Vom Santani-See zum Nimburan

Le Monde diplomatique –

Unterwegs in West-Neuguinea

Auf der Insel Aseh
Auf der Insel Aseh Foto: KATHARINA DÖBLER

Schon die Frage, wie dieses Land heißt, ist schwer zu beantworten. Die einen sagen, es ist gar kein Land. Andere sagen, es ist ein halbes Land. Es gehört offiziell zu Indonesien, es ist die Hälfte der zweitgrößten Insel der Welt, der westliche Teil Neuguineas, durch eine vor 140 Jahren gezogene schnurgerade Grenze getrennt von dem eigenständigen Staat Papua-Neuguinea (Papua Niugini, PNG). „West-Papua“ sagen die, die von einem vereinten Papua träumen: eine Insel, ein Staat. Aber offiziell gilt die Bezeichnung Westpapua für die indonesische Provinz Papua Barat, eine von mittlerweile sechs Papua-Provinzen, die einen speziellen Autonomiestatus haben.

Die Provinzen im Westteil Neuguineas sind immer mehr geworden. Nach dem endgültigen Abzug der niederländischen Kolonialmacht und der Übergabe des Territoriums an Indonesien 1963 hieß der gesamte Westteil zunächst Irian Jaya; dann wurden zwei Provinzen daraus, dann drei, und seit 2022 sind es sechs: Papua, Hochland-Papua, Südpapua, Zentralpapua, Südwestpapua, Westpapua. Auch die untergeordneten Verwaltungseinheiten wurden immer kleiner. Ursprünglich gab es in diesem Gebiet Hunderte von Sprachen, entsprechend viele Ethnien, unterschiedliche Kulturen.

Heute sprechen fast alle hier Indonesisch, die Verkehrssprache des riesigen Gebiets, das aus Niederländisch-Ostindien hervorgegangen ist. Und sie nennen ihr Land, das keines ist, Tanah Papua. Heute darf man es wieder aussprechen, singen und schreiben, nachdem es jahrzehntelang verboten war: Land Papua. Es kann aber auch einfach Territorium der Papuaner bedeuten, was politisch unverfänglicher ist. Das indonesische Tanah bedeutet Gebiet, Territorium, Land. Die Fahne von Tanah Papua aber, mit dem weißen Morgenstern auf rotem Grund, darf nicht gezeigt werden.

Im Februar 2023 entführten Kämpfer der West Papua National Liberation Army (TPNPB) in Nduga, im abgelegenen Hochland, einen neuseeländischen Piloten. Es war ein weiterer Versuch, die Regierung in Jakarta zu Verhandlungen zu zwingen. Die Fotos der Gummistiefel-Guerilleros gingen um die Welt, die einen mit Waffen, andere mit traditionellem Schmuck und Bemalung, in ihrer Mitte ein dünner weißer Mann.

In Indonesien werden die Papuaner immer wieder als Affen bezeichnet, was umgekehrt einige von ihnen veranlasst, sich offensiv als Wilde zu präsentieren – nicht nur auf dem Entführungsfoto, sondern sogar vor Gericht: Bei einem Prozess im Januar 2020 gegen fünf Männer und eine Frau, Studierende, die bei einer Antirassismus-Demonstration die Morgensternfahne mitgeführt haben sollen, erschienen zwei der Männer mit nichts als Penisköchern und Kopfschmuck bekleidet. Und mit dem Wort MONKEY auf der Brust. Das Gericht bestand auf Hosen, bevor es die Urteile verkündete: neun Monate Gefängnis.

Wenn man am Flughafen Sentani ankommt, springt einem als Erstes eine große, sehr große Moschee ins Auge. Als Zweites der Rohbau einer Kirche, schräg gegenüber, von ebenso gigantischen Ausmaßen. Die Stadt Sentani ist eine Hinterlassenschaft des Pazifikkriegs, entstanden rund um den Luftwaffenstützpunkt der Japaner und ab 1944 der U.S. Air Force. Heute erstreckt sie sich entlang der Straße, die hinunter zur Küste und zur Hauptstadt Jayapura führt.

