Naher Osten: Hamas: Personalpolitik im Sinne weiterer Eskalation

Nr. 32 –

Immer wieder verübt Israel Attentate auf Führungskräfte verfeindeter Organisationen – die sich dadurch weiter radikalisieren. Die Ernennung Jahja Sinwars zum neuen Politbüro-Chef der Hamas zeigt das exemplarisch.

Foto von Jahja Sinwar
Steht für die Nähe zum Iran: Die Hamas hat Jahja Sinwar zum Nachfolger des bei einem Anschlag ermordeten Ismail Hanija bestimmt. Foto: Ashraf Amra, Laif

In der vergangenen Woche sind wichtige Führungskader zweier Erzfeinde Israels Attentaten zum Opfer gefallen. Am 30. Juli tötete die israelische Armee in Beirut mit einer Rakete Fouad Schukr, den Militärchef der Hisbollah. In der Nacht darauf kam in Teheran Ismail Hanija, der politische Führer der Hamas, durch eine Bombe um.

Schon in der Vergangenheit rückten nach Tötungen ranghoher Hamas-Vertreter in der Regel Amtskollegen nach. Nach Ismail Hanijas Tod war in arabischen Medien zunächst über ein dreiköpfiges Team aus Jahja Sinwar, Chaled Meschal und dem in Beirut ansässigen Saher Dschabarin als Interimslösung spekuliert worden. Am Dienstagabend erklärte die Hamas jedoch Sinwar zum Nachfolger.

Der radikale Sinwar, der als Hauptdrahtzieher der Massaker vom 7. Oktober 2023 gilt, verkörpert ebenso den sukzessiven Aufstieg der Militärkader innerhalb der Hamas-Hierarchie wie die damit einhergegangene zunehmende Anbindung an den schiitischen Iran.

Angesichts seines offensichtlich eingeschränkten Handlungsspielraums in seinem Versteck im umkämpften Gazastreifen scheint die Personalentscheidung vor allem symbolpolitischer Natur zu sein. Ihre Verkündung wurde denn auch nicht nur von Durchhalteparolen begleitet, sondern auch von einem demonstrativen Statement: Man habe sich auf Sinwar als neuen Politbüro-Chef sofort und einstimmig geeinigt.

Seine Wahl signalisiert, dass sich die Hamas dem militärischen Konfrontationskurs seiner Verbündeten Iran und Hisbollah gegen Israel voll und ganz anschliesst. Langfristig könnte die Hamas damit, was sie bislang immer vermied, zu einem direkten Satelliten des Iran werden. Die Tötung Hanijas, zumal auf iranischem Boden, kann man im Nachhinein als kalkulierte Provokation seitens Israel interpretieren, mit dem Ziel, die Hamas in diese Richtung zu bewegen.

Gezielte Vereitelung

Die gezielte Tötung von Kadern der beiden Kampforganisationen folgt einer Strategie, die die israelische Armee schon lange systematisch anwendet. Nach dem Attentat auf israelische Sportler:innen im olympischen Dorf in München 1972 liquidierten die Armee und der Geheimdienst Mossad in den folgenden Jahren führende Mitglieder jener Terrororganisationen, die Israel dafür verantwortlich machte. Die Anschläge trafen sie sowohl in Europa als auch im Libanon.

Ab 1992 richtete sich diese Strategie gegen Israels islamistische Gegner. Die offizielle Bezeichnung dafür lautet wörtlich «gezielte Terrorvereitelung». Damals tötete die Besatzung eines israelischen Kampfhubschraubers Hisbollah-Chef Abbas al-Musawi im Südlibanon in seinem Auto. Israel zeigte damit abermals, dass es keinen Unterschied zwischen politischen und militärischen Funktionären macht und sich nicht durch nationale Grenzen von Anschlägen abhalten lässt. So ging man dann auch gegen den Führer der Organisation «Islamischer Dschihad in Palästina» vor: Fathi Schakaki wurde 1995 auf Malta liquidiert. Und gegen die Hamas: Im März 2004 tötete Israel deren Gründer Scheich Ahmed Jassin in Gaza.

Nicht nur weil bei solchen Mordanschlägen immer wieder Unbeteiligte ums Leben kamen, wurde dieses Vorgehen in Israel stets kontrovers diskutiert. Bei anschliessenden Vergeltungsaktionen der Terroristen verloren mehrmals etliche israelische Zivilist:innen ihr Leben. Die Erfahrung zeigte zudem, dass die gezielten Tötungen die betroffenen Organisationen langfristig nicht schwächten. Sie gingen im Gegenteil – wie sich derzeit exemplarisch zeigt – oftmals radikalisiert und sogar gestärkt daraus hervor. Dazu trug auch die martialische Inszenierung der Getöteten als islamische Märtyrer bei. Und die Hisbollah, der Islamische Dschihad und die Hamas vermochten die Lücken in den eigenen Reihen stets schnell zu schliessen.

Geografisch diversifiziert

Bei der Hamas liegt dies an ihren internen Strukturen, die für Kontinuität sorgen: Aus Sicherheitsgründen wurden schon in den neunziger Jahren die Entscheidungsprozesse der politischen und der militärischen Führung der Hamas strikt voneinander getrennt. Ihre Terroranschläge gegen Israel liessen die Kassam-Brigaden, der militärische Arm der Hamas, meist nicht von der politischen Führung absegnen. Auch vermeidet die Hamas die Konzentration der politischen Kader an einem Ort: Sowohl für die Palästinenser:innengebiete im Westjordanland als auch für den Gazastreifen bildete sie eigene Führungsgremien; das Politbüro als übergeordnete Instanz verlegte sie schon früh ins Ausland. Es hatte seinen Sitz in den neunziger Jahren zunächst in den USA, später in Jordanien und in Syrien. Seit etwa einem Jahrzehnt hält sich ein Grossteil seiner Mitglieder in Katar auf, weitere befinden sich im Libanon, im Iran und in der Türkei.

Gewählt werden die Kader der Hamas vom Schura-Rat. Für ihn gilt strenge Geheimhaltung. Seine rund 200 Angehörigen rekrutieren sich aus Gaza, dem Westjordanland, den Reihen in Israel inhaftierter Aktivisten und aus Hamas-Vertretern im Ausland. Anonym bleiben auch die meisten Kader der Kassam-Brigaden. Indem die Identität der Mitglieder von Führungsgremien geheim gehalten wird, sollen sie vor Verfolgung geschützt werden.

Joseph Croitoru ist Historiker und Autor. Dieses Jahr erschien bei C. H. Beck sein neustes Buch, «Die Hamas. Herrschaft über Gaza, Krieg gegen Israel».