Mörderischer Zynismus

Le Monde diplomatique –

Die Erstaufnahmestellen an den Toren Europas sind überfüllt. Die Rechten sprechen von einer Invasion, die Linke ist gespalten, die EU-Regierungen schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu, und dann gehen alle wieder zur Tagesordnung über, bis zur nächsten großen „Krise“. Aus europäischer Sicht ist das Szenario bekannt. Aus afrikanischer Sicht weniger.

Wenn Journalistinnen und Politiker sich dazu herablassen, die Herkunftsländer überhaupt zu erwähnen, so nur, um zwischen „Flüchtlingen“ einerseits und „Migranten“ andererseits zu unterscheiden, also denjenigen, die vor Krieg und Gewalt flüchten und daher eine gewisse Aufmerksamkeit verdienen, und denjenigen, deren wirtschaftliche Beweggründe die Inanspruchnahme von Gastfreundschaft nicht rechtfertigen. „Wenn Menschen keinen Anspruch auf Asyl haben, wie es bei Ivorern, Gambiern, Senegalesen, Tunesiern der Fall ist, dann müssen sie in ihre Länder zurückgeschickt werden“, sagte der französische Innenminister Gérald Darmanin, nachdem Mitte September in Lampedusa 8000 Menschen angekommen waren.

Die Gründe, den Senegal zu verlassen, werden von den Medien in aller Regel so vage formuliert, dass sie völlig sinnentleert daherkommen: „dem Elend entfliehen“, „eine bessere Zukunft finden“. Die Gründe für dieses Elend sind im Senegal jedoch sehr konkret. Da sind die Fischereiverträge, die es Europäern und Chinesen erlauben, die Ozeane mit ihren Fischtrawlern zu durchkämmen und auf einer Fahrt so viel zu fangen wie ein einheimischer Kutter in einem Jahr; da ist der Verkauf von Land an ausländische Investoren, die die Bauern vertreiben und die Subsistenzwirtschaft durch riesige Erdnussplantagen ersetzen; da ist der Klimawandel, der zu Missernten, Dürren und einer Ausdehnung der Wüstengebiete führt; und da ist die politische Unterdrückung, ausgeübt von Präsident Macky Sall, einem Liebling des französischen Außenministeriums.

Aus afrikanischer Perspektive glänzt die europäische Politik vor allem durch ihre Scheinheiligkeit. Während einerseits abschreckende Reden gehalten werden, wird andererseits durch Verträge, Übereinkommen die Emigration von Arbeitnehmern organisiert, um dem Fachkräftemangel und der Überalterung der Gesellschaft in Europa entgegenzuwirken. Frankreich holt senegalesische Ärzte ins Land, Italien algerische oder ivorische Bauarbeiter, Spanien marokkanische Saisonarbeiter. Und Deutschland hat jüngst angekündigt, in Ghana, Marokko, Tunesien, Ägypten und Nigeria fünf Zentren zur Anwerbung Hochqualifizierter zu eröffnen. Die Herkunftsländer dienen als „Inkubatoren“, sagt der Soziologe Aly Tandian. Fachleute werden dort geboren, geschult und ausgebildet und wandern dann in andere Regionen ab.

Den anderen bleiben die Türen verschlossen. Das italienische Piemont ließ kürzlich im senegalesischen Rundfunk folgende Botschaft verbreiten: „Die Hoffnung auf ein besseres Leben sollte dich nicht dazu bringen, dich zu opfern. Das Leben ist wertvoll, das Meer ist gefährlich.“ Und der europäische Zynismus ist mörderisch. Benoît Bréville