Vor 100 Jahren hieß Jayapura noch Hollandia und hatte ein einziges Steinhaus aufzuweisen, in dem der Gezaghebber residierte, der Chef der niederländischen Kolonialverwaltung für das Gebiet. Die übrigen Gebäude waren bloße Holzhütten: die Schule, die Kirche, der Laden eines Chinesen, die Hafenanlagen, die aus ein paar Schuppen bestanden. Jayapura lag am östlichen Ende des niederländischen Kolonialreichs. Heute ist es die östlichste Stadt Indonesiens, 3800 Kilometer entfernt von Jakarta. In den Buchten und an den Berghängen leben etwa 800 000 Menschen, offiziell; in Wahrheit dürften es sehr viel mehr sein. Niemand zählt sie.

Zentrum von Jayapura
Zentrum von Jayapura Foto: KATHARINA DÖBLER

Wo heute der Flughafen liegt, gab es einst eine Ansammlung von Dörfern, die sich von den Ausläufern des Cyclop-Gebirges bis in den Sentanisee hinein erstreckten, buchstäblich. Noch heute stehen die Häuser direkt am Ufer auf Pfählen im Wasser.

Verlässt man die Hauptstraße und folgt Wegen zwischen hohen Bäumen, findet man sie noch, die Dörfer. Dabei kommt man durch eng parzellierte Siedlungen, in denen vor allem indonesische Migranten leben: kleine Betonhäuser unter Wellblechdächern, dicht an dicht, davor entlang der Straße Garküchen, Handyshops, Buden mit Gemüse, Gummischlappen, Bananen.

Hinter der letzten Kurve liegt das Dorf von Herrn Kopeuw. Er ist 97 Jahre alt und hört schlecht. Vielleicht liegt es an den Flugzeugen, die über das Dorf hinwegdonnern, es ist eine Heimsuchung, wenn so ein schimmernder Rumpf knapp über die hohen Matoa-Bäume zieht, die Luft dröhnt und die Erde zittert.

Kopeuw hat hier schon gewohnt, bevor die Flugzeuge kamen; als die Niederländer noch das Sagen hatten. Er hat erlebt, wie die Japaner kamen, die Bomben fielen, die Amerikaner kamen, die Niederländer zurückkamen und alle wieder gingen und die Indonesier kamen – und blieben. Wie die Flugzeuge.

Seine Nichte Agustha erzählt von den Familienfesten hier in den Dörfern, bevor es die großen Straßen gab und die Menschen tagelang zu Fuß und mit Booten unterwegs waren, von einem Dorf zum andern, beladen mit Proviant. Noch in den 1970er Jahren war es so.

Lange her. Wir haben ein Auto, das dem Mann der Cousine der Nichte von Kopeuw gehört. Ohne das geht es nicht, es gibt keinen öffentlichen Nahverkehr in Tanah Papua. Fernverkehr auch nicht, wenn man von den klapprigen Fähren absieht, die zweimal in der Woche in Jayapura anlegen und jedes Mal ein paar hundert Menschen aus dem übervölkerten Java oder dem ökologisch verwüsteten Kalimantan in ihre papuanische Zukunft entlassen. Inzwischen kommt fast die Hälfte der Bevölkerung Tanah Papuas von außerhalb.

Viele leben in den zwischen dem Meer und dem Sentanisee verstreuten Vororten von Jayapura. Wie Waena, an der Hauptstraße gelegen und zum großen Teil in der Hand der Katholiken: ein großes Krankenhaus, Schulen, Ausbildungsstätten, Sportvereine, Nachbarschaftsorganisationen. Ich wohne neben einer Familie aus dem Hochland, die Schweine hält, ganz wie zu Hause, und bekomme die langen, lautstarken Messen mit, die gelegentlich von Gebetsrufen aus den Moscheen übertönt werden. Hier leben sie alle nebeneinander: die Orang Gunung (wörtlich: Bergmenschen) aus dem Hochland, die Orang Pantai (Küstenmenschen) und die Datang (Angekommene) – Indonesier mit ihren Läden und Lädchen.

