Mit Banden und Bitcoins

Le Monde diplomatique –

El Salvadors junger Präsident Nayib Bukele will sein Land in ein libertäres Tech-Paradies verwandeln und wird dabei immer autoritärer

inhaftierte Männer blicken aus einer überfüllten Gefängniszelle
Die Mordrate ist gesunken, aber immer mehr Menschen landen im Gefängnis Foto: SALVADOR MELENDEZ/picture alliance/ap

Eine Touristengruppe, alle in Hawaii-Shorts und mit Skatecaps auf dem Kopf, schlendert durch die sandigen Gassen von El Zonte. Das beliebte Surferparadies liegt in El Salvador – dem kleinsten Land Zentralamerikas – eine Autostunde südlich der Hauptstadt San Salvador. Die Touristen sprechen Englisch mit amerikanischem, australischem oder deutschem Akzent. Mit Selfie-Stick und Cocktails posieren sie vor einem spektakulären Sonnenuntergang und begeistern sich für die frischgeschlüpften winzigen Schildkröten, die gerade ihrer ersten Welle entgegentorkeln.

Das wichtigste Accessoire dieser Sommerfrischler sind allerdings ihre Smartphones, mit denen sie Cocktails, Kokosnüsse und Tortillas per QR-Code in Bitcoin bezahlen. Zwei Jahre lang war die Kryptowährung in El Zonte getestet worden, bevor Präsident Bukele am 8. Juni 2021 den Bitcoin zur offiziellen Währung in El Salvador neben dem US-Dollar erklärte – eine Weltpremiere, die viele Wirtschaftsexpert:innen mit einem Stirnrunzeln zur Kenntnis nahmen.1

Einige der Touristen, die sich in El Zonte vergnügen, waren eigentlich nur zur Konferenz „Adopting Bitcoin“ angereist, die vom 15. bis 17. November 2022 in San Salvador stattfand. Manche haben aber immer noch kein Rückflugticket gebucht. „Ich überlege hierzubleiben“, sagt Jesse Shrader, Mitgründer des US-amerikanischen Start-ups Amboss Technologies. Er befürchtet nämlich, dass die USA nach dem Kollaps der Krypto-Börse FTX am 11. November 2022 „auf die Idee kommen könnten, Regulierungen einzuführen. Hier herrscht mehr Freiheit.“

Mit der Einführung des Bitcoins wurde El Salvador zum Eldorado für Techfreaks. „Viele Leute aus der Tech-Welt, Content Creators, Influencer und digitale Nomaden sind ins Land gezogen“, berichtet Jeremy, ein ehemaliger US-Soldat, der erst kürzlich nach El Salvador ausgewandert ist und seinen richtigen Namen nicht nennen möchte. Kurz nach seiner Ankunft gründete er ein Netzwerk, das die Neuankömmlinge bei Behördengängen unterstützen soll.

„Die meisten kommen aus Kanada, Neuseeland, Australien, USA, Belgien, den Niederlanden und Dänemark“, erzählt er uns in seinem Penthouse in einem hippen Viertel von San Salvador. „Sie dachten, sie würden in liberalen Demokratien leben, aber durch die Einschränkungen in der Coronapandemie wurde ihnen erst klar, in welchem Ausmaß der Staat in ihren Alltag eingreifen kann.“ Auf der Suche nach einer Alternative kamen sie auf El Salvador.

