Bolsonarismus in Brasilien: Eine Sekte im falschen Film

Nr. 2 –

Während Jahren wurden Millionen Anhänger:innen des Expräsidenten Jair Bolsonaro mit Bürgerkriegsrhetorik aufgestachelt. Nach dem Sturm auf die Institutionen am Sonntag dürfte ihre Radikalisierung weitergehen.

Ein Teilnehmer des Sturms auf das Regierungsviertel.
Noch nicht mit beiden Füssen in der Realität angekommen: Viele Teilnehmer:innen am Sturm auf das Regierungsviertel schotten sich in einer Parallelwelt ab. Foto: André Borges, Keystone


Wer den Putschversuch verstehen will, der sich am Sonntag in der brasilianischen Hauptstadt Brasilia ereignete, sollte sich zunächst mit der Denkweise der Anhänger:innen Jair Bolsonaros auseinandersetzen. Vor allem linke Beobachter:innen tendieren dazu, sie als Faschisten, Rassistinnen und Sexisten aus der weissen Mittel- und Oberklasse abzutun. Dabei hat der Bolsonarismus alle Gesellschaftsschichten durchdrungen und lässt sich keinesfalls so eindeutig einer Hautfarbe oder einem Geschlecht zuweisen. Es stimmt zwar, dass beispielsweise kaum Schwarze an der Invasion des Regierungsviertels in Brasilia beteiligt waren, aber die Anzahl der «pardos» (so werden hier Menschen mit Schwarzen und weissen Vorfahren genannt) war enorm. Ebenso auffällig war, wie viele Frauen sich begeistert an den antidemokratischen Ausschreitungen beteiligten.

Entscheidend ist etwas anderes: die feste Überzeugung der Bolsonarist:innen, dass Brasilien sich aufgrund der Wahl Luiz Inácio Lula da Silvas in Gefahr befinde, ja dass sein Wahlsieg im Oktober nur durch Betrug möglich geworden sei, denn das «Volk» hätte diesen verurteilten Dieb und Gangster schliesslich niemals gewählt. Die Bolsonarist:innen glauben fest daran, dass sie das Vaterland, die Freiheit, die Wahrheit und letztlich die wahre Demokratie verteidigten.

Monatelanger Prolog

Lula hingegen plane, so sind sie überzeugt, eine kommunistische Diktatur zu errichten, die traditionelle Familie aufzulösen, die Ausübung der christlichen Religion einzuschränken und die Meinungsfreiheit abzuschaffen. Darüber hinaus repräsentiert Lula für sie – nicht ganz zu Unrecht – das typische Gefeilsche um die Macht in Brasilia, wo sich eine Vielzahl von Parteien und Persönlichkeiten mit Posten und Pöstchen versorgen lässt.

Die Bolsonarist:innen sehen sich daher als Freiheitskämpfer:innen, die den wahren Volkswillen durchzusetzen versuchen, der von den staatlichen Institutionen im Zusammenspiel mit den «Mainstreammedien» unterdrückt werde. Es ist ein Glaube, der in der Parallelwelt, in der sich viele Bolsonarist:innen abgeschottet haben, tagtäglich bestätigt wird. Dort zirkulieren ausschliesslich Informationen, die ihre Vorstellungen bekräftigen. Was diesen widerspricht, wird ausgeblendet oder sophistisch umgedeutet. Ohne Social Media ist der Bolsonarismus nicht denkbar.

So gleicht die Bewegung mit ihrem hermetischen Weltbild und ihrer quasireligiösen Erretterrhetorik letztlich einer Sekte. Das macht auch die Ausdauer verständlich, mit der Tausende seit dem Wahlsieg Lulas in ganz Brasilien vor Kasernen campierten und einen Militärcoup forderten. Sie halten sich für legitimiert, Widerstand gegen eine illegitime Regierung zu leisten; die Faschist:innen, das sind für sie die anderen.

Und nicht zu vergessen: Es geht hier nicht um eine verirrte Minderheit. 58,2 Millionen Brasilianer:innen haben Bolsonaro gewählt, das sind 49,1 Prozent der Wählenden. Mit 60,3 Millionen Stimmen erhielt Lula da Silva nur 1,8 Prozentpunkte mehr.

Die Camps waren der monatelange Prolog zum Sturm auf Brasilia. Im Anschluss an einen Protestmarsch durchbrachen die Bolsonarist:innen die unzureichenden Polizeisperren und drangen in den Kongress, den Obersten Gerichtshof und den Präsidentenpalast ein. Sie schlugen Scheiben und Möbelstücke kaputt, zerstörten Kunstwerke, legten Feuer, urinierten und defäkierten auf Einrichtungsgegenstände und schmissen Elektronikgeräte auf den Boden. Offenbar wurden auch Kunstwerke, Waffen und Kameras gestohlen. Die Schäden dürften in die Millionen gehen.

Auffällig war bei all dem, dass die sonst für ihre Brutalität berüchtigte Militärpolizei Brasilias nicht einschritt und einige Beamte sogar Selfies mit den Invasor:innen machten. Es ist kein Geheimnis, dass Brasiliens Sicherheitskräfte eine Hochburg des Bolsonarismus sind.

