Die Revolution des Sudan: Ein Land auf Feld eins
Der Putsch der Militärführung überraschte die meisten Sudanes:innen nicht: Für sie steckte der Demokratisierungsprozess schon von Beginn an in der Sackgasse.
Dass es bei den Grossprotesten im Sudan am Samstag kein grösseres Blutbad gab, deutet Jeffrey Feltman, US-Sonderbeauftragter für das Horn von Afrika, als ermutigendes Zeichen. Hunderttausende Menschen hatten sich in vielen Städten auf die Strasse begeben, um gegen den Putsch aufzubegehren, den General Abdel Fattah al-Burhan am Montag zuvor durchgeführt hatte; gemäss Reuters-Angaben wurden allein am Samstag mindestens 10 Menschen getötet und 245 verletzt.* Dennoch sprach Feltman am Dienstag in einem Medienbriefing davon, dass die Sicherheitskräfte «zurückhaltend» agiert hätten und drückte damit seine Hoffnung aus, dass sich der Sudan wieder in jenen politischen Zustand zurückversetzen lasse, der vor dem Morgen des 25. Oktober geherrscht hatte.
Nicht nur Einigkeit
Dieser Zustand bestand darin, dass das Land unter Führung des Souveränen Rats einen mehrjährigen Transformationsprozess durchlaufen sollte: weg von der Jahrzehnte währenden Militärdiktatur, hin zur Demokratie. Im elfköpfigen Souveränen Rat waren die militärische und die zivile Seite vertreten. Er resultierte aus einer Übereinkunft zwischen der grossen Protestbewegung, die sich ab Dezember 2018 gegen Diktator Umar al-Baschir gestemmt hatte, und der Militärjunta, die diesen im April 2019 gestürzt hatte. Als oberstes Gremium wachte der Souveräne Rat seit August 2019 über das Regierungskabinett des neu eingesetzten Premierministers Abdalla Hamdok. Mit ihm verfuhr General Burhan letzte Woche reichlich sprunghaft: Zunächst soll er ihn in seiner eigenen Residenz festgehalten, dann unter Hausarrest gestellt haben – bevor er ihm in Aussicht stellte, sein Amt als Premierminister wieder aufnehmen zu dürfen, allerdings an der Spitze eines neuen, von Burhan installierten Technokratenkabinetts.
Vordergründig bekennt sich der General damit zu einer Fortführung des Übergangsprozesses, der mit Wahlen im Sommer 2023 vollendet werden soll. Ob dies zur Beschwichtigung der vielen internationalen Akteure ausreicht, die den Putsch letzte Woche umgehend scharf verurteilten, ist fraglich; Burhan habe die Sehnsüchte der Sudanes:innen «gekapert und verraten», sagte der US-Gesandte Feltman am Dienstag. Die USA hatten zuvor die Bezahlung von 700 Millionen US-Dollar an Unterstützungsgeldern auf Eis gelegt. Aber Feltman befand auch, dass die Protestierenden jetzt vorsichtig zu agieren hätten, um «einen Weg zurück zur zivil-militärischen Partnerschaft zu finden», die für den Wandel notwendig sei.
Aufseiten der Protestbewegung klingt das längst ganz anders. Schon lange war klar, dass der eingeschlagene Weg eine Sackgasse darstellte, und spätestens seit dem gescheiterten Putschversuch vom 21. September schien es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis der nächste folgen würde. «Auch wenn es jetzt Druck gibt, wieder in die Partnerschaft einzutreten, sollten alle wissen, dass dies eine Zeitbombe ist, die jeden Moment explodieren kann», sagte etwa Samahir el-Mubarak, eine Sprecherin der Sudanese Professionals Association (SPA), gegenüber der Radiostation «The World». Die SPA, ein Gewerkschaftszusammenschluss, nahm beim Aufstand gegen Baschir eine zentrale Rolle ein und war später auch im Souveränen Rat vertreten. Eine Rückkehr an den Verhandlungstisch stellt die SPA jetzt nicht mehr in Aussicht, stattdessen ruft sie erneut zum zivilen Ungehorsam auf.
Schon seit Beginn des Übergangsprozesses herrschte innerhalb der Protestbewegung Uneinigkeit darüber, ob man sich mit Militär, Paramilitärs und polizeilichen Spezialkräften auf eine Machtteilung einlassen sollte. Als es noch gegen Diktator Baschir ging, gelang ein breiter Schulterschluss zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen, Gewerkschaften, Rebellengruppen, oppositionellen Politiker:innen und basisdemokratisch organisierten «Widerstandskomitees». Sie schufen eine Koalition unter dem Namen Forces of Freedom and Change (FFC), die nach Baschirs Sturz das Abkommen mit dem Militär aushandelte. Bald wandte sich ein Teil der Bewegung aber desillusioniert ab.
«Es war naiv, zu glauben, die Militärs würden tatsächlich einen Teil ihrer Macht abgeben», sagt Nada Sayed. Die 31-jährige Zürcherin lebte im Revolutionsjahr 2019 in Khartum und verfolgte die Protestbewegung sehr eng, heute engagiert sie sich in einem Recherchenetzwerk für gemeinnützigen Journalismus. Insbesondere innerhalb der lokalen Widerstandskomitees habe man bereits 2019 bezweifelt, dass der von der FFC-Führung eingeschlagene Verhandlungsweg der richtige sei, sagt Sayed. Schliesslich hätten die führenden Militärköpfe, neben Burhan vor allem der für Kriegsverbrechen in Darfur berüchtigte Mohammed Hamdan Daglo, noch im Juni 2019 ein Massaker in Khartum verantwortet, bei dem über 120 friedlich Protestierende ermordet wurden. Trotzdem fanden die Verhandlungen statt, an deren Ende ein Abkommen mit Burhans Junta unterzeichnet wurde.
Der importierte Premier
Der Übergangsregierung gelang es, sich aus der internationalen Isolation zu befreien, in die Baschir den Sudan manövriert hatte. Das Land steht seit letztem Jahr nicht mehr auf der «Liste der Terror unterstützenden Staaten» der USA, ein Teil seiner Auslandsschulden wurde mittlerweile erlassen, es konnte neue Kredite aufnehmen. Das alles aber hatte einen Preis, der die Gunst der sudanesischen Bevölkerung arg strapazierte. Der Internationale Währungsfonds etwa stellte Auflagen, die die Regierung zwangen, Subventionen unter anderem für Nahrungsmittel und Benzin aufzuheben, mit einschneidenden Folgen für Millionen Sudanes:innen. Die seit Jahren anhaltende Wirtschaftskrise verschärfte sich weiter, Inflation und Nahrungsmittelpreise schossen in die Höhe.
Dass der studierte Ökonom Hamdok vor seinem Amtsantritt viele Jahre im Ausland verbracht hatte, sei ihm zu Beginn noch als Vorteil ausgelegt worden, sagt Nada Sayed: «Man sagte sich, der spricht die Sprache des Westens, der kann gute Dinge für uns aushandeln.» Mit der Zeit sei ihm aber immer stärker genau das vorgeworfen worden: Hamdok habe die Kämpfe der vergangenen Jahre nicht miterlebt, er wisse gar nicht, wie das Land unter dem Militärapparat funktioniere, wo dieser Geld investiert habe, wo sich seine Folterkammern befänden. «Hamdok wurde immer mehr als importierter Premierminister wahrgenommen», sagt Sayed.
Immerhin gab es seit 2019 grosse Fortschritte bei der Beilegung mehrerer bewaffneter Konflikte, die im Sudan seit Jahrzehnten wüten und Hunderttausende Tote forderten. Im letzten Herbst wurde ein Friedensabkommen unterzeichnet – an dem sich zwar die zwei grössten Rebellengruppen nicht beteiligten, das aber unter anderem eine stärkere politische Integration der Regionen Darfur, Südkordofan und Blue Nile vorsah. Wie es mit der Umsetzung des Abkommens weitergeht, bleibt abzuwarten. In einem demokratischen Sudan könnten General Burhan und seine Mitstreiter eines Tages für ihr Handeln in den Jahrzehnten des Bürgerkriegs zur Rechenschaft gezogen werden – unter den aktuellen Umständen droht das Friedensabkommen stattdessen vor allem dem Machtpoker einzelner Rebellenführer zu dienen.
Die Revolution im Sudan befinde sich wieder auf Feld eins, heisst es nun vielerorts. Aber Nada Sayed gibt zu bedenken: «Für viele Menschen hat die Gewalt gar nie aufgehört, für sie hat sich seit der Revolution nicht viel verändert.» Sie verweist etwa auf ein Massaker im Januar 2020 in Westdarfur, bei dem die Paramilitärs der Rapid Support Forces von Mohammed Hamdan Daglo achtzig Menschen töteten und 47 000 zur Flucht zwangen. «In der Erfahrung der Sudanes:innen hatte das Militär das Land stets im Griff», sagt Sayed.
So überrascht es nicht, dass die Massenproteste unmittelbar nach dem Putsch landesweit wieder da waren. Angesichts der Übergangsregierung mögen sich die Protestierenden zunehmend uneins gewesen sein – jetzt haben sie wieder einen unmissverständlichen Gegner, mit dem zu verhandeln offensichtlich nirgendwohin führt.
*Korrigendum vom 4. November 2021: In der Printversion sowie in der ursprünglichen Onlineversion hiess es, gemäss Angaben eines Ärzt:innenverbandes seien drei Menschen getötet und 38 verletzt worden. Nach neueren Angaben von Reuters wurden diese Zahlen nach oben korrigiert.