Bäuer:innendemos: «Für mich stehen die Proteste erst am Anfang»

Nr. 6 –

Véronique Marchesseau, Bäuerin und Generalsekretärin der Gewerkschaft Confédération paysanne, erklärt, wieso ein Teil der Landwirt:innen in Frankreich auch nach dem Einlenken der Regierung weiter demonstriert. Und wie es um die internationale Zusammenarbeit steht.

WOZ: Frau Marchesseau, in den vergangenen Tagen waren Sie wie Tausende andere französische Bauern und Bäuerinnen auf der Strasse. Was war eigentlich der Auslöser für die zuletzt heftigen Proteste und Blockaden?

Véronique Marchesseau: Für die Mobilisierung in Frankreichs Landwirtschaft gab es nicht einen einzigen Auslöser. Vielmehr lässt sich eine Vielzahl von Gründen nennen, die über die letzten Jahre zusammengekommen sind. Die aktuellen Proteste haben aber konkret mit der Rinderseuche EHD zu tun, die Ende letzten Jahres im Nordwesten Frankreichs ausgebrochen ist. Hier hatte die Regierung Hilfen versprochen, die noch nicht angekommen waren. Aber das war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Probleme dauern schon viel länger an. Unsere Einkünfte und unsere Arbeitsbedingungen haben sich in den letzten Jahren drastisch verschlechtert; das Hofsterben nimmt zu.

Bäuer:innen geben ihre Höfe auf?

Ja. Allein zwischen 2010 und 2020 sind 100 000 Betriebe verschwunden. Heute gibt es noch 380 000 Höfe, aber viele Landwirt:innen denken ans Aufgeben. Wir kämpfen mit den Folgen des Klimawandels, mit Unwettern und gerade in den südwestlichen Regionen an der Grenze zu Spanien auch mit Wassermangel. Der Freihandel und die unlautere Konkurrenz, besonders innerhalb Europas, setzen uns zu, ebenso die Verteuerung des Agrardiesels und die immer neuen Regulierungsmassnahmen. Gegen all diese Probleme haben die Politiker:innen nichts unternommen. Stattdessen haben sie angekündigte Hilfen nicht überwiesen und überlassen uns uns selbst. All das hat zu grosser Frustration geführt.

Die Gewerkschafterin

Véronique Marchesseau (57) leitet eine Rinderzucht mit 150 Tieren im Département Morbihan im Nordwesten Frankreichs. Seit 2019 ist sie Vorsitzende der Bauerngewerkschaft Confédération paysanne.

Die Organisation setzt sich seit ihrer Gründung 1987 für eine kleinräumige, umweltschonende Landwirtschaft ein, weswegen sie als links gilt. Einen besonderen Fokus legt die Gewerkschaft ausserdem auf die Arbeitsbedingungen der Bäuer:innen.

 

Portraitfoto von Véronique Marchesseau

Wie setzt sich denn die Protestbewegung aktuell zusammen?

Trotz der Unterschiede bei der Zielsetzung sowie in der Zusammensetzung unserer Mitglieder haben wir es geschafft, gewerkschaftsübergreifende Proteste zu organisieren. Es ist aber besonders die stärkste französische Gewerkschaft, die Fédération nationale des syndicats d’exploitants agricoles (FNSEA), die den Ton angibt. Im Gegensatz zu uns setzt sie den Schwerpunkt weiterhin auf das Produktionsvolumen der Landwirtschaft, nicht auf die Qualität der Produkte und den ökologisch nachhaltigen Umgang mit den Ressourcen. Deswegen hat sie sich auch mit den Zugeständnissen der Regierung, Nothilfen auszuzahlen, die Verteuerung des Agrardiesels auszusetzen und die Bürokratie abzubauen, zufriedengegeben und ihre Mitglieder zurückgepfiffen.

In der Tat, die FNSEA und auch die Gewerkschaft der Jungbäuer:innen riefen ihre Mitglieder Ende der vergangenen Woche dazu auf, die Blockaden zu beenden. Sie aber machen weiter. Warum?

Die Zugeständnisse der Regierung weisen in die falsche Richtung. Natürlich sind die Nothilfen sinnvoll, um die Folgen der Rinderseuche und der Unwetter auszugleichen. Für eine faire Bezahlung der Landwirt:innen ist hingegen nichts getan worden. Die internationale Konkurrenz führt dazu, dass wir Produkte zu Preisen unter dem Produktionswert verkaufen müssen. Dadurch erleiden wir Verluste und können von unserer Arbeit nicht mehr anständig leben. Die Freihandelsabkommen gehen zu unseren Lasten, und die Macht der grossen Handelsketten wird nicht angetastet. Diese schreiben uns aber wiederum die Preise vor. Zudem zwingt uns der wirtschaftliche Druck dazu, Pestizide zu verwenden, um keine Ertragseinbussen zu riskieren. Gerade die FNSEA vertritt die Interessen einer industrialisierten Landwirtschaft, die dieser Logik folgt. Wir fordern dagegen gerade in diesem Bereich eine Wende. Die Politik der letzten Jahre hat die ökologische Transformation mit ihren Massnahmen eher verhindert. Deswegen setzten wir unsere Aktionen fort. In dieser Woche gehen unter anderem die Imker:innen auf die Strasse, die wegen der chinesischen Einfuhren auf der Honigernte des letzten Jahres sitzen bleiben. Und wir planen weitere Aktionen – mindestens bis Ende Monat, wenn die Agrarmesse in Paris stattfinden wird. Für mich stehen die Proteste erst am Anfang.

Gibt es eine europaweite Zusammenarbeit der Landwirt:innen, jetzt, wo es zeitgleich in vielen anderen Ländern wie Spanien, Griechenland, Portugal oder Deutschland zu Protesten kommt?