Zu Fuß bewegen kann man sich hier kaum, ein Mensch ohne Motor ist nichts im Großraum Jayapura, der Verkehr ist mörderisch. Und das wortwörtlich: Tausende sterben nach Unfällen, Motorradfahrer ohne Helm und ohne Licht, viel zu viele davon, auf viel zu engen Straßen.

Unweit von Waena, direkt am See, liegt Yoka. Es markiert die Grenze zwischen Jayapura und dem Sentanigebiet, ein Vorort mit dörflichem Charakter, verfallen, vernachlässigt, ein Ort mit kurzer Vergangenheit und wenig Zukunft. Wir treffen uns mit dem ältesten Einwohner: Sem Okoku kam Anfang der 1930er Jahre her, da war Yoka gerade als Missionsstation gegründet worden, in der einheimische Prediger und Lehrer ausgebildet wurden. Sems Vater war einer von ihnen. Neben dem Seminar gab es eine Rinderfarm, eine große Kirche, eine Schule und irgendwann auch einen Radioapparat.

Auf den alten Fotos sieht Yoka aus wie eine typische koloniale Anlage, adrett, mit gestutztem Rasen und geraden Zäunen.

Von alledem ist nichts mehr übrig, außer einer großen Eisenplatte mit sechs kreisrunden Löchern, die auf einem müllübersäten Grundstück herumliegt, Überreste der Seminarküche. Wir bringen Betel mit, die Nüsse, dazu Blätter und Kalk zum Mischen, die Alltagsdroge. Wir werden ausgefragt nach dem deutschen Missionar, der früher hier war, ein paar Leute gesellen sich dazu, alle kauen Betel, die Münder rot vom Saft.

Ein Künstler ist dabei, der wunderschöne psychedelische Fische zeichnet, aber leider sind die Kolorierer nicht da, und niemand weiß, wann und ob sie überhaupt zurückkommen. So ist es hier oft: Man ist nicht da, und niemand wundert sich. Ich frage Sem, wie es war, als die Indonesier hierherkamen, er sagt, er und seine Familie seien gerade nicht da gewesen. Damals, 1962 und danach, wurden Menschen aus ihren Häusern gezerrt, geschlagen, verhaftet, vertrieben. Sem will darüber offenkundig nicht sprechen.

Es gibt zwei Gebäude in Yoka, die ziemlich neu und bestens in Schuss sind: die evangelische Kirche und die Aidsklinik. Letztere ist ein Ergebnis der gegenwärtigen Befriedungspolitik durch Indonesiens Präsident Joko Widodo.

Fährt man von hier hinunter zur Küste, kommt man durch Kota Raja, was Königsstadt bedeutet, oder auch Fürstentum. Der prächtige Name stammt von einem deutschen Pflanzer namens Brinkmann, der nach dem Ende der deutschen Kolonie Kaiser-Wilhelmsland hierherkam und eine neue Kaffeeplantage gründete. Heute ist Kota Raja eine Vorstadt, und sie hat etwas Provisorisches, mit besseren und schlechteren Ecken, jedenfalls nichts Fürstliches.

Prächtig auch hier nur die strahlende Moschee, stattlich die Kirche gegenüber. Ansonsten die allgegenwärtigen Warungs und Tokos, die Restaurants und kleinen Läden der Datang, dazwischen ab und zu ein Stück Stoff auf der Erde, mit Früchten und Betelnüssen. Das ist es, was die Papuafrauen verkaufen. Hier ist es ist wie an anderen Orten, die von Weißen errichtet oder gegründet wurden und um die sich nun entwurzeltes Leben kristallisiert: ungeordnet, ein Dock der Hoffnung.

Es ist die alte Geschichte der Zuwanderung in die Städte, wo es für Landbewohner ungewohnte Arbeit und viel zu beneiden gibt. Der Druck in diesen Straßen wächst, die Zahl der Menschen, die Unsicherheit, die Gewalt. Es ist eine Welt, die offensichtlich nicht von Papua gemacht ist, und, obwohl es die alten wie die neuen Kolonialherren seit jeher behaupten, auch nicht für sie. Wenn Agustha, die Nichte des alten Kopeuw vom Sentanisee, die Zustände in der Stadt benennt, sagt sie, hier gebe es sehr viel Konkurrenz. Ihr Ton lässt keinen Zweifel daran, dass das nichts Gutes ist.

