen, auch durch Angriffe auf Mitglieder seiner Familien.
Einige seiner Neffen sollen von Infrastrukturprojekten des Verkehrsministeriums profitiert, seine Schwägerin soll Aufträge vom Wohnungsbauministerium erhalten haben, und Castillo selbst soll Militärs und Polizist:innen gegen hohe Geldsummen Beförderungen verschafft haben. Bei keiner der erhobenen Anschuldigungen ging es über die Phase von Vorermittlungen hinaus.
Angesichts der Kampagne seiner Gegner beging Castillo einer Reihe von politischen Fehlern.
In den 16 Monaten seiner Präsidentschaft ernannte er insgesamt 78 Mal neue Ministerinnen und Minister für die 19 Ressorts. Außenminister Héctor Bejar blieb nur 19 Tage im Amt. Der frühere Guerillakämpfer und Mitstreiter Che Guevaras hatte 2020 Medienberichten zufolge angedeutet, die peruanische Kriegsmarine habe in den 1980er Jahren mit Unterstützung der CIA terroristische Aktionen durchgeführt, zudem sei die CIA an der Erschaffung der Guerilla Sendero Luminoso beteiligt gewesen – was keineswegs jenseits jeglicher Realität ist. Als das publik wurde, erzwang die Marine seinen Rücktritt. Vier Monate später entließ Präsident Castillo auch seinen Premierminister Guido Bellido und holte rechtsgerichtete Oppositionelle in sein Kabinett.
Gewählt worden war Castillo von Leuten, die genug hatten von den dysfunktionalen und diskreditierten Institutionen des Staates und die eine neue Verfassung und Strukturreformen wollten. Doch mit der Zeit war er vor allem damit beschäftigt, seine Gegner zu besänftigen, die doch kein anderes Ziel hatten, als ihn loszuwerden. Dies hatte zur Folge, dass Castillo im Juni 2022 sogar mit seiner Partei, der PL, brach. Der Präsident hätte versuchen können, seine Basis zu mobilisieren, um der Opposition etwas entgegenzusetzen. Stattdessen ließ er zu, dass der Kongress ihn immer mehr in die Enge trieb – und die peruanische Demokratie noch mehr diskreditiert wurde.
In den letzten Monaten war klar geworden, dass Pedro Castillo sich entscheiden musste: abdanken oder rebellieren. Die zweite Option war riskant; er lieferte seinen Gegnern damit eine Steilvorlage, um ihm einen Putschversuch vorzuwerfen. Als am 7. Dezember 2022 zum dritten Mal ein Misstrauensantrag gegen ihn im Kongress lief und die Opposition mit der Zustimmung von 67 der 130 Abgeordneten rechnete, entschied sich ein müder und zitternder Pedro Castillo schließlich dazu, sich im Fernsehen an das Volk zu wenden. Er warf seinen Gegnerinnen und Gegnern einen permanenten Staatsstreich vor, der seit seinem Amtsantritt gegen ihn im Gang sei.
Die meisten Medien ließen den ersten und wichtigsten Teil dieser Rede weg. „Die Mehrheit des Kongresses, die die Interessen der großen Monopole und Oligopole vertritt, hat alles getan, um die Institution der Präsidentschaft zu zerstören“, erklärte Castillo da.9 Zu dessen Methoden gehörten nicht nur die mehrfachen Misstrauensanträge, sondern auch der Boykott von „mehr als 70 Gesetzentwürfen von nationalem Interesse, die das Leben der schwächsten Bevölkerungsgruppen verbessern sollten“.
Nachdem der Präsident ein düsteres, aber ziemlich treffendes Bild der peruanischen Zustände gezeichnet hatte, erklärte er: „Und deshalb haben wir als Antwort auf die Forderungen der Bürger im ganzen Land beschlossen, eine Notregierung einzusetzen, die auf die Wiederherstellung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie abzielt.“ Nötig sei dafür unter anderem die „vorübergehende Auflösung des Kongresses“ und die „Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung innerhalb von höchstens neun Monaten“.
Für die Opposition ist das nichts anderes, als was in Lateinamerika als „autogolpe“ (Selbstputsch) bezeichnet wird: ein Staatsstreich durch den Präsidenten selbst, um sich an der Macht zu halten. Dabei hat Castillo, der von seinen Gegnern faktisch daran gehindert wurde, als Präsident zu agieren, am 7. Dezember vielleicht zum ersten Mal in seiner Amtszeit diejenigen repräsentiert, die ihn gewählt haben.
Nach seiner Verhaftung ging eine Welle des Protests durch die ländliche und mehrheitlich von Indigenen bewohnte südliche Andenregion. Die Regierung der neuen Präsidentin und bisherigen Vizepräsidentin Dina Boluarte rief am 14. Dezember einen auf 30 Tage begrenzten landesweiten Ausnahmezustand aus. Unterdessen riefen die Staatschefs von Argentinien, Bolivien, Kolumbien, Honduras und Mexiko dazu auf, die demokratische Ordnung in Peru wiederherzustellen. Mittlerweile hat sich die Lage äußerlich beruhigt –bis auf Weiteres.
1 Romain Migus, „Perus korrupte Präsidenten“, LMd, Januar 2021.
2 José Carlos Mariátegui (1894–1930), war Sozialrevolutionär sowie Gründer der Sozialistischen Partei und eine Ikone der marxistischen unabhängigen Linken Perus und Lateinamerikas.
3 David Lovatón Palacios, „Prensa concentrada en Perú: ¿Salvo el mercado todo es ilusión?“, 15. Juli 2021, Due Process of Law Foundation, Washington, D. C.
4 „Dos periodistas de El Comercio: Nos despidieron por no apoyar a Fujimori“, El Mundo, Madrid, 22. April 2011.
5 Víctor Robles und Bárbara Ester, „Pedro Castillo en los medios“, 3. Dezember 2022.
6 „El Presidente interno de Perú denuncia una carta de exmilitares que sugieren un golpe de estado“, La Vanguardia, Barcelona, 19. Juni 2021.
7 Siehe Anne Vigna, „Gut geschmiert ist viel gewonnen“, LMd, September 2017.
8 Guillermo D. Olmo, „Pedro Castillo: de qué acusa exactamente la Fiscalía al presidente de Perú y qué pasa ahora“, BBC, 12. Oktober 2022.
9 Transkript von Castillos Rede bei OjoPúblico, Lima, 7. Dezember 2022.
Aus dem Französischen von Nicola Liebert
Aníbal Garzón ist Soziologe.