Sudan – Flickwerk für den Frieden

Le Monde diplomatique –

Im vergangenen Dezember einigten sich Vertreter der Zivilgesellschaft und das Militär auf ein neues Rahmenabkommen. Allerdings lässt es viele Fragen offen und wird von den Protestierenden abgelehnt.

Khartum, am 4. Jahrestag des Aufstands im Sudan, 19. Dezember 2022
Khartum, am 4. Jahrestag des Aufstands im Sudan, 19. Dezember 2022 Foto: MAHMOUD HJAJ/picture alliance/aa

Acht Frauen sitzen auf der Treppe vor dem Jauda-Krankenhaus, einige Kilometer vom Stadtzentrum Khartums entfernt. Manche sind in ihren Tob gehüllt, ein leichtes Gewand, das um Kopf und Körper geschlungen wird, andere tragen nur einen Hidschab. Auf große Pappschilder haben sie Fotos geklebt, auf denen Kinder unter freiem Himmel vor einer Schultafel sitzen.

Der heutige Protestmarsch wurde aus Solidarität mit den Lehrern ausgerufen, die seit Ende November 2022 für eine Gehaltserhöhung streiken. Kleine Gruppen junger Leute und Teenager ziehen an den Frauen vorbei. Manche tragen selbst gebastelte Schutzschilde, manche Masken oder Halstücher vor dem Mund, und alle haben Schutzbrillen auf. Sie ziehen in Richtung Stadtzentrum, von wo der dumpfe Knall der Tränengasgranaten widerhallt.

Fatin Abou Zeid Sabiq, in rosafarbenem Tob, verpasst keine einzige Demo. Sie sitzt immer zusammen mit ihren Freundinnen auf der Treppe vor dem Jauda. „Unsere Kinder sind da draußen, sie stellen sich der Polizei entgegen“, sagt sie und deutet in die Ferne. „Wir unterstützen sie, so gut wir können, aber wir sind jetzt zu alt, um vor Tränengas und Kugeln wegzurennen.“

Vor einem Jahr haben sie noch gegen den Militärputsch vom 25. Oktober 2021 demonstriert, mit dem die demokratische Übergangsperiode endete. Die revolutionären Parolen – „Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit“, „Es gibt kein Zurück“ und „Alle Macht den Zivilisten“ – vertreten sie weiterhin.

Doch heute treibt sie eine andere Misere auf die Straße: „Die Preise sind explodiert, sie steigen jeden Tag. Es reicht kaum für zwei Mahlzeiten am Tag“, schimpft Fatin. Ihre Freundinnen pflichten ihr lautstark bei. „Allein für den Bus zur Arbeit geht fast das gesamte Gehalt drauf!“

Ein Stück weiter steht der streikende Lehrer Mighrani. Auf seinem Plakat stehen Parolen gegen General Abdel Fattah al-Burhan, den Oberbefehlshaber der Armee und Anführer der Putschisten. Mighranis Monatsgehalt beträgt 90 000 Sudanesische Pfund (SDG), umgerechnet 145 Euro. Er ist auf Minibusse angewiesen, um zur Arbeit zu kommen. Nach Abzug der Fahrtkosten bleiben ihm 48 Euro im Monat für Miete, Essen und alles andere. Ein Kilo Fleisch kostet in Khartum über 6 Euro. Die Preise für importierte Produkte entsprechen in etwa denen in europäischen Supermärkten.

Seit der Abspaltung des Südsudan im Jahr 20111 und dem damit einhergehenden Verlust der Öleinnahmen steckt das Land in der Wirtschaftskrise. Eine zaghafte Erholung gab es nach Omar al-Bashirs Sturz im April 2019 und der Einsetzung einer zivilen Regierung.2

Premierminister Abdallah Hamdok war in der Bevölkerung beliebt und wurde von westlichen Ländern und Geldgebern geschätzt; der Sudan kehrte in die internationale Gemeinschaft zurück; die USA hoben ihre Sanktionen auf; es folgten eine Wechselkursreform und ein Plan zur Armutsbekämpfung. Eine leichte Besserung war spürbar – trotz einer weiter hohen Inflation mit 359 Prozent im Jahr 2021, die teilweise auf Spekulationen, die Coronapandemie und politische Blockaden zurückzuführen war.