Lulas harte Antwort

Hiess es zunächst, dass die Polizei von der Aggressivität der Demonstrant:innen überrascht worden sei, wurde bald der Verdacht laut, dass hinter der Passivität Kalkül gestanden habe. Brasiliens Inlandgeheimdienst ABIN hatte offenbar schon früh die Verantwortlichen in Brasilia gewarnt, dass Tausende aus diversen Landesteilen auf dem Weg seien, um den Platz der drei Gewalten zu stürmen. Nun wurde der Polizeichef der Hauptstadt, ein Exminister Bolsonaros, entlassen und der Gouverneur von Brasilia vom Amt suspendiert.

Der Sturm auf die Institutionen erfolgte nicht spontan. Bereits Tage zuvor zirkulierten in den bolsonaristischen Netzwerken Aufrufe zur Invasion der Machtzentrale des Landes. Auch Handlungsanweisungen wurden geteilt; es hiess etwa, dass die Invasion erst gewagt werden solle, wenn eine kritische Menschenmasse zusammengekommen sei. Die Polizei untersucht nun, wer hinter diesen Aufrufen stand und wer die Busreisen finanzierte, die die Demonstrant:innen nach Brasilia brachten. Im Verdacht stehen rund hundert bolsonaristische Unternehmen und Firmen, von denen viele bereits die Protestcamps vor den Kasernen unterstützt hatten.

Die Ausschreitungen wurden am Sonntag gestoppt, nachdem Präsident Lula da Silva, der sich gerade in São Paulo aufhielt, der Bundesregierung per Dekret das Kommando über den Sicherheitsapparat der Hauptstadt übertrug. Wütend kündigte er an, dass die «Vandalen und Faschisten» bestraft würden. Prompt trafen neue Polizeieinheiten auf dem Platz der drei Gewalten ein; sie vertrieben die Invasor:innen und nahmen einige Hundert von ihnen fest. Am Montag löste die Polizei dann im gesamten Land die Camps vor den Kasernen auf. In Brasilia wurden rund 1200 Bolsonarist:innen in einer Sporthalle festgesetzt, um zu überprüfen, ob sie kriminelle Akte begangen haben.

Es war der Beginn der harten Antwort des brasilianischen Staates. Der Verfassungsrichter Alexandre de Moraes, der unter Bolsonarist:innen wegen seines Vorgehens gegen Produzenten und Verbreiterinnen von Fake News ohnehin schon verhasst ist, ordnete die Überprüfung der Gästelisten von Hotels und Pensionen in Brasilia sowie die Analyse von Geolokalisierungsdaten und Aufnahmen von Überwachungskameras an. Auch das Verhalten der Polizei vor Ort ist Teil der Untersuchungen. Diese werden dadurch erleichtert, dass die Bolsonarist:innen ihre Invasion filmten und die Handyaufnahmen ihrer Delikte wie Trophäen ins Netz stellten. In einer aufsehenerregenden Rede bekräftigte Moraes am Dienstag, dass es kein «Appeasement» gegenüber den «Terroristen» geben werde: «Hätte Appeasement funktioniert, dann hätten wir den Zweiten Weltkrieg nicht gehabt», so der Verfassungsrichter.

In den bolsonaristischen Kommunikationsgruppen, aber auch beim Sender Jovem Pan (dem brasilianischen Pendant zum rechten US-amerikanischen Fox News) wird nun vom Beginn jener kommunistischen Diktatur geredet, die Lula immer schon geplant habe. Die festgenommenen Bolsonarist:innen würden wie Häftlinge in Konzentrationslagern behandelt, und die Straftaten in Brasilia hätten Provokateure begangen, die von den Linken eingeschleust worden seien.

Der grosse Verlierer

Der Sturm auf Brasiliens Institutionen war vorhersehbar. Er ist das Ergebnis einer aufstachelnden Bürgerkriegsrhetorik, die Expräsident Bolsonaro, mit ihm verbündete Politikerinnen, evangelikale Pastoren, Influencerinnen und Unternehmer seit Jahren vorantreiben. Manche Onlineeinflüster:innen haben mit ihren Veröffentlichungen auf Social Media viel Geld gemacht – und daher ein Interesse an einer weiteren Radikalisierung.

Aber sie könnten den Bogen überspannt haben. Politiker:innen von links bis rechts stimmten darin überein, dass die «Terroristen» und «Putschisten» mit der ganzen Härte des Gesetzes bestraft gehörten. Lula da Silva konnte sich als handlungsstarker Staatschef präsentieren, der das Ruder in die Hand nimmt und Entscheidungen trifft. Schon am Montag rief er Gouverneure aller Parteien, Ministerinnen und die Verfassungsrichter in Brasilia zusammen, um Einigkeit zu demonstrieren. Die meisten Beobachter:innen stimmten überein: Brasiliens junge, erst 35 Jahre alte Demokratie habe sich am Ende wehrhaft und stark gezeigt.

Der grosse Verlierer ist Jair Bolsonaro. Erst spät meldete er sich aus Florida, um sich auf Twitter gegen die Gewaltakte in Brasilia auszusprechen. Seine Aufrufe verhallten ohne grosses Echo. Als würde ihn der Bolsonarismus gar nicht mehr brauchen.