Agrarproteste: «Alle können ihre Kosten überwälzen, nur wir nicht»
Für bessere Preise, mehr Wertschätzung und Planungssicherheit: In den letzten Tagen haben Schweizer Landwirt:innen wieder protestiert. Doch über allgemein gehaltene Forderungen hinaus ist sich die Branche nicht immer einig.
Am Freitagabend trafen sie sich im unteren Emmental und am Neuenburgersee, am Montag in den Kantonen Luzern, Zürich, St. Gallen und Tessin. Mit ihren Traktoren formten sie das Wort «Dialog». Die Drohnenfotos der leuchtenden Gefährte sehen spektakulär aus – doch die Bevölkerung bekommt von den Aktionen wenig mit. Wer sind die protestierenden Landwirt:innen?
Einer der Organisator:innen ist Urs Haslebacher, Landwirt im Gürbetal südlich von Bern. Er mästet Schweine nach dem Standard der Integrierten Produktion. Das Label IP-Suisse haben Landwirt:innen in den achtziger Jahren entwickelt – mit seinen Tierwohl- und ökologischen Auflagen liegt es zwischen der Standardproduktion und Bio. «Wenn alle in der Schweiz Bio essen würden, würden wir Bauern alle auf Bio umstellen, sofort!», sagt Haslebacher. Aber gerade in seinem Bereich, bei den Schweinen, harze der Bioabsatz. «Immer heisst es: ‹Ihr müsst halt innovativ sein, auf Bio und Direktvermarktung setzen.› Tut mir leid, aber wie sollen wir, wenn es nicht gekauft wird?» Direktvermarktung sei gut, aber die grosse Mehrheit kaufe nun mal bei Migros, Coop und Discountern ein.
Über die Marge «erchlüpft»
Die protestierenden Landwirt:innen fordern von den Grossverteilern fünf bis zehn Prozent höhere Preise. Soll diese Erhöhung mit einer tieferen Handelsmarge finanziert werden? Ja, sagt Haslebacher. «Bis vor kurzem sagte ich immer, eine gewisse Marge ist okay, schliesslich haben die Läden auch Schweizer Löhne.» Aber als er eine Recherche des Westschweizer Fernsehens dazu gesehen habe, sei er schon «erchlüpft»: «Wenn die Marge für einen regionalen Käse zwei Drittel des Verkaufspreises ausmacht, stimmt etwas nicht mehr.» Die Proteste seien ein Aufruf der Basis an den Bauernverband und die Branchenverbände, hart mit den Grossverteilern und den Verarbeitungsbetrieben zu verhandeln. «Wir spüren die Teuerung bei den Produktionsmitteln. Alle anderen können ihre Kosten überwälzen, nur wir nicht.»
Er kommt wieder auf die Schweine zu sprechen. «Sechzig Prozent des Schweizer Schweinefleisches hätten ein Tierwohllabel – wir können aber nur vierzig Prozent zu einem Labelpreis verkaufen.» Und jetzt komme die Migros und wolle noch 45 000 Labelschweine weniger als bisher. Zudem verliere er dieses Jahr 10 000 Franken Direktzahlungen, weil der Bund nun mehr für Biodiversität, aber weniger fürs Tierwohl zahle. «Jedes Jahr werden auf Verordnungsstufe die Bedingungen geändert. Wir fordern mehr Planungssicherheit. Mein tierfreundlicher Stall ist nicht in fünf Jahren amortisiert.»
Haslebacher ist Präsident der Gemeinde Thurnen und Mitglied der SVP. Christine Badertscher ist grüne Nationalrätin aus einer anderen Region des Bernbiets, dem Oberaargau. Die Agronomin ist auf einem Biobauernhof aufgewachsen und war eine Zeit lang beim Schweizer Bauernverband (SBV) angestellt. Auch heute sitzt sie noch im Vorstand des Berner Bauernverbands und ist Präsidentin des Oberaargauer Bauernvereins. Sie verbindet zwei Welten, die oft als verfeindet gelten. In Deutschland haben protestierende Landwirt:innen in den letzten Wochen Vertreter:innen der Grünen angefeindet, bedroht, attackiert. Badertscher ist froh, dass das in der Schweiz nicht geschieht. Ihr Bruder führt heute den Hof der Familie, sie kennt viele persönlich, die im Kanton Bern Proteste organisieren. «Es ist ihnen wichtig, dass die Stimmung friedlich bleibt und es nicht zu Beschimpfungen kommt.» Sie sei auch erleichtert, dass der Abbau von Umweltauflagen nicht im Zentrum der Forderungen stehe, sondern Preise, Planungssicherheit und Wertschätzung.