In der letzten Woche waren wir in Brüssel und haben dort gemeinsam mit anderen europäischen Gewerkschaften aus Spanien, aus Deutschland, den Niederlanden und Portugal demonstriert. Wir sind Teil des transnationalen Netzwerks «Via Campesina», das sich für ein weltweites Agrar- und Ernährungssystem einsetzt, das sich vom neoliberalen Profitstreben löst. Da gibt es durchaus Formen der Zusammenarbeit, Vertreter:innen aus achtzig Ländern tauschen sich hier aus. Aber im Augenblick wenden wir uns mit unseren Aktionen natürlich zuallererst an unsere eigene, die französische Regierung und fordern Reformen.

Braucht es denn Reformen auf nationaler Ebene oder nicht vielmehr in der europäischen Politik?

Die Reformen, die wir fordern, hängen natürlich stark mit der europäischen Landwirtschaftspolitik zusammen, insbesondere mit dem Mercosur-Freihandelsabkommen, das wir verurteilen. Deswegen ist die gemeinsame Präsenz von Vertreter:innen aus der Landwirtschaft in Brüssel so wichtig. Ganz bestimmt kann man sagen, dass sich die Proteste gegenseitig befeuern und inspirieren. Die Bewegung in Deutschland wurde hier mit grossem Interesse verfolgt und war ein Ansporn, auch wenn die Situation nicht eins zu eins vergleichbar ist. Für eine einheitliche europäische Bauernbewegung müssten sich allerdings jeweils auf nationalem Niveau die Organisationen festigen. Das scheint mir derzeit nicht gegeben.

Gab es in Frankreich Versuche, den Protest politisch zu vereinnahmen?

Solche Versuche gab es, ja. Das ist ja die Methode von Populist:innen, Bewegungen wie die unsere zu kapern. Aber – und das ist sehr positiv hervorzuheben – alle französischen Gewerkschaften haben sich in den ersten Tagen bereits gemeinsam gegen eine solche Vereinnahmung, gerade von rechts aussen, gestellt und diese Politiker:innen zurückgewiesen.

Die Solidarität der Bevölkerung mit den Landwirt:innen war gross. Glauben Sie, dass aus den aktuellen Protesten eine noch breitere gesellschaftliche Bewegung erwachsen kann, wie sie 2018 und 2019 im Rahmen der Gelbwestenbewegung entstand?

Nein, das glaube ich eher nicht. Auch weil wir nicht wollen, dass von unseren eigentlichen Problemen in der Landwirtschaft abgelenkt wird und die Positionen verwässert werden. Das passiert, wenn alles Mögliche an weiteren Forderungen hinzukommt. Uns geht es wirklich in allererster Linie um unsere schlechten Arbeitsbedingungen. Darauf verweist etwa die Tatsache, dass es unter Landwirt:innen eine erschreckend hohe Suizidrate gibt. Wir haben aber extrem viel Unterstützung für unsere Anliegen von allen möglichen Seiten erfahren, sei es von Angestellten, von Umweltorganisationen oder Wissenschaftler:innen, die in den Problemen, die wir ansprechen, auch gesamtgesellschaftliche Fragen sehen, und für die unser Protest ein Fingerzeig ist: auf Probleme, die in vielen anderen Bereichen auch bestehen. Wir führen also durchaus einen Kampf, der über die Landwirtschaft hinausgeht.

Schweiz: Ist der Bauer ruiniert?

Greifen die Proteste auf die Schweiz über? Am Samstag versammelten sich im Baselbiet rund vierzig Landwirt:innen und fuhren im Traktorkonvoi durch Pratteln, Rheinfelden und Möhlin. «Ist der Bauer ruiniert, wird klimaschädlich importiert», war auf einem Transparent zu lesen. Die Reaktionen der Bevölkerung seien vorwiegend positiv gewesen, schreibt der «Schweizer Bauer Online». Eine ähnliche Aktion gab es auch bei Genf. Eine Westschweizer Facebook-Gruppe namens Révolte agricole suisse hat inzwischen rund 7000 Mitglieder. Die Gruppe fordert, der Detailhandel solle seine Margen mit den Landwirt:innen teilen. Ihnen stünden 500 Millionen Franken mehr pro Jahr zu.

Der Schweizer Bauernverband (SBV) hat eine Petition gestartet. Sie verlangt unter anderem mehr Anerkennung für die Landwirtschaft, bessere Produzent:innenpreise und «keine neuen Auflagen im Umweltbereich, die nicht entschädigt sind».

Doch nun brechen Konflikte unter den bäuerlichen Organisationen auf: Die Gewerkschaft Uniterre, die schon lange mit Aktionen für höhere Produzent:innenpreise und tiefere Handelsmargen kämpft, kritisiert den SBV heftig für seine «unheilige Allianz» mit den Wirtschaftsverbänden. Er betreibe eine freihandelsfreundliche Politik. Den grossen Unternehmen müssten klare Grenzen gesetzt werden, schreibt Uniterre, «egal ob es sich um Coop, Migros, Fenaco oder die multinationalen Konzerne handelt». Uniterre erklärt sich solidarisch mit den EU-Protestierenden, warnt aber vor «Vereinnahmung durch rechtsextreme Kräfte und vor der Verbreitung eines klimaskeptischen Diskurses».

Auch die Kleinbauern-Vereinigung unterstützt die Umverteilungsforderung von Révolte agricole suisse und kritisiert den SBV: Dessen Petition sei «vor allem eine Alibi-Aktion, um die Kontrolle über die Proteste zu behalten». Die Verstrickungen «zwischen bäuerlichen Politikern und (Agrar-)Konzernen» müssten aufhören.

Bettina Dyttrich