Die Traktoren­revolte

Le Monde diplomatique –

Bei seiner zweistündigen Fernsehansprache am 16. Januar hatte Präsident Macron nicht mehr als 5 Sekunden für die französischen Landwirte übrig. Zwei Tage später begannen die größten Bauernproteste seit Jahrzehnten: Traktoren blockieren die Autobahnen, Viehzüchter kippen Misthaufen vor Supermärkte, vor den Rathäusern brennen Autoreifen, vor Präfekturen und Abgeordnetenbüros entlädt sich der Unmut.

Anzeichen für diesen Wutausbruch gab es schon lange. In Deutschland, in Polen, Rumänien, den Niederlanden, Spanien und Belgien wurde protestiert. In Frankreich wurden Ortsschilder umgedreht, als Symbol eines Berufsstands, bei dem alles kopfsteht. Am 10. Januar beschrieben sechs europäische Gewerkschaftsverbände in einer Pressemitteilung eine unhaltbare Situation, in der „das Überleben der landwirtschaftlichen Erzeuger in der Europäischen Union auf dem Spiel“ stehe.

Die Landwirt:innen sind verschuldet, werden von Lebensmittelkonzernen und Supermarktketten unter Druck gesetzt, leiden zunehmend unter Dürren und Überschwemmungen, konkurrieren mit ausländischen Billigprodukten und sind dabei von einem Subventionssystem abhängig, das Großbetriebe bevorzugt. Sinkende Einkünfte und steigende Produktionskosten durch die Verteuerung von Energie, Wasser, Material und Saatgut: Da kann jeder Funke einen Flächenbrand auslösen.

In Deutschland war es die Abschaffung der Subventionen für Agrardiesel, in Belgien und den Niederlanden wollte man die Viehbestände verkleinern, in Frankreich stiegen die Abgaben für „diffuse Verschmutzung“ der Umwelt. In den Medien ist eher die Rede vom dem Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, als von den Sturzbächen, die es gefüllt hatten. So heißt es häufig, die Proteste richteten sich „gegen die Umweltvorschriften“, als sei den Bäuer:innen die Klimakrise grundsätzlich egal. Doch genau an dieser Stelle haken die Demonstrierenden in ganz Europa ein: Sie kritisieren die absurden Auswüchse eines Systems, das sie dazu zwingt, an ihrem eigenen Untergang mitzuwirken.

Wegen mangelnder Alternativen werden weiterhin Pestizide zugelassen, deren Auswirkungen sie als Erste tragen müssen; es werden Produktivitätssteigerungen gefordert, die sie nur erzielen können, wenn sie sich selbst durch Roboter ersetzen. Obgleich ihr Beruf von einer intakten Umwelt abhängt, nimmt das System deren Schädigung billigend in Kauf.

Für die Zukunft der Landwirtschaft in vielen EU-Ländern gibt es drei Szenarien: Entweder sie verschwindet unter dem Druck der europäischen Arbeitsteilung und dem Eintritt großer Agrarnationen in die EU. Oder sie überlebt, indem sie Behörden und Investmentfonds folgt und auf Turbo-Industrialisierung setzt, mit den bekannten schädlichen Folgen. Oder sie kämpft für eine kleinbäuerliche Kultur, die ihre Ernährerrolle wieder ernst nimmt und für die Unabhängigkeit der Landwirtschaft einsteht. Viele Viehzüchter und Bäuerinnen hoffen darauf, die Konsument:innen wünschen sich das ebenfalls – und auf lange Sicht wäre es das einzig Vernünftige. 

Benoît Bréville