El Salvador: Der «coolste Diktator»

Nr. 39 –

Repression, Chaos, nationaler Notstand: Ein Jahr nachdem Präsident Nayib Bukele den Bitcoin als Landeswährung ausrief, droht der Staatsbankrott.

El Salvadors Präsident Nayib Bukele als Avatar auf eine Leinwand projiziert
Als Avatar: El Salvadors Präsident Nayib Bukele bei der Abschlussparty der «Bitcoin Week» im November 2021, an der er den Plan für die erste «Bitcoin City» der Welt verkündete.
Feuerwerk anlässlich des Auftritt des Präsidenten während der Abschlussparty der «Bitcoin Week»
Mit Pomp und Feuerwerk: Der Auftritt des Präsidenten während der Abschlussparty der «Bitcoin Week».

Teotepeque soll die Zukunft sein. Das behauptet zumindest El Salvadors Präsident Nayib Bukele. Er hat es mit grossem Brimborium bei einem Festival im November vergangenen Jahres angekündigt – mit Rockmusik, Videoanimationen auf riesigen Bildschirmen und einem Feuerwerk. Und mit einer selbstverliebten Rede. Ganz in Weiss stand der 41-Jährige auf der Bühne. Die Baseballkappe mit dem Schild nach hinten, das Hemd mit den akkurat aufgekrempelten Ärmeln, die eng anliegende Hose – alles in Weiss. Der kurz gestutzte schwarze Vollbart kam so noch besser zur Geltung.

In diesem verschlafenen 12 000-Einwohner:innen-Städtchen werde «Bitcoin City» entstehen, ein Eldorado für Kryptounternehmen aus aller Welt. Zu Tausenden, so der Präsident, würden die ins Land kommen, weil in El Salvador der Bitcoin – neben dem US-Dollar – seit einem Jahr ganz offiziell nationale Währung ist. In riesigen Computerfarmen, betrieben mit Strom von Erdwärmekraftwerken am Fuss der nahe liegenden Vulkane, würden neue Bitcoins geschürft. Und weil die neuen Unternehmer:innen, die sich dort ansiedelten, jung sein würden und ihren Spass haben wollten, gibt es für sie einen Strand.

Er ist schwarz von vulkanischer Asche und deshalb glühend heiss und liegt im Ortsteil El Zonte. Surfer:innen sagen, es gebe dort mit die besten Wellen der Welt. Dieser Strand heisst im Jargon des Präsidenten nun nicht mehr El Zonte, sondern «Bitcoin Beach». Klar, dass man dort alles in der Kryptowährung bezahlen kann, von der Cola in der Strandbar bis zum Luxushotel, das ausserhalb des Orts hinter hohen Mauern versteckt liegt. Es nimmt ersatzweise auch 500 Dollar für eine Nacht. Landarbeiter:innen in Teotepeque verdienen in einem Monat nicht einmal die Hälfte davon.

mobiler Glacestand am Strand El Zonte in Teotepeque
El Zonte in Teotepeque heisst jetzt «Bitcoin Beach». Natürlich wird auch das Glace mit der Kryptowährung bezahlt.

Auf dem grossen Schild, das die Abfahrt von der Küstenstrasse zum Strand anzeigt, steht zwar «Bitcoin Beach». Danach aber sieht alles nach El Zonte aus. Die Strasse ist eine Schotterpiste, mit Löchern so tief, dass sich ein geländegängiges Fahrzeug empfiehlt. In der Gosse am Rand dieses Wegs schlafen Betrunkene ihren Rausch aus. Ein paar Hütten aus Bretterwänden und rostigen Wellblechdächern, ein paar Kneipen, die nicht mehr sind als ein Palmstrohdach auf Säulen mit grob gezimmerten Bänken und Tischen darunter. Gekocht wird auf offenem Feuer, der Hygienestandard ist fragwürdig. So sehen viele Strände in El Salvador aus.

Die Unterkünfte für das gute Dutzend Rucksacktourist:innen, die zum Surfen gekommen sind, sind in ähnlichem Stil gebaut: Bretterverschläge mit durchgelegenen Betten, die Gemeinschaftslatrine steht ein paar Meter abseits. Versorgen können sich solche Gäste in kleinen Läden, die in ähnlichen Hütten untergebracht sind. An einem ist ein grosses Schild angebracht: «Wir geben keinen Kredit. Bezahlung ausschliesslich in bar.» Das ist eigentlich illegal. Nach dem Gesetz zur Einführung des Bitcoins muss in El Salvador jeder Laden und jede:r Dienstleister:in, vom Schuhputzer bis zur Luxusboutique, die Kryptowährung akzeptieren.