In der traditionellen Lebensweise gab es keine Städte, sondern allenfalls Siedlungsgebiete, miteinander verbundene Dörfer. Hier hatten die Leute ihre Gärten, die ihnen alles boten, was an Nahrungsmitteln gebraucht wurde, und zum Teil ist es heute noch so. Was sonst noch nötig oder gewünscht war, wurde getauscht, wie etwa Tabak, Salz und Kalk, wobei es feste Handelsrouten gab; als Zahlungsmittel galten Kaurimuscheln oder die allgegenwärtigen Schweine. Aber solche Geschäfte zielten nicht darauf ab, Gewinn zu machen oder das Gegenüber möglichst zu übervorteilen; sie waren vor allem ein soziales Ereignis, eingebettet in Begegnungen. Konkurrenz ist in unserer Vorstellungswelt das Lebenselixier gesunder Märkte. Hier ist sie eine Bedrohung gesunder sozialer Beziehungen. Und um Beziehungen dreht sich hier eigentlich alles.

Sie haben auch mich hierhergebracht. Weil meine Vorfahren hier gelebt haben und einmal, vor fast 100 Jahren, mit den Vorfahren der Kopuews ein Tauschgeschäft gemacht haben: drei Schweine gegen einen Lehrer der Mission. Der Handel war erfolgreich, wie man an den vielen Kirchen der Gegend sehen kann.

Meine Fahrten mit Agustha, der Nichte, im Auto des Mannes der Cousine, begleitet von der Cousine selbst, manchmal auch von Agusthas Ehemann, dem ein oder anderen Neffen und sonstigen Verwandten, sind Bewegungen innerhalb eines Netzwerks. Überall gibt es jemanden zu begrüßen, undurchschaubare Verwandtschaftsgrade zu würdigen, zu essen, zu trinken und sich von Cousin zu Cousin weiterreichen zu lassen. Die Verbundenheit der Familie, des Clans, des Stammes sind die Grundlage für alles: für Politik, Religion, selbst für die Aktivitäten von Umweltgruppen.

Wie diese Beziehungen traditionell funktionieren, dazu gibt es präzise Schaubilder – und sie stammen nicht von Ethnologen. Auf Aseh kann man sie sehen: Die winzige Insel im Sentani ist ein tropisches Lummerland mit nur einem Berg, auf dem – was sonst – eine Kirche steht. Ein Weg führt in Spiralen hinauf. Die Kirche ist schön und bunt, mit Blumen geschmückt. Unten im Wasser stehen die Häuser, mit Ornamenten an den Türen, ein halbwüchsiges schwarzes Schwein promeniert einsam zwischen den Häusern. Später schlendert noch ein älteres mit zwei Ferkeln über den Hauptplatz am Bootsanleger.

Dann kommt Odeh, der Zeremonienmeister oder Kulturbeauftragte der Insel vorbei und erklärt, was die auf feinen gefilzten Rindenbast gemalten Zeichen – Spiralen, Spitzen, Kreise in geometrischer Anordnung – ursprünglich bedeuteten: Familienwappen, die an Häuser und Boote gemalt wurden, damit man draußen auf dem See schon von Weitem wusste, mit wem man es zu tun hat; aber auch Selbstdarstellungen der Dorfgemeinschaft, in der jede Familie ihre Zuständigkeit hatte. Nie habe ich ein schöneres Organigramm gesehen.

Wir entfernen uns immer weiter von der Hauptstadt, die Vegetation wird üppiger, das Auto des Mannes der Cousine voller. Bei Jakonde verlassen wir das Seeufer, von hier geht es hinauf zur Hochebene, das Gebiet des Grime-Stammes. An der Abzweigung ein militärischer Kontrollposten, verlassen. Noch vor wenigen Jahren hätte ich eine Sondererlaubnis gebraucht, um ihn passieren zu dürfen.

