Dunkler Frühling in Lissabon
Fünfzig Jahre nach der Nelkenrevolution erstarkt in Portugal wieder der Rechtsextremismus
Die portugiesischen Parlamentswahlen vom 10. März fanden kurz vor dem 50. Jahrestag der Nelkenrevolution1 vom 25. April 1974 statt. Drittstärkste Partei wurde mit 18 Prozent der Stimmen die rechtsextreme Chega (Es reicht), die bei den letzten Wahlen im Januar 2022 nur 7,15 Prozent erzielt hatte. Die Zahl ihrer Sitze konnte sie von 12 auf 50 vervierfachten. Die Wahlbeteiligung lag mit knapp 60 Prozent so hoch wie seit 2005 nicht mehr.
Stärkste Kraft wurde die Demokratische Allianz (AD), eine Koalition konservativer Parteien unter Führung der sozialdemokratischen PSD. Mit 28,85 Prozent der Stimmen und 80 Abgeordneten (2022: 29,5 Prozent und 79 Abgeordnete) verfehlte sie jedoch die absolute Mehrheit (116 Sitze) bei Weitem. Die Sozialistische Partei, die 2022 allein die absolute Mehrheit erlangt hatte, stürzte auf 28 Prozent (77 Sitze) ab. Die Parteiführung lehnte ein Regierungsbündnis mit den Konservativen ab. Am 2. April wurde eine AD-Minderheitsregierung vereidigt.
Ein halbes Jahrhundert nach dem Sturz der faschistischen Salazar-Diktatur hat also ein Sechstel der Wählerschaft für die Rechtsextremen gestimmt. Chega wurde vor fünf Jahren von André Ventura gegründet, der als Sportreporter eines Kabelsenders populär geworden war. 2017 hatte er bei Kommunalwahlen noch auf der Liste der PSD in der vormals linken Hochburg Loures kandidiert. Dabei brachte er viele gegen sich auf, als er von der örtlichen Roma-Gemeinde behauptete, diese lebe „fast ausschließlich von staatlichen Beihilfen“.2 Trotz solcher Sprüche genoss er die Unterstützung von PSD-Präsident Pedro Passos Coelho, der von 2011 bis 2015 portugiesischer Regierungschef gewesen war.
Als es Ventura nicht schaffte, die PSD-Führung zu erobern, gründete er 2018 seine eigene Partei. Er wetterte weiter gegen Minderheiten und die gleichgeschlechtliche Ehe, bekannte sich aber nach wie vor zu „den Werten der portugiesischen Sozialdemokratie“.
Im jetzigen Wahlkampf erhielt der Chega-Führer finanzielle Unterstützung aus der Wirtschaft. Auch in den Medien und vor allem in den sozialen Netzwerken war er auffällig stark präsent, im Gegensatz etwa zum Linken Block (BE) und den Kommunisten (PCP), die in den Medien unterrepräsentiert waren.
Wie erklärt es sich, dass nun auch Portugal zu dem Klub der europäischen Länder gehört, in denen die Rechtsextremen verstärkt in die Parlamente einrücken? Natürlich ist die Erinnerung an die Salazar-Diktatur mittlerweile verblasst. Aber man gab sich auch keine Mühe, sie wachzuhalten: So gibt es keine Hinweistafel an der einstigen Lissaboner Zentrale der gefürchteten Geheimpolizei, die erst mit der Revolution von 1974 abgeschafft wurde.
Die kollektive Erinnerung an ein antidemokratisches und repressives Regime schafft zwischen Spanien und Portugal eine gewisse Gemeinsamkeit. Und so wirkte auch das Beispiel der ultrarechten Vox-Partei, die in Spanien seit 2018 auf dem Vormarsch ist, im iberischen Nachbarland wie ein Signal.3
Das Wahlprogramm der Chega ist eine Mixtur von neoliberalen Positionen und sozialen Versprechen. Es sieht etwa eine Erhöhung der Renten um 200 bis 300 Euro vor, um diese dem Mindestlohn anzunähern, der 2024 bei 820 Euro lag (2015 noch bei 505 Euro).4
Im Grunde verspricht Ventura fast allen Menschen in Portugal ein besseres Leben: den Sicherheitskräften, den Veteranen der Kolonialkriege, den Beschäftigten im Gesundheitswesen, den Lehrkräften von der Schule bis zur Uni. Zugleich aber übt er scharfe Kritik an dem angeblich aufgeblähten und korrupten Staat, was er mit der Parole „Portugal säubern“ bekräftigt.
Im Wahlkampf hat Chega auch auf Panikmache in Sachen öffentlicher Sicherheit gesetzt. Dabei sind die einzigen Straftaten, die in Portugal zugenommen haben, nicht etwa Diebstahl und Mord, sondern Hetze, Diskriminierung und Hassreden.5 Ziel der Attacken sind vor allem die portugiesischen Roma (ciganos) und portugiesischsprachige Migrantinnen und Migranten aus Afrika, aber auch Arbeitskräfte aus Südasien, die vor allem in der Landwirtschaft und im IT-Bereich arbeiten.