Der Militärputsch hat das Land in den Abgrund gestürzt. Vermutlich waren die Putschisten selbst überrascht, dass die gesamte internationale Hilfe – Kredite, Zuschüsse, Verhandlungen über Schulden, technische Unterstützung – eingefroren wurde. Investoren, die sich schon für den Sudan zu interessieren begannen, zogen sich wieder zurück.

Die Inflationsrate blieb 2022 mit über 300 Prozent schwindelerregend hoch. Erst in den letzten Monaten ging sie wieder zurück. Im Januar 2023 lag sie bei „nur“ 87 Prozent. Das sei aber keineswegs ein Zeichen, dass es dem Land besser geht, erklärt ein Ökonom, der für eine internationale Organisation arbeitet: „Die Leute haben kein Geld und können sich nichts mehr leisten. Die Nachfrage ist eingebrochen, also verlangsamt sich der Preisanstieg.“

Der Putsch habe den Aufschwung, der durchaus stattfand, abgewürgt, und die Junta habe wirtschaftspolitisch rein gar nichts unternommen: „Die Armut hat zugenommen und die Arbeitslosigkeit ist gestiegen, wir brauchen unbedingt wieder eine zivile Regierung, um die Unterstützung der internationalen Geldgeber zurückzuerlangen.“

Genau darauf berufen sich auch die Vertreter vom zivilen Bündnis „Kräfte für Freiheit und Wandel“ (FFC-CC), die seit Mai 2022 mit den Putschgenerälen verhandeln. Die Gespräche laufen unter der Schirmherrschaft der UN-Mission in Sudan (Unitams), der Afrikanischen Union und der regionalen Kooperationsorganisation Igad.3 Mit im Spiel ist das sogenannte Sudan-Quartett (USA, Großbritannien, Saudi-Arabien und Vereinigte Arabische Emirate, VAE) sowie Sonderbeauftragte der EU, Norwegens, Frankreichs und Deutschlands.

Rahmenabkommen  mit vierzig Parteien

Als Ergebnis monatelang diskret geführter Verhandlungen wurde am 5. Dezember 2022 ein Rahmenabkommen unterzeichnet, das aber Teile der Zivilgesellschaft ablehnen. Für die Militärs unterzeichneten al-Burhan und sein Rivale und Stellvertreter Mohammed Hamdan Daglo, genannt Hemeti. Hemeti befehligt die Rapid Support Forces (RSF), eine paramilitärische Gruppierung, die aus der Dschandschawid-Miliz4 hervorgegangen ist. Von ziviler Seite wurde das Abkommen von etwa 40 Parteien und Gruppierungen unterzeichnet, von denen die FFC-CC, der politische Arm der Revolution, die größte ist.

Jedoch blieben fünf zentrale Themen, an denen die Zivilregierung von Abdallah Hamdok zerbrochen war, in dem Abkommen ausgeklammert: die Demontage des alten Regimes, die Überarbeitung des Friedensabkommens von Juba5 vom Oktober 2020, die Lage im Ostsudan, die Übergangsjustiz und die Reform des Militärs und der Sicherheitskräfte.

Diese Fragen werden auf Konferenzen und in Workshops diskutiert, an denen politische Akteure, Experten und Interessengruppen teilnehmen. Ihre Empfehlungen sollen in die endgültige Vereinbarung einfließen, der die Bildung einer zivilen Übergangsregierung folgen soll. Der ursprüngliche Zeitplan sah die Ernennung eines Premierministers bis Ende Januar vor.

Über die Auflösung der alten Strukturen unter al-Bashir, in denen sich zahlreiche Verbündete des Diktators Ressourcen und Ämter unter den Nagel gerissen hatten, wurde im Januar gesprochen. Das Juba-Abkommen zwischen der Zentralregierung und den meisten der bewaffneten Gruppen mit seinen zahlreichen Fragen und Widersprüchen kam Anfang Februar auf den Tisch und endete mit einer Vereinbarung am 19. Februar.6

Beim Ostsudan ging es um Entwicklung, separatistische Bestrebungen und auch um Geopolitik, denn der Zugang zum Roten Meer weckt Begehrlichkeiten bei vielen regionalen und internationalen Mächten, darunter Ägypten, die VAE, die Türkei, die USA und Russland. Damit sind drei der Themenkomplexe abgeschlossen (Stand 27. Februar).7

Bei der Frage der Übergangsjustiz geht es vor allem um Verbrechen, die vom Al-Bashir-Regime an Oppositionellen und im Bürgerkrieg begangen wurden. Dieses Thema soll auf Workshops in den betroffenen Regionen behandelt werden, bevor eine Abschlusskonferenz in Khartum stattfindet.