Es ist friedlicher geworden, seit Präsident Widodo mit vielfachen Infrastrukturprogrammen Geld in Tanah Papua verteilt, jedenfalls an der Oberfläche. Aber immer wieder werden bei Demonstrationen und Protesten Menschen getötet, und jede öffentlich geäußerte Kritik – etwa an der ungeregelten Zuwanderung aus Indonesien oder am allgegenwärtigen Rassismus gegenüber den Papua – ist gefährlich.

Die Neuaufteilung der Provinzen im vorigen Jahr ist Teil einer Befriedungspolitik, die 2001 mit der „speziellen Autonomie“1 begann. Der Papua-Rat (Presidium Dewan Papua, PDP) hatte das Autonomiegesetz von Anfang an abgelehnt. Kurz nach seiner Verkündung wurde die Leiche des Ratsvorsitzenden Theys Eluay, der aus Sentani stammte, in Jayapura gefunden, ermordet von Kopassus, einer Spezialeinheit der Armee.

Die jüngste Aufteilung zielt darauf ab, notorisch unruhige Gebiete wie das zentrale Hochland zu isolieren. Auch die kommunalen Verwaltungseinheiten, die direkte Geldempfänger der Zentralregierung sind, wurden verkleinert und vermehrt. Die Ausgliederung des Hochlands aus der Provinz Papua ist vielen Küstenbewohnern durchaus willkommen, denen die Zuwanderung der Gunung in die Städte missfällt. Sie wollen Distanz zu den als rückständig geltenden „Wilden aus dem Wald“. Teile und herrsche, das alte koloniale Machtinstrument, hier funktioniert es wie im Lehrbuch.

Im Hochland ist die Tradition tatsächlich noch lebendig, hier schlägt das rebellische Herz von Tanah Papua. Hier tragen die Infrastrukturprojekte der indonesischen Regierung wie der Straßenbau keineswegs zur Beschwichtigung bei, denn sie dienen in erster Linie dem, was man euphemistisch wirtschaftliche Erschließung nennt. Eine Straße durch die Berge ist Voraussetzung für den Abtransport des Tropenholzes, für den Abbau von Kupfer und Gold – der seit 50 Jahren in gigantischen Tagebauminen stattfindet –, und letztlich für die Enteignung des Landes. Deshalb werden Baustellen immer wieder von der sogenannten Rubber Boot Guerilla angegriffen.2

Aber nicht nur ihretwegen kommt der Straßenbau nicht voran. Der scheitert wie viele andere Projekte auch an der endemischen Korruption.

Seit 1969 geht in Tanah Papua nichts ohne das indonesische Militär, das die Finger in allen Geschäften hat, durch systematische Bestechung oder direkte Beteiligung. Diese Mafia von Staates Gnaden findet ihre Geschäftspartner in Lokalpolitikern, oft auch einheimischen Chiefs, die das Geld, das in die Provinzen, Distrikte und Gemeinden fließt, an ihre Familien und Günstlinge verteilen. So kommt es zu bizarren Erscheinungen wie einem perfekten Stück Autobahn im Wald, mehrere Kilometer lang, weit entfernt vom nächsten größeren Ort. Die Strecke davor und dahinter ist voller Löcher, gesprenkelt mit Fragmenten einer einstigen Betonpiste. Der Chef des zuständigen Bauamts landete wegen Korruption im Knast.

Im Nimboran, einem weiten Hochtal in der Provinz Papua, hat die sogenannte Transmigrasi-Politik Indonesiens3 deutliche Spuren hinterlassen. Die Regierung in Jakarta hat an Kolonisten Land und Geld verteilt, dazu Häuser in militärisch bewachten Siedlungen. Nimbokrang heißt das kolonisierte Gebiet auf Indonesisch. Militärposten gibt es immer noch, hin und wieder sind Soldaten zu sehen, kontrolliert werden wir nicht. Die Siedlungen mit ihren Häusern in Reih und Glied wirken wie städtische Fremdkörper in dieser Landschaft – die allerdings schon stark verändert ist. Überall wird Wald abgeholzt für Palmkulturen, die von Indonesien gefördert werden.4

Häuser im Wasser, Organigramme auf Bast

Das Land gehört hier zu den Familien, und die Familien gehören zum Land. Das ist weniger ein Besitzverhältnis als eine Verbundenheit – eine weitere, nicht menschliche, im Beziehungsnetz von Tanah Papua.