Der 41-jährige technikaffine Bukele ist genau ihr Mann. Ein halbes Jahr nach der Einführung der Kryptowährung kündigte der Präsident am 21. November 2021 an, er wolle eine „Bitcoin City“ am Fuß des Conchagua-Vulkans errichten: „Als Alexander der Große die Welt eroberte, schuf er viele Reiche unter seinem Namen“, rief Bukele damals von der Rednertribüne, die er zu den Klängen des AC/DC-Songs „You Shook Me All Night Long“ betrat. „Damit sich der Bitcoin in der ganzen Welt verbreiten kann, müssen wir hier in El Salvador das erste Alexandrien für ihn bauen.“

Die neue Stadt soll durch Staatsanleihen im Wert von einer Milliarde US-Dollar finanziert werden, notiert in Bitcoins. Diese „Volcano Bonds“ sollen mittels vulkanischer Geothermie hergestellt werden – denn das „Schürfen“ von Bitcoins, also die notwendigen Rechnerleistungen für die komplizierten Algorithmen, ist sehr energieintensiv. Außer der Mehrwertsteuer sollen in der Bitcoin City keine weiteren Steuern erhoben werden. „Ein Paradies der Freiheit“, meint Jeremy.

eine Frau auf der Strasse mit Bitcoin-T-Shirt und einer Gesichtsmaske mit Bitcoins-Aufdruck
Die meisten können mit Bitcoins nichts anfangen Foto: ALEX PENA/picture alliance/anadolu agency

Bislang profitieren allerdings nur Bitcoin-Anhänger von diesem Paradies. Jenseits der Stadtgrenze von El Zonte, auch „Bitcoin-Beach“ genannt, erinnert El Salvador eher an ein riesiges Gefängnis. Am 26. März 2022 erlebte das Land – mutmaßlich nach dem Bruch einer heimlich zwischen der Regierung und den Banden vereinbarten Feuerpause – den blutigsten Tag seit 20 Jahren: Die Banden M-13 und Barrio-18 ermordeten mehr als 62 Menschen. Am nächsten Tag verhängte Bukele den Ausnahmezustand. Seitdem patrouilliert die Polizei in den Straßen und ganze Städte wurden von der Armee abgeriegelt.

Mehr als 60 000 Menschen wurden im Zuge der Aktionen inhaftiert2, so dass El Salvador neuerdings die weltweite Haftstatistik anführt. Nach Angaben des World Prison Brief, der sich auf UN-Daten stützt, kommen derzeit auf 100 000 Einwohner 1086 Inhaftierte. La Prensa Gráfica, die wichtigste Zeitung El Salvadors, berichtete am 26. Juli 2022 unter Berufung auf den obersten Gerichtshof, die Quote liege bei 1220 Häftlingen pro 100 000 Einwohner. Nach den Massenverhaftungen wurde in Rekordgeschwindigkeit ein neues „Haftzentrum für Terroristen“ gebaut. Es wurde am 2. Februar 2023 eröffnet und soll 40 000 weitere Häftlinge aufnehmen.

Eine Zukunftsstadt direkt neben einem Gefängnis? Von außen sei Bukele jung und cool, meint die Abgeordnete Claudia Ortiz von der Oppositionspartei Vamos, die uns in ihrem Parlamentsbüro empfängt. „Aber im Innern verbirgt sich ein autoritärer Kern, der eher zur jüngeren Vergangenheit unseres Landes passt.“ Zwischen 1980 und 1982 wurden in einem Bürgerkrieg, in dem die Armee extreme Gewalt ausgeübt hat, etwa 75 000 Menschen getötet, 8000 verschwanden.

Im Februar 2019 galt Nayib Bukele noch als Hoffnungsträger: „Unser Land kann endlich den Krieg hinter sich lassen und der Zukunft entgegengehen“, erklärte er am Abend seines Wahlsiegs. Als Kandidat der konservativen Partei Großes Bündnis für die nationale Einheit (Gana) war er im ersten Wahlgang mit 53 Prozent der Stimmen gewählt worden.

Der damals 37-jährige brach mit dem etablierten Zweiparteiensystem, in dem sich seit Kriegsende die Nationalistische Republikanische Allianz (Arena) und die linke Nationale Befreiungsfront Farabundo Martí (FMLN) an der Regierung abgewechselt hatten. Keiner von beiden war es gelungen, die Gewalt und die Armut im Land zu beseitigen.

Auch Bukele hat seine politische Karriere bei der FMLN begonnen, wurde jedoch im Oktober 2017 aus der Partei ausgeschlossen. Ihm wurde vorgeworfen, die Partei zu spalten. 2015 war er als FMLN-Kandidat zur Bürgermeisterwahl von San Salvador angetreten und regierte die Stadt bis 2019. Bei seiner Wahl zum Präsidenten war er also alles andere als ein Politikneuling, auch wenn ihn die internationale Presse als „Außenseiter“ (New York Times, 3. Februar 2019) und „Anti-System-Kandidaten“ (La Croix, 2. Februar 2019) bezeichnete. Die Washington Post unterstellte dem Jungunternehmer einen „Sinn für soziale Netzwerke“ und lobte seine „unideologische“ Haltung (5. Februar 2019).

Missliebige Richter werden entlassen

Die von den Medien beschriebene Realität erinnert allerdings mehr an eine Seifenblase – irgendwann wird sie platzen. Seit den Friedensabkommen von 1992 habe es in El Salvador noch nie so viele Rückschritte für die Demokratie gegeben, meint die Abgeordnete Ortiz. Nach seinem Amtsantritt entließ Bukele über Twitter Beamte, die der FMLN nahestanden. Und am 8. Februar 2020 trat er mit einer Armee-Eskorte im Parlament auf, um die mehrheitlich oppositionellen Abgeordneten dazu zu zwingen, Schulden in Höhe von 109 Millionen Dollar zu genehmigen, mit denen er sein Sicherheitsprogramm finanzieren wollte.

Offenbar wurde das Parlament nur durch göttliche Hilfe vor einem Putsch bewahrt: Bukele verharrte im Gebet und verließ dann den Saal, um zu seinen Anhängern vor dem Gebäude zu sprechen: „Gott hat mir gesagt: Geduld, Geduld. Wir werden uns ihrer auf demokratische Weise entledigen.“3

Ein Jahr später war es so weit: Am 28. Februar 2021 erlangte seine Partei „Neue Ideen“ im Bündnis mit der Gana die absolute Mehrheit im Parlament. Jetzt konnte Bukele alle Hindernisse aus dem Weg räumen. Am 1. Mai 2021 „säuberte“ er die Justiz.4 Das Parlament entließ den Generalstaatsanwalt und die Richter der Verfassungskammer im Obersten Gerichtshof. Der hatte etwa der Armee untersagt, Menschen zu verhaften, die gegen den Coronalockdown verstießen.

Am 27. September 2021 verabschiedeten die Abgeordneten ein Gesetz, mit dem ein Drittel der Richter und Staatsanwältinnen in den Ruhestand geschickt wurde. „Es gibt keine unabhängige Justiz mehr“, erklärt Juan Antonio Durán, einer der Richter, die sich dieser Maßnahme widersetzt hatten; er berichtet auch, dass die Regierung versucht habe, ihn einzuschüchtern.

Seit Beginn des „Kriegs gegen die Banden“ gehören solche Angriffe auf die Demokratie zur Tagesordnung, erklärt Ortiz, eine der wenigen Abgeordneten, die am 12. Januar 2023 gegen die zehnte Verlängerung des Ausnahmezustands gestimmt haben. Laut der zentralamerikanischen NGO Cristosal sind unter den Verhafteten tausende Unschuldige. Bis zum 26. März haben die Cristosal-Mitarbeiter:innen 4071 Klagen wegen Amtsmissbrauchs gezählt.

„Die meisten Verhaftungen erfolgten willkürlich. Es gab weder Ermittlungen noch Haftbefehle“, klagt Abraham Abrego, der die Rechtsabteilung der NGO leitet. Laut Zeugenaussagen wurden manche nur wegen eines Tattoos verhaftet, das als Zeichen der Zugehörigkeit zu einer Gang gilt, oder weil sie in einem von Gangs beherrschten Slum leben oder weil sie vorbestraft waren und von Nachbarn anonym denunziert wurden. In der Verhaftungswelle ist zudem die Anzahl der Vermissten gestiegen (siehe „Ohne Leiche kein Verbrechen“).