Kritik an Umweltauflagen äussert Haslebacher allerdings schon: «Die Nahrungsmittelproduktion soll wieder wichtiger werden», sagt er. Auf guten Böden sei es sinnvoll, intensiver zu produzieren, die Biodiversität könne an weniger fruchtbaren Standorten, öffentlichen Grünflächen und in Privatgärten gefördert werden. Wenn er über Pflanzenschutzmittel redet, klingt es, als sei er immer noch im Abstimmungskampf gegen die Trinkwasser- und die Pestizidinitiative.
Weniger Höfe – ein Vorteil?
Einer, der die Agrarpolitik seit Jahrzehnten beobachtet, ist Werner Locher aus dem Zürcher Säuliamt. Er ist Mitglied der SP, war Lehrer, bevor er den elterlichen Hof übernahm, den inzwischen sein Sohn führt. Den Umgang mit der Landwirtschaft kritisiert er grundsätzlich: «Die Agrarpolitik hält den ökonomischen Druck auf die Betriebe hoch und versucht, die Schäden, die dabei entstehen, mit Umweltauflagen zu minimieren. Das geht nicht auf.» Seit vielen Jahren setzt sich Locher mit der kleinen bäuerlichen Organisation BIG-M für einen fairen Milchpreis ein. «Wenn die Gesellschaft will, dass die Bauern anders produzieren, ist das ihr gutes Recht. Aber sie muss auch die Verantwortung dafür übernehmen, dass sie davon leben können.» Gerade bei den Milchviehbetrieben sei das überhaupt nicht mehr gewährleistet.
Der Siebzigährige hat die Mechanisierung und die Chemisierung der Landwirtschaft aus der Nähe miterlebt – als Kind führte er noch das Pferd, wenn sein Vater pflügte. Später kam der Spritzmittelberater auf den Hof und gab vor, welche Pestizide wann einzusetzen seien. Locher glaubt, dass die ganze Entwicklung, verbunden mit einer immer stärkeren Abhängigkeit von externen Inputs wie Kunstdünger, Treibstoff und Pestiziden, bei vielen Bäuer:innen Unbehagen auslöse, auch wenn viele nicht darüber sprächen. «Ich erinnere mich, wie viele verschiedene Vögel es in meiner Kindheit noch gab, wie fein es im Sommer duftete. Wenn wir das wieder wollen, brauchen wir wieder mehr Menschen in der Landwirtschaft. Und weniger Hunde, die durch die Felder rennen und die Lerchennester plündern …»
Viele Bäuer:innen hätten genug davon, die umweltpolitischen Sündenböcke der Nation zu sein, sagt Christine Badertscher. Sie verstehe das. «Es ist halt gäbiger, über sie zu schimpfen, als die eigenen Ferienflüge zu hinterfragen.» Badertscher versucht, ohne Sündenbockdenken grüne Agrarpolitik zu machen. Zum Beispiel mit ihrer neusten Interpellation, die auf ein Paradox hinweist: Umweltschützer, Tierrechtlerinnen, Ärzte und auch der Bund propagieren eine stärker pflanzenbasierte Ernährung – doch der Selbstversorgungsgrad bei pflanzlichen Lebensmitteln ist in der Schweiz auf nur 33 Prozent gefallen. Und am Pflanzenanbau verdienen die Landwirt:innen wenig: Siebzig Prozent des Einkommens aus dem Produkteverkauf stammen aus der tierischen Produktion. In ihrem Vorstoss fragt die Nationalrätin den Bundesrat, wie die pflanzliche Produktion gestärkt werden könnte.
Was auffällt: Kein Thema der Proteste ist die Tatsache, dass jedes Jahr ein bis eineinhalb Prozent der Schweizer Bauernhöfe verschwinden. Denn hier sind sich die Bäuer:innen nicht einig. Während Uniterre, die Kleinbauernvereinigung und die Bewegung für eine solidarische Landwirtschaft das Hofsterben anprangern, zitierte der «Schweizer Bauer» kürzlich SBV-Sprecherin Sandra Helfenstein: «Der Strukturwandel ermöglicht es, die Effizienzsteigerung durch Technik und Automatisierung zu nutzen.» Hofsterben? Für den SBV kein Problem.