Am Rande eines Dorfes in den Hügeln betreibt Alex Waisimon ein Lodge, genutzt von Ornithologen, Ethnologen, Abenteuertouristen. Ein weitläufiges Gelände mit weitgehend traditionell gebauten Holzhäusern auf Pfählen, wegen der regelmäßigen heftigen Regengüsse. Alex ist sehr viel mehr als ein Gastwirt: Er beschützt den Wald. Um das Land seiner Familie musste er kämpfen, und da es nicht von Indonesiern bewirtschaftet war, jedenfalls nicht offiziell, bekam er es auch zugesprochen.

Viele im Dorf – und selbst in der eigenen Familie – sind ganz und gar nicht glücklich darüber, dass Alex den illegalen Holzschlag unterbunden hat. Denn das Geschäft blühte, wenn man es so nennen will: Unter den wohlwollenden Augen der Militärs bekamen die illegalen Holzfäller 20 US-Dollar für einen Stamm harten Tropenholzes und mehrere Tage schwerer Arbeit. Den Weiterverkauf besorgten die Offiziere.

Alex Waisimon gilt als verrückt, und er pflegt dieses Image, indem er zu Behördenterminen in dreckigen Klamotten erscheint und überall verbreiten lässt, er würde jeden totschlagen, den er in seinem Wald erwischt. Er erzählt das mit einem breiten Grinsen. Er erzählt auch, wie er sich mit dem Militär angelegt hat. Über einen Mittelsmann in Jakarta ließ er mehrere Offiziere anzeigen, die schließlich wegen illegalen Holzschlags und Korruption verurteilt wurden. Es gab Drohnenaufnahmen, von wem auch immer, Zeugenaussagen gab es nicht.

Wie sich herausstellt, ist auch Alex Teil des Netzes, in dem ich mich seit meiner Ankunft bewege: Er ist mit der Nichte des alten Kopeuw irgendwie verschwägert, weitläufig, und beide sind in derselben Umweltgruppe aktiv. Agustha sammelt jeden Fetzen Plastik auf, der in der Natur herumliegt, eine Sisyphusaufgabe in einem Land, in dem es praktisch keine Müllabfuhr gibt. Nachts liegt über Waena, wo ich während meines Aufenthalts meistens wohne, der Geruch von brennendem Plastik, Leute verbrennen ihren Müll. Und oft singen sie dabei herzerweichend schöne Lieder.

Im Auto des Mannes der Cousine singen wir auch. Es ist der Pancasila-Tag, an dem die fünf Säulen der indonesischen Nation5 gefeiert werden. Ano ist mit dabei, der 2001 gegen die spezielle Autonomie protestiert hat, mit der Morgensternflagge. Er saß dafür ein Jahr im Gefängnis.

Wir fahren an vielen Kirchen vorbei, von Agustha stets darauf hingewiesen: Kirche ist wichtig, sie bedeutet Schutz, Bildung, ein gewisses Maß an offiziell anerkannter Selbstorganisation. Und sie stiftet Gemeinsamkeit der Papua gegenüber den islamischen Kolonialherren. Ich frage vorsichtig, was ihnen der Pancasila-Tag bedeutet. Die Antwort ist vor allem – Schweigen. Es ist nicht ihr Feiertag. Sie beten für Papua Merdeka, die Freiheit Papuas. Und Beten ist etwas, das das erste Prinzip der Pancasila ausdrücklich billigt.

Wir wollen auf einen Berg oberhalb des Sentani, von dort sieht man weit über den See, fast bis zur Grenze mit Papua Niugini, jedenfalls bei gutem Wetter. Am Militärposten ist die Schranke heruntergelassen. Ausweiskontrolle. Agustha spricht mit dem Posten, nie habe ich sie so vorsichtig, so überhöflich erlebt. Wir müssen umkehren. Die Bergkuppe ist Militärgebiet, und heute, zur Feier des Tages, wird dort geschossen.

1Gesetzestext abrufbar bei Refworld, UNHCR, 22. Oktober 2001.

2 Philippe Pataud Célérier, „Westpapua erhebt sich wieder“, LMd, Dezember 2019.

3 Philippe Pataud Célérier, „Die Papua unter indonesischer Herrschaft. Der unbekannte Genozid“, LMd, Februar 2010.

4 Zum Palmölanbau vgl. Sophie Chao, „In the Shadow of the Palms“, Durham (Duke University Press) 2022.

5 Das sind: die All-Eine Göttliche Herrschaft (gültig für alle 5 anerkannten Religionen), Humanität, Nationale Einheit, Demokratie und Soziale Gerechtigkeit.

Katharina Döbler ist Autorin des historischen Neuguinea-Romans „Dein ist das Reich“, Berlin (Claassen) 2021.

© LMd, Berlin

Was wann geschah

1828 Die Niederlande hissen ihre Flagge in West-Neuguinea.

1885 Aufteilung Neuguineas unter die Kolonialmächte Niederlande, Deutschland und Großbritannien.

1923 Holländische Siedlungspläne, die jedoch scheitern.

1927 Errichtung eines holländischen Konzentrationslagers auf Neuguinea für indonesische Unabhängigkeitskämpfer.

1942 Invasion japanischer Truppen an der Nordküste.

1944 Landung der US-Streitkräfte, Übernahme des Flughafens Sentani.

1945 Rückkehr der Niederlande in ihr altes Kolonialgebiet.

17. August 1945 Indonesien erklärt seine Unabhängigkeit von den Niederlanden.

1945-1949 Unabhängigkeitskrieg in Indonesien, West-Neuguinea bleibt unter niederländischer Herrschaft.

1960 New Guinea Council unter Regie der Kolonialverwaltung zur Vorbereitung der Unabhängigkeit West-Neuguineas 1970.

Dezember 1961 Hissen der Morgensternflagge; Aufstände gegen die Niederländer.

1962 Kämpfe zwischen indonesischen und niederländischen Truppen in Westguinea.

15. August 1962 New Yorker Abkommen, das West-Neuguinea bis zu einem Referendum 1969 Indonesien unterstellt; Abzug der Kolonialmacht.

1963 West-Neuguinea wird zur indonesischen Provinz Irian Jaya. Vertreibungen der Papua aus ihren Dörfern und ihrem Land; Gründung der Unabhängigkeitsbewegung Organisasi Papua Merdeka (OPM).

1967 Sturz des indonesischen Präsidenten Sukarno, gefolgt von Terror des Militärs und Massakern an angeblichen Kommunisten; Beginn der Suharto-Diktatur; Bergbaukonzession für den US-Konzern Freeport im Hochland von Irian Jaya; anhaltende Aufstände, Proteste und Guerillaaktivitäten, vor allem im Hochland, aber auch in Jayapura.

1969 Als „Referendum“ ausgegebenes Votum von 1025 ausgesuchten Wahlmännern, die sich gegen die Unabhängigkeit aussprechen; Beginn der gesteuerten Zuwanderung aus Java und Sulawesi durch das Transmigrasi-Programm.

1973 Beginn des Kupferabbaus in der Tagebaumine auf dem Ertsberg, Zentral-Papua, durch Freeport.

1988 Beginn des Goldabbaus auf dem Grasberg durch Freeport.

2000 Irian Jaya wird in Papua umbenannt.

2001 Verkündung der speziellen Autonomie; Ermordung des Vorsitzenden des Papua-Rats Theys Elouay und anderen; Unruhen und Aufstände.

2003 Aufteilung in zwei Provinzen: Papua und Papua Barat.

Juni 2022 Aufteilung von Papua in vier Provinzen.

Dezember 2022 Aufteilung von Papua Barat in zwei Provinzen.