Vor den Gefängnissen und Behörden in der Hauptstadt stehen die Angehörigen Schlange, um etwas über das Schicksal ihrer Verwandten zu erfahren. Marta ist mit ihrer 15-jährigen Tochter aus San Vicente angereist, einem Dorf 100 Kilometer von San Salvador entfernt. Aus Angst vor Repressalien möchte auch sie anonym bleiben. Ihr 22-jähriger Sohn wurde verhaftet, als er – wie jeden Tag – Obst und Gemüse nach San Vicente transportierte. Wie die meisten Verhafteten wurde er wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung angeklagt und ins Gefängnis von Izalco gesteckt.

Die Mutter glaubt, dass ihr Sohn Opfer eines Racheakts wurde, denn er sei „kein schlechter Junge“. Vor ein paar Jahren wurde die jüngste ihrer vier Töchter von einem Pandillero (Gangmitglied) vergewaltigt. Sie zeigte ihn an, und der Täter kam tatsächlich ins Gefängnis. Marta ist sich sicher, dass dieser Mann ihren Sohn denunziert hat, um eine Verkürzung seiner Haftstrafe zu erlangen.

Selbst wenn es ihr gelingen sollte, das zu beweisen, bedeutet das noch lange nicht, dass ihr Sohn freikommt. Die Justizbehörden sind heillos überfordert und verschlampte Akten keine Seltenheit. „Manchmal hat ein Staatsanwalt 300 Fälle zu bearbeiten und nur 5 Minuten pro Fall“, erklärt der Jurist Abrego. Die Leute würden deshalb in Massenprozessen abgeurteilt: „Beim größten Prozess wurden 600 Häftlinge auf einmal verurteilt.“ Marta hat heute einen Termin mit dem Pflichtverteidiger ihres Sohnes, doch er ist noch nicht aufgetaucht. „Manchmal kommt er, manchmal nicht“, erzählt sie. Sie weiß noch nicht einmal, ob ihr Sohn überhaupt noch lebt.

„In einem Krieg gibt es immer unschuldige Opfer und Kollateralschäden“, erklärte Vizepräsident Félix Ulloa am 9. Juli 2022 in der Prensa Gráfica. Und Präsident Bukele interessiert sich sowieso nur für die Mordrate: Geht sie zurück, ist alles gut: „Wir stehen gerade am Ende des sichersten Monats im sichersten Jahr unserer Geschichte“, beglückwünschte er sich selbst am 31. Dezember auf Twitter und verkündete, die Mordrate habe sich 2022 halbiert.

Den Gefängnisinsassen droht er gern mit verschärften Haftbedingungen oder verordnet merkwürdig Strafen. Im November ließ er Gefangene die Grabsteine früherer Gangmitglieder mit Hämmern zertrümmern. Und wehe, solche Maßnahmen werden kritisiert; dann heißt es gleich, man verteidige die kriminellen Banden.

Und obwohl auch das Bitcoin-Gesetz insgesamt auf wenig Begeisterung5 stieß, ist der Präsident erstaunlich populär. Nach der letzten Gallup-Umfrage vom Januar 2023 genießt Bukele die Unterstützung von 92 Prozent seiner Landsleute, das ist das beste Ergebnis aller Staatenlenker in Lateinamerika.6 „Ich bin der coolste Diktator der Welt“, witzelte er im September 2021 und stellte das Zitat in seine Selbstbeschreibung auf Twitter.7 Früher wurden salvadorianische Präsidenten jenseits der Landesgrenze kaum beachtet. Anders Bukele: Er wird von manchen in der Region sogar als Vorbild gepriesen.

In Chile bezeichnete sich der rechte Abgeordnete Gaspar Rivas selbst als „neuen Bukele“, nachdem er am 3. August 2022 seinen Vorschlag zu verschärften Haftbedingungen für Angeklagte vorgestellt hatte. In Ecuador forderte die Bürgermeisterin von Guayaquil, Cynthia Viteri, den Präsidenten Guillermo Lasso dazu auf, Bukeles Politik zu „übernehmen“, um die Unsicherheit im Land zu bekämpfen. Und die honduranische Präsidentin Xiomara Castro verhängte am 25. November ebenfalls den Ausnahmezustand und erklärte damit den Banden den „Krieg gegen die Erpressung“.

Warum aber ist Bukele bloß so beliebt? Er könne seine Überzeugungen eben gut verkaufen, meint der FMLN-Politiker Óscar Ortiz, der von 2014 bis 2019 Vizepräsident unter Sanchez Cerén war. Neben einer messbaren Verringerung der Gewalt vermochte Bukele die beiden zentralen Probleme des Landes jedoch nicht zu lösen: El Salvador wird in diesem Jahr voraussichtlich das schwächste Wirtschaftswachstum in ganz Zentralamerika verzeichnen (1,6 Prozent); und die extreme Armut ist zwischen 2019 und 2021 von 4,6 Prozent auf 7,8 Prozent gestiegen. Die Hälfte der Bevölkerung hat nicht genug zu essen.8

Tatsächlich ist Bukele ein Marketingexperte. Bevor er in die Politik ging, leitete er die Werbeagentur Obermet, die seinem Vater gehört und die unter anderem die Wahlkampagnen für die FMLN gestaltet hat. Jetzt nutzt er seine Kompetenzen als Werber für die Regierungspropaganda. Er überschwemmt Youtube mit Videos in Hollywood-Qualität, twittert ununterbrochen und weiß sich stets effektvoll in Szene zu setzen.

Im September 2019 erregte er großes Aufsehen, als er am Rednerpult vor der UN-Vollversammlung ein Selfie aufnahm, bevor er seine erste Rede hielt. „Die neue Welt befindet sich nicht mehr in dieser Vollversammlung, sondern dort, wo dieses Foto gesehen wird“, erklärte er damals. „Dieses Selfie wird sicher wesentlich öfter angeschaut, als meine Rede gehört wird!“9 Er sollte recht behalten: Das Foto ging um die ganze Welt.

„Laut unseren Studien benötigt Bukele nur 12 Stunden, um in den sozialen Netzwerken des Landes ein Thema zu setzen. Soziale Bewegungen brauchen dafür über 500 Stunden“, erklärt Amparo Marroquín, Kommunikationsforscherin an der Zentralamerikanischen Universität von El Salvador. „Wenn wir über willkürliche Verhaftungen sprechen wollen, werden wir sofort von seinem gigantischen Kommunikationsapparat zermalmt.“

Gleichzeitig weicht Bukele kritischen Fragen der Presse aus. Alle Partei- und Regierungsmitglieder, die wir kontaktiert haben, ließen unsere Interviewanfragen unbeantwortet. „Bukele ist wie eine Marke, die man schützen muss“, erklärte die salvadorianische Botschafterin in Deutschland Florencia Vilanova de von Oehsen auf der Konferenz „Adopting Bitcoin“, zu der sie eine Delegation deutscher „Bitcoiner“ begleitete.

Daher bewirbt Bukele seine „Marke“ auch lieber bei Influencern oder Youtuberinnen, die nur selten unangenehme Fragen stellen. Am 5. März 2021 gab er beispielsweise den beiden mexikanischen Youtubern Luisito Comunica und Bert Oh ein langes Interview. Deren Kanal hat mehr Abonnent:innen als El Salvador Einwohner:innen.

