Jahja Sinwar: Monster und Märtyrer

Nr. 43 –

Mit der Tötung des Hamas-Chefs wollte Israel die palästinensischen Kämpfer:innen demoralisieren. Doch das scheint zu misslingen.

Nach der eher zufälligen Tötung des Hamas-Chefs Jahja Sinwar am 16. Oktober in Rafah schien es zunächst, als sei der israelischen Armee ein doppelter Erfolg gelungen. Denn Sinwar galt nicht nur als wichtiger Militärstratege der Hamas: Seine Wahl zum Kopf des Politbüros der Hamas nach dem Tod seines Vorgängers Ismail Hanija durch einen Bombenanschlag in Teheran Ende Juli erhob ihn auch zur Symbolfigur einer Politik des konsequenten bewaffneten palästinensischen Widerstands. Und sie gab Sinwars radikalem Kurs gegen Israel Sukkurs.

Mit der Verbreitung eines Drohnenvideos, das den vermummten und offenbar schon schwer angeschlagenen Hamas-Chef kurz vor seiner Tötung in einem weitgehend zerstörten Haus zeigt, hat die israelische Armee ihren Zufallstreffer in einen propagandistischen Coup umzumünzen versucht. Ein in Umlauf gebrachtes Foto des verschütteten Toten sollte den Effekt offensichtlich noch steigern.

Doch schon bald nach der ersten Euphorie über den Tod des als Drahtzieher des Terrorangriffs vom 7. Oktober 2023 geltenden Sinwar wurde diese Inszenierung auch zum Bumerang: Neben dem Jubel über den Tod des «Monsters» hat sie der Armee im eigenen Land auch heftige Kritik an ihrem als pietätlos empfundenen Gebaren eingebracht. Auf palästinensischer und arabischer Seite wird in den Bildern ein gezielter Erniedrigungsversuch gesehen, auf den man demonstrativ mit noch mehr Kampfentschlossenheit reagiert.

Geschwächt und verletzt

Hatte die israelische Führung darauf spekuliert, die Palästinenser:innen mit diesen Aufnahmen zu demoralisieren, so scheint das Gegenteil eingetreten zu sein. Nicht nur die Inszenierung, sondern auch die Art und Weise, wie Sinwar getötet wurde, lässt Israels Kriegsführung alles andere als in einem guten Licht erscheinen. Auf dem Drohnenvideo – später wurde noch ein zweites verbreitet – konnten die Soldaten nämlich sehen, dass sich in der Hausruine nur ein einziger, stark geschwächter und keineswegs eindeutig bewaffneter Mann befand. Inzwischen hat sich zudem herausgestellt, dass die Soldaten anhand erkennbarer Blutspuren bereits gewusst hatten, dass die verdächtige Person verletzt war. Eine besonders grosse Gefahr schien er nicht mehr darzustellen.

Dennoch wurde entschieden, das Gebäude mit einem Panzer zu beschiessen. Eine mögliche Gefangennahme wurde offensichtlich nicht erwogen. Dass es sich hier um eine typische Vorgehensweise der Armee handeln könnte, ist angesichts der enormen Zahl an palästinensischen Todesopfern in diesem Krieg zumindest denkbar.

Begegnung mit dem Scheich

Dabei hätte ein bedachtes Vorgehen den Israelis die einmalige Chance auf einen weit grösseren strategischen Erfolg eröffnet: Jahja Sinwar lebend gefangen zu nehmen. Hätte sich Sinwar freiwillig ergeben, wenn er die Chance dazu bekommen hätte? Wahrscheinlich nicht. Immer wieder hatte der 1962 in Chan Junis im Gazastreifen geborene Sinwar öffentlich verkündet, er wolle am liebsten durch den Luftangriff eines israelischen Kampfjets F-16 oder durch eine Rakete zum Märtyrer werden – dass der Märtyrertod im heiligen Krieg die Essenz des Glaubens sei, habe er schon in jungen Jahren von Scheich Ahmed Jassin gelernt.

Tatsächlich wurde Sinwars Begegnung mit dem Anführer der palästinensischen Muslimbrüder in Gaza Anfang der achtziger Jahre für ihn zum Schlüsselerlebnis. Als der Scheich im Dezember 1987 mit engsten Vertrauten die Islamische Widerstandsbewegung (arabisches Akronym: Hamas) ins Leben rief, soll Sinwar zum Kreis der Eingeweihten gehört haben. Der Absolvent eines Arabistikstudiums, der in den Jahren zuvor schon mehrmals wegen «subversiver» Aktionen gegen die Besetzung in israelischen Gefängnissen gesessen hatte, wurde seinerzeit mit der Gründung der ersten bewaffneten Untergrundzelle der Hamas betraut, die vor allem gegen palästinensische Kollaborateure brutal vorging. Als Drahtzieher dieser Morde landete Sinwar wieder im israelischen Gefängnis und sollte eine lebenslange Haftstrafe absitzen.

Mehr Ressourcen, mehr Freiheiten

Dort war er unter den palästinensischen politischen Gefangenen als besonders grausam gefürchtet und soll an mehreren Morden an angeblichen Informanten zum Teil aktiv beteiligt gewesen sein. Sinwar, der in der Gefangenschaft Hebräisch lernte und es bald gut beherrschte, nutzte die Zeit bis zu seiner Freilassung 2011 beim Gefangenenaustausch für den entführten israelischen Soldaten Gilad Shalit auch zum Schreiben und Übersetzen. Von ihm soll die Übersetzung des Buches eines früheren Chefs des israelischen Inlandsgeheimdiensts Schin Bet und auch eines Buches über die israelischen Parteien stammen. Sinwar, der seine frühen Erfahrungen unter der ägyptischen und der israelischen Besatzung in einem Roman verarbeitete, verfasste auch zwei Bücher zur Geschichte der Hamas.

Nach seiner Rückkehr in den Gazastreifen stieg Sinwar in der Hierarchie der Hamas schnell auf und wurde 2017 zum Chef der Organisation in Gaza gewählt. Er soll eine Gruppe besonders militanter Kader um sich geschart haben, die dem militärischen Arm der Bewegung immer mehr Ressourcen und auch Freiheiten verschaffte. Man wird wohl nie erfahren, ob Sinwar auch hinter der Gründung des alle zwölf Milizen im Gazastreifen versammelnden Bündnisses stand, dessen Angehörige unter der Führung der Hamas und der kleineren proiranischen Miliz Islamischer Dschihad schliesslich den Grossangriff im israelischen Grenzgebiet verüben sollten.

«Grosses nationales Symbol»

Unklar bleibt auch, inwieweit Sinwars Fraktion nach seinem Tod noch das Sagen im Gazastreifen hat und ob sie die versprengten Kampforganisationen überhaupt zu kontrollieren vermag. Je länger jedenfalls Israels erklärter und immer rücksichtloser geführter Vernichtungskrieg gegen die Milizen andauert, desto mehr dürfte bei ihren Mitgliedern Sinwars Tod zum leuchtenden Beispiel eines heldenhaften Martyriums werden – ungeachtet der Tatsache, dass er allem Anschein nach nicht im aktiven Kampf, sondern vermutlich auf der Flucht starb, was das israelische Militär in einem über Gaza abgeworfenen Flugblatt jetzt gerne betont. Die Hamas-Führung hingegen würdigte ihn als «Befehlshaber, Mudschahed, Märtyrer und grosses nationales Symbol» – und auch als «Kommandant der Schlacht der Al-Aksa-Flut», womit seine Verantwortung für den Terrorangriff des 7. Oktober zumindest offiziell bestätigt wurde.

Nun heisst es, dass bis zur Wahl eines Nachfolgers im März, dessen Namen die Hamas aus Sicherheitsgründen zunächst geheim halten will, ein fünfköpfiges Gremium die Bewegung vom katarischen Doha aus leiten wird. Darunter sind bekannte Gesichter wie Sinwars Stellvertreter Chalil al-Haja, der frühere Politbürochef Chaled Meschal und Saher Dschabarin. Sie sind jeweils für den Gazastreifen, das Ausland und die Westbank zuständig. Der vierte, Nisar Awadallah, war zuletzt Politbürosekretär. Leiten soll das Gremium Mahmud Ismail Darwisch, der dem Schura-Rat der Hamas vorsitzt und öffentlich kaum in Erscheinung getreten ist. Da Dschabarin und Awadallah auch einen militärischen Hintergrund haben und Haja wie auch Darwisch über gute Kontakte nach Teheran verfügen, dürfte sich am gegenwärtigen Kurs der Hamas kaum etwas ändern.

Joseph Croitoru ist Historiker und Autor. Im August ist bei C. H. Beck sein neustes Buch, «Die Hamas. Herrschaft über Gaza, Krieg gegen Israel», in dritter, aktualisierter Auflage erschienen.