Der letzte große Brocken ist die Reform der Sicherheitsdienste und des Militärs. Die Nationale Armee und die RSF stehen sich feindselig gegenüber; viele Unterzeichner des Juba-Abkommen haben nicht wie vereinbart ihre Waffen abgegeben, sondern rekrutieren weiter Kämpfer. Ihre Integration in die nationale Armee hat nicht stattgefunden.

Die Überarbeitung des Juba-Abkommens und die Sicherheitsreform seien jedoch „unerlässlich“, meint Babiker Faisal von der Democratic Unionist Party (DUP), die das Rahmenabkommen vom 5. Dezember unterzeichnet hat. „Al-Burhan und Hemeti müssen miteinander reden und eine gemeinsame Armee schaffen. Andernfalls kommt eine offene Konfrontation zwischen der nationalen Armee und der RSF auf uns zu und damit die Zerstörung des Landes.“

Man müsse endlich die neue Regierung ernennen und die großen ökonomischen Probleme angehen: „Zuerst müssen wir wieder mit der internationalen Gemeinschaft und den Geldgebern zusammenkommen, insbesondere IWF und Weltbank. Die Reform des Bankensystems hat ebenfalls Priorität. Und die Schaffung von Arbeitsplätzen.“

Der politische Prozess war und ist zahlreichen Angriffen von allen Seiten ausgesetzt, aus den Reihen des alten Regimes und von den Islamisten, aber auch von Gruppen, die das Juba-Abkommen unterzeichnet haben, wie Gibril Ibrahims Bewegung für Gerechtigkeit und Gleichheit (JEM) und die Sudanesische Befreiungsarmee (SLA) unter Minni Minawi.

Die trafen sich mit anderen Gruppierungen Anfang Februar zu einer Konferenz in Kairo, deren Ergebnis als Alternative zum Rahmenabkommen mit der FFC-CC vorgestellt wurde.8 Auch Ägypten spielt eine wichtige Rolle beim Machtkampf in Sudan. Diese Gruppen, die seinerzeit den Putsch von General al-Burhan gegen ihre zivilen Verbündeten unterstützt hatten, haben die Vereinbarung vom 19. Februar unterschrieben – unter Abwesenheit von Hemeti und der FFC. Heraushalten konnten sie sich nicht, es sei denn, sie würden wieder zu den Waffen greifen.

Kritische Beobachter, auch solche, die den FFC-CC nahestehen, monieren den Geheimcharakter der Verhandlungen – ein Geschenk an das Militär und vor allem an Hemeti – und sprechen von einer abgekarteten Sache. „In Wahrheit sind die fünf Punkte, die auf den Konferenzen diskutiert wurden, schon im Vorfeld geregelt worden, vor allem die Straffreiheit für al-Burhan und Hemeti“, sagt Amjad Farid, ehemaliger Kabinettschef von Abdallah Hamdok, der das Rahmenabkommen strikt ablehnt. Die Militärs wollten lediglich den Eindruck erwecken, die Bevölkerung werde beteiligt. „Dann können sie bei der Unterzeichnung des endgültigen Abkommens sagen, es habe öffentliche Konsultationen gegeben.“

Die lokalen Widerstandskomitees, die Basisorganisationen der Revolution, lehnen Gespräche mit dem Militär ohnehin mit einem dreifachen Nein ab: „Nein zum Dialog, Nein zu Verhandlungen, Nein zur Partnerschaft“, und fordern „alle Macht den Zivilisten“. Jeder Schritt zurück sei unmöglich. Das bezieht sich auf die Verfassungserklärung vom August 2019, mit der die Macht zwischen Zivilisten und Militärs aufgeteilt wurde. Letztere behielten dabei die Ministerien für Verteidigung und Inneres sowie die Hälfte der Sitze im Souveränitätsrat, der den Übergang begleitete. Für die Widerstandskomitees haben die Generäle durch ihren Putsch jegliche Legitimation verloren.