Ventura möchte auch die Freizügigkeitsabkommen aufkündigen, die Lissabon mit seinen einstigen Kolonien geschlossen hat. Mit solchen Forderungen findet er angesichts der Sparzwänge im öffentlichen Dienst und den nach wie vor niedrigen Löhnen große Resonanz. Die Arbeitslosenquote ist zwar seit 2013 von 16,3 Prozent auf 6,5 Prozent gesunken, die Jugendarbeitslosigkeit beträgt aber immer noch 20,3 Prozent.6
Chega distanziert sich zwar auch von der Sparpolitik der rechten Regierungen, die bis 2015 im Amt waren, aber die Wahlstrategie der Partei bestand hauptsächlich darin, die Fehler der jetzt abgewählten Linksregierung politisch auszubeuten.
Die Koalition aus Sozialisten, Linksblock, Kommunisten und grüner Umweltpartei (PEV), die allgemein la geringonça (Schrottkiste) genannt wird, hatte die Einschnitte bei Löhnen und Renten rückgängig gemacht und damit im Zeitraum 2015 bis 2019 eine bescheidene Steigerung der Binnennachfrage erreicht. Weitere Errungenschaften waren Lohnerhöhungen (vor allem beim Mindestlohn), leichte Zuwächse bei den Sozialleistungen (vor allem für die Ärmsten) und einige Investitionen in öffentliche Dienstleistungen. Dennoch sind aus diesem Bereich viele Arbeitskräfte – vor allem des Gesundheitssektors – ins Ausland oder in die Privatwirtschaft abgewandert.
Die Hassparolen der Chega
Die scheidende Regierung kann auch als Erfolg verbuchen, dass sie die Tarife für öffentliche Verkehrsmittel gesenkt hat und die Zahl der Gratisplätze in Kinderkrippen erhöht hat. Jedoch ist es den politischen Kräften links der Sozialistischen Partei nie gelungen, strukturelle Veränderungen durchzusetzen. Insbesondere hat sie weder die Privatisierungen noch die arbeitsrechtlichen „Reformen“ rückgängig gemacht, die Portugal nach 2011 von der sogenannten Troika aus EZB, EU-Kommission und IWF aufgezwungen wurden.7
Zudem hat die Regierung Costa die ab 2019 erzielten Haushaltsüberschüsse nicht zur Umverteilung genutzt, weil die Sanierung des Staatshaushalts für sie Priorität hatte. Damit konnte die Regierungspolitik – trotz Lohn- und Rentenerhöhungen – nicht die Kaufkraftverluste kompensieren, die durch steigende Preise und Zinsen wie auch durch Corona entstanden waren.
Der Rücktritt von Ministerpräsident António Costa im November 2023 wurde ausgelöst durch mehr oder weniger begründete Korruptionsvorwürfe gegen einzelne Regierungsmitglieder. Das nahm die Staatsanwaltschaft zum Anlass, auch gegen Costa eine umstrittene Anklage zu erheben. Dies war der letzte Auslöser für den politischen Erdrutsch vom 10. März.
Der Wahlkampf ließ das Ergebnis bereits vorausahnen. Ein Teil der Bevölkerung war über Venturas Ausfälle empört. Doch auch bei der Demokratischen Allianz (AD) unter Führung von PSD-Chef Luís Montenegro gab es Stimmen, die das zentristische Profil der rechten Wahlkoalition beeinträchtigten. Einer ihrer Kandidaten wollte die öffentliche Sicherheit durch die Bildung von Privatmilizen oder sogar den Einsatz der Armee wahren. Der frühere Ministerpräsident Passos Coelho (2011–2015) brachte die Unsicherheit ausdrücklich mit Migration in Verbindung. Und ein Kandidat der CDS-PP, die ebenfalls zur Demokratischen Allianz gehört, plädierte für ein neuerliches Referendum über das Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch.
Ventura ist nicht der Erste, der ein radikales Umdenken propagiert. 2010 hatte bereits der damalige PSD-Vorsitzende Passos Coelho gefordert, „den Staat neu denken“. Was er als Regierungschef 2014 tat, indem er die Sozialleistungen kürzte.
Auch Paulo Portas, langjähriger Vorsitzender der CDS-PP, empörte sich schon vor 20 Jahren über „Missbrauch“ und „Betrug“ durch Sozialhilfeempfänger, die er pauschal als „Faulpelze“ denunzierte. Seit 2002 hetzte Portas in Wahlkämpfen immer wieder gegen die kleinen Straßenhändler, womit er Roma meinte, um angeblich verfehlte Sozialleistungen zu kritisieren. Und 2010 schlug er vor, die soziale Grundsicherung zu kürzen, um eine Rentenerhöhung zu finanzieren.
Nach der Revolution im April 1974 sah es so aus, als sei das Land gegen ein politisches Comeback der Rechtsextremisten dauerhaft geschützt. Die katholische Kirche musste wegen ihrer Verstrickung in das Salazar-Regime zurückstecken und widmete sich sozialen Aufgaben. Die kollektive Erinnerung an die Dekolonialisierung, die Integration der „repatriierten“ Portugiesen aus Afrika wie auch die eigene Emigrationserfahrung wirkten wie ein Schutz gegen ausländerfeindliche Parolen.
Der starke Einfluss der kommunistischen PCP und der Gewerkschaften trug dazu bei, die Arbeitsbedingungen zu verbessern und den Sozialstaat auszubauen. Auch das Thema Sicherheit konnte die Rechte nicht ausbeuten, weil die Erinnerung an die autoritätskritische, zentrale Rolle der Soldaten bei der Nelkenrevolution lange präsent blieb. Zudem sicherte die maßgeblich von Sozialisten erarbeitete Verfassung von 1976 wichtige Errungenschaften der Revolution: die Agrarreform, das kostenlose Gesundheitswesen, und auch die Verstaatlichungen, die für unumkehrbar erklärt wurden.
Das alles wurde ab Mitte der 1980er Jahre Stück für Stück demontiert. Nach zwei Interventionen des IWF (1977 und 1983) und dem 1986 erfolgten Beitritt Portugals zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wurde die Verfassung mit dem Ziel geändert, das Wirtschaftssystem zu liberalisieren, Privatisierungen zu erleichtern, die staatliche Planwirtschaft und den staatlichen Sektor insgesamt einzuschränken und die Agrarreform zu streichen.
Die im Zuge der EU-Integration fließenden Gelder dienten zwar dazu, Bereiche wie das Telekommunikations- und Straßennetz zu modernisieren, aber andere Bereiche wie die Textilindustrie im Norden wurden durch die Öffnung für den internationalen Wettbewerb ruiniert. Die beträchtlichen Kapitalzuflüsse nach Portugals Beitritt zur Eurozone verstärkte den Trend zu einer Produktionsspezialisierung, der am Ende, verstärkt durch Krise von 2008, vor allem den Tourismus und dem Immobiliensektor förderte.
Insgesamt hat damit die starke sozioökonomische, territoriale und ökologische Ungleichheit noch zugenommen. Während sich ein Großteil der Bevölkerung im Stich gelassen fühlt, haben einzelne Sektoren (Finanzen, Immobilien) von jeder Krise profitiert. Gerade sie setzen nun auf die Rechtsextremen, deren politisches Programm, ihren ökonomischen Interessen entgegenkommt.
Die Ziele der Chega-Führung sind klar. Sie wollen dem eingespielten politischen Machtwechsel zwischen den zwei großen Blöcken, dem liberalen und dem sozialistischen, ein Ende machen. Ihr Ziel ist eine Dreiparteienlandschaft, in der sie ihre neoliberale, sicherheitsfixierte und zuwanderungsfeindliche Agenda durchsetzen können. Dazu erstreben sie eine Allianz zwischen den konservativsten Kräften und dem Teil des Bürgertums, das sein Geld im Immobilien- und im Agrarsektor macht.
Venturas Rede am Wahlabend klang für diejenigen, die sich um die Verteidigung der vor 50 Jahren erstandenen Demokratie sorgen, wie eine düstere Warnung: In seiner Bilanz „unserer Geschichte seit dem 25. April“ beklagte er „Jahrzehnte der Manipulation und Dominanz der Linksextremen und der Linken“, die staatliche Institutionen und die Wirtschaft „gleichgeschaltet“ habe. Portugal sei „ein zum Schweigen verdammtes Land, in dem für viele Menschen das Land des April zur Enttäuschung des April wurde“.
Damit macht André Ventura deutlich, dass der Bezug auf die Revolution von 1974 selbst für Rechtsextremisten unverzichtbar ist. Für die Linke dagegen bleibt die kollektive Erinnerung der Portugiesen ein politischer Auftrag.
1 Mafalda Alonso und Brigitte Kleine, „Nelken für die Revolution“, arte, HR, 2024.
2 „Há minorias que se acham acima da lei. Temos tido excessiva tolerância“, 12. Juli 2017, politicaaominuto.com, 12. Juli 2017.
3 Siehe Pauline Perrenot und Vladimir Slonska-Malvaud, „Die Toten geben keine Ruhe“, LMd, November 2019.
4 Das portugiesische Medianeinkommen lag 2023 bei 1500 Euro, siehe die Daten der staatlichen Arbeitsbehörde vom 17. November 2023.
5 Das Delikt Hassreden hat von 2022 auf 2023 um 38 Prozent zugenommen, siehe: Diário de Notícias, 9. Februar 2024.
6 Zahlen des Nationalen Statistikinstituts vom 7. Februar 2024.
7 Siehe Mickaël Correia, „Portugals prekäres Wunder“, LMd, September 2019.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Sandra Monteiro ist die Leiterin der portugiesischen Ausgabe von Le Monde diplomatique.