Ein bisschen Moderne gibt es dann doch in El Zonte. Mitten im Ort steht ein Neubau, das Hotel The Beach Break. Es ist schlicht, quadratisch und weiss, auffällig sind nur zwei Schilder. Ein riesiges rotes Surfbrett mit einem weissen Bitcoinzeichen verkündet, dass die Kryptowährung akzeptiert wird. Warum eigentlich? Kein Schweizer Hotel würde an seine Tür schreiben, dass man mit Schweizer Franken bezahlen kann. Und das zweite Schild: «Zutritt mit Feuerwaffen verboten», verziert mit einer durchgestrichenen Pistole. El Salvador gehört zu den Ländern mit den weltweit meisten Morden im Verhältnis zur Bevölkerung. Hundert Dollar kostet ein Zimmer im «Beach Break»; eines von zwölf ist belegt.

Der Besitzer ist gerade hier. Carlos Marenco ist klein, untersetzt, mit wuchtiger Hornbrille, in T-Shirt, Bermudashorts und mit Flipflops. Er ist 44 und lebt seit 13 Jahren in Los Angeles. Das Hotel ist eine Investition in seine Heimat. «Ab und zu muss man nach dem Rechten sehen», sagt er. «Das hier ist ein Land der Dritten Welt. Nichts funktioniert, wenn du nicht dahinter her bist.»

Bisweilen begleiche tatsächlich ein Gast seine Rechnung in Bitcoins, erzählt er. Hauptsächlich seien es Europäer:innen, die zum Surfen kommen. Gäste aus den USA würden die Kryptowährung nur ganz selten verwenden, Salvadorianer:innen nie. «Vor ein paar Monaten machte ich bis zu zwanzig Prozent meines Umsatzes in Bitcoin», schätzt er. Zuletzt aber habe niemand mehr damit bezahlt. Der Kurs ist auf ein Drittel seines Höchststands gefallen. Wer Bitcoins besitze, gebe sie nicht aus, sondern hoffe auf einen steigenden Kurs. Leitwährung ist nach wie vor der US-Dollar. Ein Zimmer im «Beach Break» kostet immer hundert Dollar und nicht etwa 0,005 Bitcoin. Vor ein paar Monaten genügten noch 0,002 Bitcoin. Fällt der Kurs morgen auf die Hälfte seines heutigen Werts, sind 0,01 Bitcoin fällig. Auch die Inflationsrate El Salvadors von derzeit gut 8 Prozent wird von der Zentralbank nach Dollarpreisen berechnet. In Bitcoin liegt sie bei über 320 Prozent.

Einladung zur Geldwäsche

Die «Bitcoinisierung» El Salvadors war von Anfang an misslungen. Obwohl nur jede:r zweite erwachsene Salvadorianer:in ein Konto bei einer Bank besitzt und viele keinen Strom und kein fliessendes Wasser zu Hause haben, versuchte Präsident Bukele, seinem Volk aufzubinden, mit der Kryptowährung würden sie zum fortschrittlichsten aller Länder. Er hat mit staatlichen Mitteln für über hundert Millionen US-Dollar Bitcoins gekauft, die seither über sechzig Prozent ihres Werts verloren haben. Er hat eine elektronische Geldbörse entwickeln lassen, die sogenannte Chivo Wallet. Wer dieses Programm auf seinem Mobiltelefon installiert, bekommt vom Staat ein Willkommensguthaben im Gegenwert von dreissig Dollar geschenkt. Mit dieser Chivo Wallet kann man theoretisch an Chivo-Kassenautomaten sein virtuelles Bitcoinguthaben in analoge Dollar umtauschen. «Chivo» ist ein salvadorianisches Slangwort. Es bedeutet dasselbe wie das englische «cool», und Bukele bezeichnet sich selbst gerne als den «coolsten Präsidenten», bisweilen auch als den «coolsten Diktator der Welt».

Sein Chivo-System aber ist gar nicht cool. Die Wallet enthält so viele Programmierfehler, dass sie häufig nicht funktioniert und bisweilen auch das virtuelle Guthaben verschwindet. Auch die Kassenautomaten gelten als äusserst unzuverlässig. Augenscheinlich werden sie so gut wie nie verwendet. Auch die Investor:innen, die Bukele mit dem Bitcoin anlocken wollte, kamen nicht. Im Gegenteil. «Statt neue Investoren ins Land zu bringen, wurden jene abgeschreckt, die schon hier sind», sagt Leonor Selva, die Geschäftsführerin des Unternehmerverbands Anep.

Der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank nannten die Bitcoinisierung der salvadorianischen Wirtschaft wegen des instabilen Spekulationswerts der Kryptowährung unverantwortlich. Zudem könnten Mafias das Land ungestört zur Geldwäsche nutzen, weil Finanztransaktionen in Bitcoin kaum nachvollziehbar sind. Solange der Präsident seine Entscheidung nicht rückgängig mache, gebe es keine neuen Kredite. Für bereits laufende muss das Land fast dreissig Prozent Zinsen bezahlen, das Sechsfache des lateinamerikanischen Durchschnitts. Die einflussreichsten Ratingagenturen stuften Anleihen aus El Salvador auf Ramschniveau herunter. Wirtschaftspolitisch gesehen war die Einführung des Bitcoins schlicht eine Katastrophe.

Anfang des Jahres wurde das offensichtlich. Seither steigt die Inflation, das Geld in der Staatskasse wurde knapp, Gesundheitsprogramme wurden gestrichen. In Umfragen nannte die Bevölkerung die Wirtschaftskrise als drängendstes Problem – und nicht mehr, wie seit Jahrzehnten, die vielen Morde. Die Zustimmungswerte des Präsidenten sanken, zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt am 1. Juni 2019. Sein Schein aber ist Nayib Bukele wichtiger als alles andere. Fehler gehören nicht dazu. Was er macht, ist immer gut, immer richtig, immer chivo und cool. Und wenn etwas trotzdem ein Flop ist, erfindet er ein Spektakel, um davon abzulenken.

Beispiellose Repressionswelle

Dieses Spektakel begann am 27. März. An jenem Tag rief der Präsident – nach einem schnellen Parlamentsbeschluss ohne Debatte – für dreissig Tage den nationalen Notstand aus. Seither können Menschen ohne Angaben von Gründen und ohne konkreten Verdacht verhaftet werden. Über 40 000 wurden tatsächlich ins Gefängnis geworfen, in der überwiegenden Mehrheit Männer zwischen achtzehn und vierzig Jahren. Der pauschale Vorwurf, in der Regel ohne Beweise: Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Zuvor sassen in El Salvador gut 30 000 Menschen in Gefängnissen, die für 18 000 Häftlinge ausgelegt sind. Heute drängen sich zum Teil über hundert Gefangene in einer Zelle. Sie müssen in Schichten schlafen, weil der Platz auf dem Boden nicht für alle reicht.

Anlass für diese selbst im autoritären El Salvador beispiellose Welle der Repression war der blutigste Tag seit Jahrzehnten. Am Samstag, dem 26. März, ermordeten Maras 62 Menschen. Maras nennt man die Banden, die den lokalen Drogenhandel beherrschen, flächendeckend Schutzgelder erpressen und sich blutige Revierkämpfe liefern. Sie sind in zwei grossen Verbänden organisiert: in der Mara Salvatrucha 13, kurz MS-13, und im Barrio 18 (B-18), das vor ein paar Jahren in zwei einander bekriegende Teile auseinandergebrochen ist. Insgesamt, schätzt man, haben diese Banden in El Salvador zwischen 60 000 und 80 000 Mitglieder. Anders gesagt: Einer von hundert Einwohner:innen ist Teil des organisierten Verbrechens.

Die Maras wurden von Politikern längst als Machtfaktor erkannt und genutzt. Der frühere Präsident Mauricio Funes (2009 bis 2014) hatte ein geheimes Abkommen mit ihnen geschlossen: Hafterleichterungen, Mobiltelefone und Prostituierte für die Bandenchefs im Gefängnis gegen weniger Morde. Das Geschäft funktionierte, bis es öffentlich wurde und Funes zurückrudern musste. Bukele hatte einen noch weiter gehenden Pakt mit den Maras. Vor der Parlamentswahl im Februar vergangenen Jahres mordeten sie deutlich weniger. Die Bandenchefs bekamen dafür Schutz vor Strafverfolgung zugesichert. Bukele aber galt in der Öffentlichkeit als Mann, der das Mara-Problem in den Griff bekommt, seine Partei gewann bei der Wahl eine Zweidrittelmehrheit.

zwei junge Männer mit einem Motorroller werden von einer Spezialeinheit kontrolliert
Immer die Angst, verhaftet zu werden und zu verschwinden: Vor allem junge Männer werden pauschal verdächtigt, einer Mara – einer Drogenbande – anzugehören.
ein Soldat durchsucht Passant:innen an einem Checkpoint in Tonacatepeque nordöstlich von San Salvador
Der Staat wittert überall Terrorist:innen: Ein Soldat durchsucht Passant:innen an einem Checkpoint in Tonacatepeque nordöstlich von San Salvador. 

All diese Details weiss man, seit der Mitschnitt eines Telefongesprächs zwischen einem hohen Regierungsbeamten und einem Mara-Chef der Internetzeitung «El Faro» zugespielt und von dieser veröffentlicht worden ist. Aus diesem Gespräch weiss man auch, dass dieser Pakt von der Regierung ein Jahr später mutwillig gebrochen wurde: Sie bestellte eine Gruppe von Mara-Führern unter dem Vorwand weiterer Verhandlungen ein – und verhaftete sie stattdessen. Die gezielte Provokation hatte den Blutsamstag vom 26. März zur Folge. Das war absehbar gewesen. Die Maras suchten ihre Opfer rein zufällig aus. Es ging nur um eine möglichst hohe Zahl von Toten. Das wiederum lieferte Bukele den Grund, am 27. März den Ausnahmezustand auszurufen. Er galt zunächst für dreissig Tage und wird seither mit der Parlamentsmehrheit der Präsidentenpartei um jeweils weitere dreissig Tage verlängert. Niemand redet nun mehr vom Bitcoin und von den Wirtschaftsproblemen.

Nayib Bukele war auf das Lostreten der Repressionswelle gut vorbereitet. Er hat mit seiner Parlamentsmehrheit das Verfassungsgericht und den Generalstaatsanwalt entlassen. Das Verfassungsgericht hatte den Präsidenten in seinen ersten beiden Amtsjahren immer wieder mit Urteilen ausgebremst, der Generalstaatsanwalt hatte sich erdreistet, gegen korrupte Regierungsmitglieder zu ermitteln. Stattdessen hat Bukele – entgegen den Vorschriften der Verfassung – selbstherrlich Jurist:innen eingesetzt, die ihm jederzeit zu Diensten sind. Medien, die den Präsidenten kritisieren, werden im Stil Wladimir Putins mit Steuerverfahren überzogen, kritische Journalist:innen wurden mit der Spionagesoftware Pegasus ausspioniert. Viele sind inzwischen im Exil. Genauso wurden Nichtregierungsorganisationen eingeschüchtert. Zudem hat Bukele ein von ihm dirigiertes staatliches Medienimperium aus Zeitungen, Fernseh- und Radiosendern geschaffen, mit dem die wenigen kritischen Stimmen übertönt werden.

Das Volk war zunächst mehrheitlich begeistert. Endlich ging ein Präsident mit harten Bandagen gegen diese Kriminellen vor. Dass er das nicht mit rechtsstaatlichen Methoden machte, störte nur ein paar Menschenrechtsanwältinnen und Journalisten. Bukele wandte sich mit Sondergesetzen gegen sie. Wer etwa Nachrichten verbreitet, die von der Regierung als Mara-freundlich eingestuft werden, kann zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt werden. Kritische Stimmen haben deshalb Seltenheitswert. In den Armenvierteln aber rumort es hinter vorgehaltener Hand. Wer männlich ist, arm und jung, der traut sich nicht mehr auf die Strasse – aus Angst, verhaftet zu werden und zu verschwinden. Ältere fühlen sich an die Zeiten der Todesschwadronen in den siebziger und achtziger Jahren erinnert. Und wie damals fordert Bukele heute zum Denunzieren auf: «Wir brauchen deine Hilfe, um weiterhin Terroristen fangen zu können. Ruf die Nummer 123 an, dein Anruf ist anonym.»

Der Tag, an dem José verschwand

Wie viele junge Männer verhaftet wurden, obwohl sie nie etwas mit Maras zu tun hatten, ist schwer zu schätzen. Niemand hat sie gezählt, aber es gibt unzählig viele Geschichten wie die von Mirna Méndez. Sie ist 32 und wohnt in Tres Marías, einem Weiler aus einem halben Dutzend Häuser in den Bergen im besten Kaffeeland im Westen des Landes. Sie arbeitet als Tagelöhnerin, putzt Wohnungen in Juayúa, dem nächstgelegenen Städtchen. Zu Fuss erreicht sie es in zwei Stunden, mit dem Motorrad schafft man es in einer halben. Ihr Mann José Cruz, als Gärtner ebenfalls Tagelöhner, besitzt eines und hat jeweils an einem Tag sie, am nächsten den sechzehnjährigen Sohn und am dritten die zehnjährige Tochter mitgenommen. Beide besuchen in Juayúa die Schule. Derzeit gehen alle drei jeden Tag zu Fuss. José Cruz sitzt im Gefängnis, und ausser ihm hat in der Familie niemand einen Führerschein.

Mirna Méndez ist klein und kompakt, hat ein rundes Gesicht und glänzend schwarzes, langes Haar. Man sieht ihr die indianische Abstammung an und auch die Armut. Sie spricht, wie die meisten Armen vom Land in El Salvador sprechen: leise, ohne Schnörkel, nur das Nötigste und meist mit gesenkten Lidern. Es war am 20. Juni. Da kam José nicht von der Arbeit nach Hause. «Ich habe ihn immer wieder angerufen, und er hat nicht geantwortet. Schliesslich nahm er ab und sagte, er sei auf der Polizeiwache in Juayúa.» Man habe ihn angehalten und mitgenommen, das Motorrad blieb auf am Weg zurück. «Ich habe den Motorradschlüssel abgeholt und seinen Rucksack und ihn noch einmal von ferne gesehen.» Seither weiss sie nicht mehr mit Sicherheit, wo er ist. Bei der Polizei erfuhr sie, er sei zunächst in die Provinzhauptstadt Sonsonate und dann ins völlig überbelegte Gefängnis von Mariona am Rand der Hauptstadt San Salvador gebracht worden.

Mirna Méndez war nie in San Salvador. Mit dem Bus sind das von Juayúa aus drei Stunden, hin und zurück kostet es sechs Dollar. Sie muss jeden Cent umdrehen. Ihr Einkommen allein reicht nicht, um sie und die beiden Kinder durchzufüttern. Sie ist auf die Hilfe der Familie angewiesen. Trotzdem ist sie nach Mariona gefahren und hat dort gut tausend weitere Frauen angetroffen, die nach ihren Männern oder Söhnen suchten. Man hat ihr gesagt, sie müsse «das Paket» kaufen und an der Pforte abgeben: einen Plastiksack, in dem eine Zahnbürste und Zahnpasta sind, Waschmittel und Seife, dazu eine weisse Sporthose und ein weisses T-Shirt – die übliche Häftlingskleidung in El Salvador. Dieses Paket wird von autorisierten Läden rund um die Gefängnisse verkauft. Es kostet siebzig Dollar. Mirna Méndez hat es gekauft und abgegeben. Sie weiss nicht, ob ihr Mann in Mariona einsitzt, geschweige denn, ob das Paket bei ihm angekommen ist. «Ich weiss nicht, ob er Hunger hat oder krank ist. Ich weiss nicht einmal, ob er noch lebt.»

Menschen auf einer Ladefläche bei einem Gefangenentransport in San Salvador
Im März wurden 50 000 Personen verhaftet: Gefangenentransport in San Salvador.
Menschen warten vor dem Gefängnis von Izalco, um ihren Verwandten notwendige Dinge zu bringen
Siebzig Dollar für das «Paket»: Menschen warten vor dem Gefängnis von Izalco, um ihren Verwandten notwendige Dinge zu bringen. Ob diese sie erhalten, ist unklar. 

Sie hat ein polizeiliches Führungszeugnis ihres Mannes besorgt. Es war ohne jeglichen Eintrag. Sie hat Schreiben beschafft von den Leuten, denen er den Garten pflegte und die alle mit ihm zufrieden waren. Sogar der evangelikale Pfarrer des Nachbarorts hat ihr einen Empfehlungsbrief geschrieben. Sie hat das alles dem öffentlich bestellten Verteidiger gegeben und nie wieder etwas von ihm gehört. «Mit Maras hat José nie etwas zu tun gehabt», sagt sie. «Es gibt keine Maras in Tres Marías.» Anfang August aber kam die Polizei in ihr Haus und hat alles auf den Kopf gestellt. «Sie sagten, hier seien Waffen versteckt. Aber sie haben nichts gefunden.» Mirna Méndez kennt andere Frauen, denen es genauso ergeht und die auch nicht wissen, wie sie über die Runden kommen sollen. Protestieren wolle keine – aus Angst, dann selbst verhaftet zu werden. «Das ist ein Krieg gegen die Armen.»