„Mit dem Rahmenabkommen versuchen sie das System zu erhalten, das seit der Unabhängigkeit 1956 besteht: die Aufteilung der Macht zwischen der Armee und den traditionellen politischen Parteien“, sagt Ahmad Ismat, Sprecher der Widerstandskomitees in Khartum. Eine neue zivile Regierung könne diese Strukturen nicht verändern. „Wir haben unsere Position klargemacht, wir haben an diesem Prozess kein Interesse.“ Stattdessen werde man versuchen, direkt in den Gemeinden die Kontrolle zu übernehmen, so Ismat. „Das ist unser Weg, um dieses Land zu verändern. Das Rahmenabkommen ist eine Kapitulation vor dem Militär.“

Yasir Arman vom Sudan People’s Liberation Movement (SPLM) und Mitglied der FFC-CC, sieht das anders: „Wir haben erreicht, dass das Militär die Macht abgibt und in die Kasernen zurückkehrt!“ Er ist überzeugt, dass eine neue Regierung „vollständig zivil sein wird, einschließlich des Verteidigungs- und des Innenministeriums“. Natürlich hätten die Generäle viel zu verlieren und seien nicht begeistert. „Aber es liegt an uns allen und an der internationalen Gemeinschaft, weiter Druck zu machen.“

Der FFC-CC hofft auf eine Einigung zwischen den revolutionären zivilen Kräften und den Unterzeichnern des Juba-Abkommens. Denn Putschführer al-Burhan und General Al-Din Kabashi haben bereits verkündet, dass ein von einer Minderheit unterzeichnetes Abkommen für sie nicht bindend sei. Hemeti hingegen präsentiert sich neuerdings als Vorkämpfer der Demokratie und bezeichnete den Putsch von 2021 sogar als „Fehler“.9 Doch die Rolle von Hemetis RSF bei der blutigen Unterdrückung der Proteste ist nicht vergessen.

Babiker Faisal von der DUP hält die Verhandlung für die einzig mögliche Lösung. „Die Generäle wissen, dass sie sich keinen Putsch mehr leisten können. Der letzte von 2021 ist gescheitert. Die Zeiten der Militärregierungen im Sudan sind vorbei.“

1 Siehe Gérard Prunier, „Kleine Geschichte des Südsudan“, LMd, Februar 2011, und Anne-Felicitas Görtz, „Wie der Südsudan nach Magwi kam“, LMd, August 2011.

2 Siehe Giovanna Lelli, „Friedliche Revolution im Sudan“, LMd, Mai 2019; Gérard Prunier, „Die Macht des tiefen Staats in Sudan“, LMd, September 2019; und Charlotte Wiedemann, „Das Haus von Fathiya“, LMd, April 2020.

3 Die 1986 gegründete Intergovernmental Authority on Development (Igad) hat ihren Sitz in Dschibuti. Mitgliedstaaten sind: Dschibuti, Äthiopien, Eritrea, Kenia, Somalia, Sudan, Südsudan und Uganda.

4 Siehe Alex de Waal, „Wie die Fur zu Afrikanern wurden“, LMd, September 2004.

5 Vgl. Gerrit Kurtz, „Der Ertrag von Juba“, Zenith, 16. Oktober 2020.

6 „Sudan, armed groups sign new implementation agreement for Juba peace agreement“, Sudan Tribune, Khartum, 19. Februar.

7 „FFC leading member calls to form civilian government in Sudan“, Sudan Tribune, 27. Februar 2023.

8 „Cairo meeting form new coalition for non signatories of Sudan’s framework agreement“, Sudan Tribune, 7. Februar 2023.

9 Dickens Olewe, „Mohamed ‚Hemeti‘ Dagalo: Top Sudan military figure says coup was a mistake“, BBC News, 20. Februar 2023.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Gwenaëlle Lenoir ist Journalistin.

© Orient XXI; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin