Proteste der EU-Bäuer:innen: Wie sozial ist Nachhaltigkeit?

Nr. 50 –

Landwirt:innen aus zahlreichen Ländern protestieren gegen den europäischen «Green Deal». Nicht zuletzt, weil Klimaschutz noch immer etwas für jene ist, die es sich leisten können.

Die Traktoren kommen später. Die für den Wochenbeginn in Brüssel angekündigte Grossdemonstration von Agrarorganisationen aus mindestens dreizehn Ländern wird wegen der vierten Coronawelle verschoben. «Schweren Herzens», heisst es in der Videobotschaft des Vereins und Mitorganisators Land schafft Verbindung (LSV), «weil unsere und eure Gesundheit im Vordergrund steht.» Zwei Tage sollten die Aktionen dauern, parallel zum Treffen des EU-Agrarrats.

Keine anderen Demonstrationen gelten in der EU-Hauptstadt so sehr als martialische Folklore wie Agrarproteste. Das Ritual, mit dröhnenden Traktoren das Zentrum Brüssels lahmzulegen, scheint zum Image bodenständiger Landwirt:innen zu passen, die sich von der politischen Klasse nichts vormachen lassen. Doch mit den Kundgebungen wurde auch eine Diskussion von zentraler gesellschaftlicher Tragweite aufgeschoben – nicht nur wegen der Bedeutung von Ernährungssicherheit.

Immer höhere Kosten

Anlass der Proteste ist der «European Green Deal» zum klimaneutralen Umbau der EU-Wirtschaft. Für die Branche stelle dieser Plan eine Bedrohung dar, so der Dachverband European Milk Board (EMB). «Das aktuelle landwirtschaftliche System ist bereits unfähig, Preise zu erzielen, die die Produktionskosten decken», so eine Presseerklärung. «Neue Strategien wie der ‹Green Deal› werden diese Kosten weiter nach oben drücken.»

Zentraler Kritikpunkt der Branche: dass sie auf die Entwicklung dieser Strategie keinen Einfluss habe. Entscheidungen würden über ihre Köpfe hinweg getroffen, so das Statement des EMB, dem Milchproduzent:innen aus sechzehn Ländern angeschlossen sind. Wie die zusätzlichen Produktionskosten einer nachhaltigen Transformation zu bewältigen seien, werde im «Green Deal»-Konzept nicht beantwortet. Ohne faire landwirtschaftliche Rahmenbedingungen aber sei die Ernährungssicherheit der EU gefährdet.

«Mitsprache bei den Strategien des ‹Green Deal› ist darum essenziell», so die EMB-Sprecherin Vanessa Langer zur WOZ. Selbstverständlich sei man für Klimaschutz, schliesslich sei die Arbeit von Landwirt:innen von Klima und Natur abhängig. «Nachhaltigkeit ist aber nicht nur ökologisch, sondern beinhaltet auch die wirtschaftliche und soziale Position der Bäuer:innen.»

Genau hier liegt der brisante Punkt des «Green Deal». Dass die angestrebte nachhaltige Transition nur gelingen wird, wenn sie sozial abgefedert ist, liegt nach jahrzehntelanger dogmatischer Austerität und neoliberalem Umbau der europäischen Gesellschaften auf der Hand. Gerade im polarisierenden Diskurs der letzten Jahre gelten Nachhaltigkeit und Klimaschutz noch immer als etwas für jene, die es sich leisten können – vom Einkauf im Bioladen bis zum Umbau des eigenen Hauses.

Fehlende Abgrenzung zur AfD

Diese Entwicklungen gehen an der agrarischen Bewegung nicht spurlos vorbei und eröffnen mitunter Raum für rechte Positionen. So berichtet etwa das Fachmagazin «Top Agrar» von einer an den Protesten beteiligten polnischen Organisation, die der rechten Regierungspartei PiS nahestehe. In Deutschland wird «Land schafft Verbindung» wegen fehlender Abgrenzung gegen die AfD kritisiert, die zuletzt Bäuer:innenproteste als Option zum Aufbau von Allianzen sah.

Auch in den Niederlanden besuchen die rechtspopulistische Freiheitspartei (PVV) oder das Forum voor Democratie (FvD) gerne entsprechende Kundgebungen. Dennoch: Die 2019 gegründete Farmers Defence Force (FDF), die in der jüngsten Protestwelle zur lautstärksten Vertreterin des dortigen Agrarsektors geworden ist, als per se rechtsextrem zu bezeichnen, ginge zu weit. Einem grossen Teil ihrer Aktivist:innen geht es just um die eingangs genannte Agenda der Brüsseler Kundgebung.

Zugleich bewegt sich die FDF in einem Milieu, in dem öffentlich-rechtliches Fernsehen pauschal als «Fake News» beschimpft wird, Umweltmassnahmen als weltfremdes Hobby urbaner Linksliberaler gelten oder man die umgedrehte Landesfahne schwingt – in Anlehnung an einen alten Brauch niederländischer Schiffe in Seenot, was heute als Code für einen vermeintlichen nationalen Notstand gilt.

Der Bundesverband Deutscher Milchviehhalter hat seine Teilnahme an den Brüsseler Protesten abgesagt. «Wir sehen den ‹Green Deal› durchaus auch kritisch», sagt Sprecher Hans Foldenauer. «Aber es gibt eine Notwendigkeit zur Veränderung der gesamten Ausrichtung in der Agrarpolitik. Den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln oder Mineraldünger zu vermindern, ist nicht abwegig, damit muss man sich auseinandersetzen.»

Entscheidend für den Rückzug sei vor allem die Rhetorik in Teilen des Protestbündnisses gewesen. «Wenn man EU-Politiker:innen vorwirft, mit dem ‹Green Deal› Hunger und Tod in Afrika zu verursachen, kann man nicht ernst genommen werden», so Foldenauer. «Das geschieht eher durch die heutige Agrarpolitik, wenn eine landwirtschaftliche Fläche genutzt wird, um Futtermittel anzubauen statt Lebensmittel für die Bevölkerung.»