Neubau für 40 000 Häftlinge

Zaira Navas kennt unzählige solche Fälle. Sie ist Anwältin bei Cristosal, einer der letzten Menschenrechtsorganisationen, die den Präsidenten öffentlich kritisieren. Cristosal betreut 2500 Verhaftete. Es gehe Bukele nur darum, täglich Erfolgszahlen vorweisen zu können, sagt Navas. So gebe es Quoten für jede Polizeidienststelle, wie viele Verhaftete vorzuweisen seien. Polizisten haben das bestätigt – und wurden daraufhin strafversetzt. «Es gibt Tausende von Angehörigen, die auch nach Monaten nicht wissen, in welchem Gefängnis ihre Verwandten einsitzen», sagt Navas. Nach zwei Wochen Haft finden zwar die gesetzlich vorgeschriebenen Anhörungen statt. Aber ein Richter verhandle an einem Tag bis zu tausend Fälle. Mehr Zeit, als die Namen zu verlesen, bleibt da nicht. Danach kommen alle in Untersuchungshaft, wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. «Von den 2500, die wir betreuen, kamen 3 nach dieser Anhörung frei», sagt Navas. «Wir wissen nicht, warum.»

In den Zellen sei es so eng, dass die Gefangenen «selbst um die Luft zum Atmen kämpfen». Es komme immer wieder zu Unruhen, die von den Wärtern mit Prügeln und Tränengas unterdrückt würden. Mindestens 65 Tote habe es bereits gegeben, darunter solche, deren Verletzungen eindeutig auf Folter hinweisen. Man wisse das nur von Beerdigungsinstituten, offizielle Meldungen gibt es nicht. Alles unterliegt der Geheimhaltung.

Spätestens im Januar nächsten Jahres werden die Wirtschaftsprobleme wieder aus der Versenkung auftauchen. Dann muss El Salvador 800 Millionen US-Dollar Schulden begleichen. Einen neuen Kredit dafür wird es nicht geben. Bukele hat zwar schon vor Monaten angekündigt, er werde eine Bitcoinanleihe im Gegenwert von einer Milliarde Dollar auflegen, aber er hat sie nie platziert. Wahrscheinlich weiss er inzwischen, dass niemand diese Papiere kaufen würde. So droht dem Land im Januar der Staatsbankrott. Um Unruhen vorzubeugen, wird dem Präsidenten die jetzt eingeübte Repression nützlich sein.

Bis dahin aber gibt er weiterhin kräftig Geld aus. Sein neustes Projekt ist ein Gefängnis für 50 000 Häftlinge. Es wird schon gebaut, obwohl es nie eine öffentliche Ausschreibung gab. Niemand weiss, wie viel es kosten soll – und also auch niemand, wie viel Geld eventuell verschwindet. Alles unterliegt der Geheimhaltung. Der nationale Notstand rechtfertigt das.

Luftaufnahme eines im Bau befindlichen Gefängnis in Tecoluca
Platz für 40 000 Insass:innen: In Tecoluca wird derzeit ein neues Gefängnis errichtet, obwohl es nie eine öffentliche Ausschreibung dafür gab.

Drei der vier Präsidenten vor Bukele wurden nach ihrer Amtszeit wegen Korruption verfolgt. Mauricio Funes (2009 bis 2014) soll mehr als 300 Millionen Dollar unterschlagen haben. Er floh nach Nicaragua ins Exil. Bei Antonio Saca (2004 bis 2009) waren es ziemlich genau 300 Millionen. Er sitzt heute im Gefängnis. Francisco Flores (1999 bis 2004) wurde wegen ein paar Dutzend Millionen angeklagt. Er erlitt während des Prozesses einen Herzinfarkt und starb. Als erste Korruptionsskandale der Regierung Bukele öffentlich wurden, hat der Präsident den Generalstaatsanwalt gegen einen Lakaien ausgetauscht. Alles, was mit Geld zu tun hat, unterliegt seither der Geheimhaltung.

Aber Bukele ist jung, und es wird eine Zeit nach seiner Präsidentschaft geben. Bei Funes, Saca und Flores konnte man den Weg der Dollars aus der Staatskasse in private Schatullen verfolgen. Damals gab es keine Bitcoins, mit denen Finanztransfers verschleiert werden konnten.

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