Die Sorge um das eigene Image dient als politischer Kompass. Letztlich ist Bukeles Partei „Neue Ideen“ wie ein leeres Gefäß: Es gibt weder ein Grundsatzprogramm noch konkrete politische Pläne für die Legislatur. „Wenn man das ganze Spektakel außen vor lässt, merkt man, dass diese Regierung nichts im Land verändert hat“, stellt der Wirtschaftswissenschaftler Ricardo Castañeda fest, der am Finanzpolitischen Forschungsinstitut Zentralamerikas (Icefi) arbeitet. Das zeige sich besonders deutlich an der Einführung des Bitcoins, einem Projekt, das von Anfang an zum Scheitern verurteilt war.

Am 6. Juni 2021 hatte Präsident Bukele erklärt, der Bitcoin werde allen Salvadorianer:innen ohne Bankkonto – also 70 Prozent der Bevölkerung – den Zugang zum Finanzsystem ermöglichen. Zudem würden sich die Kosten für die Rücküberweisungen der salvadorianischen Exilgemeinde in den USA, die 2021 immerhin 23 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachten, deutlich verringern.10 Anderthalb Jahre später ist davon nichts zu sehen.

In der Hauptstadt gibt es kaum Geschäfte, die Bitcoins akzeptieren. Nur 2 Prozent der Rücküberweisungen aus den USA erfolgten in Bitcoin.11 Und die Staatsgelder, die die Regierung in Bitcoin angelegt hatte – nach Angaben der Website Nayibtracker.com, die jedoch nicht unabhängig überprüft werden können, waren es 107 Millionen US-Dollar – haben durch den Bitcoin-Crash über die Hälfte ihres Ursprungswerts verloren. „Als hätte man die Wirtschaftspolitik des Landes einem Spielkasino überlassen“, kommentiert Castañeda.

Bereits am 3. November 2022 hat Bukele in einem Interview mit dem US-Journalisten Tucker Carlson auf Fox News zugegeben, dass die Einführung des Bitcoins dazu gedient habe, sein Land einer großen „Rebranding“-Operation zu unterziehen. Doch El Salvador ist kein Supermarkt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Täuschung auffliegt.

1 Siehe etwa Frédéric Lemaire, „Falschgeld Bitcoin. Warum sich Kryptos nicht als Zahlungsmittel eignen“, LMd, Februar 2022; oder Ulrike Herrmanns Kommentar, „Geld ist was anderes“, taz, 26. Dezember 2022.

2 „Más de 60 mil detenidos en ‚guerra‘ contra pandillas en El Salvador“, La Jornada, Mexiko, 13. Dezember 2022.

3 „Bukele invadió la Asamblea Legislativa con fusiles y de la mano de Dios“, Factum, 10. Februar 2020.

4 „Con la ayuda del Parlamento, Bukele ‚limpia la casa‘ en El Salvador“, France 24, 7. Mai 2021.

5 Laut einer landesweiten Umfrage der Universidad Centroamericana (UCA) mit knapp 1300 Teilnehmer:innen vom August 2021 lehnten rund 70 Prozent das Bitcoin-Gesetz ab, siehe Martin Hock, „Holpriger Start für den Bitcoin“, faz.net, 8. September 2021.

6 Siehe „Las políticas de Bukele: una amenaza directa a la democracia“, open democracy, 8. März 2023.

7 „Presidente Bukele dice en Twitter que es ‚el dictador más cool del mundo‘“, El Tiempo, Bogotá, 21. September 2021.

8 UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Eclac), 2022.

9 „Nayib Bukele en la ONU se toma un selfie en el estrado“, Youtube, La Nación Costa Rica, 26. September 2019.

10 Jeanne Dussueil, „Bitcoin au Salvador: ‚Titanic monétaire‘ pour les uns, alternative au dollar pour les autres“, La Tribune, Paris, 7. September 2021.

11 „Especial bitcóin: Las remesas que llegan por la Chivo son menos del 2 %“, El Economista, El Salvador, 12. September 2022.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Anne-Dominique Correa ist Journalistin.