Blutige Geschichte: Kampf um die Erinnerung an die Kolonialzeit
Die Nelkenrevolution beendete die brutalen Kolonialkriege Portugals. Heute erinnern Zeitzeug:innen an die oft vergessene Geschichte –während die erstarkte extreme Rechte diese umdeuten will.
Wenn Portugal in diesen Tagen der Nelkenrevolution vor fünfzig Jahren gedenkt, kommen auch bei Adul Carimo Só Erinnerungen hoch. «Selbstverständlich gab es in Portugal während der Diktatur massive Repression, aber das grösste Leid haben wir in den Kolonien erfahren.» Só, 61 Jahre alt, Schnurrbart, sitzt im Café eines Einkaufszentrums. Während er spricht, schwingen seine mit dicken Ringen geschmückten Hände durch die Luft. Hier, im Nordwesten Lissabons, leben viele Menschen aus den ehemaligen afrikanischen Kolonien. Von dort, genauer Portugiesisch-Guinea, kam auch Só 1989 nach Portugal. Einst Mitglied der Sozialistischen Partei auf Madeira, ist er heute eine wichtige Figur in der guineischen Community Lissabons.
Só wuchs in Bafatá auf, einer Stadt im Landesinnern Guinea-Bissaus. Einmal, erinnert er sich, sei er von Kolonialsoldaten verhaftet worden, weil er Fussball auf der Strasse gespielt habe. Da war er gerade einmal sechs Jahre alt. «In der Schule unterrichteten sie uns die Geschichte und Geografie Portugals», erinnert er sich. «Aber wir lernten nichts über unser eigenes Land.»
Salazars Lusotropikalismus
Die portugiesische Diktatur richtete ihre Herrschaft ganz auf den Erhalt des Kolonialreichs aus. Während in den 1960er Jahren ehemalige Kolonien rund um die Welt ihre Unabhängigkeit feierten, klammerte sich Portugal als letzte Kolonialmacht erbittert an die Reste des Imperiums. Neben einem nationalistischen Grössenwahn spielten anfänglich auch wirtschaftliche Aspekte eine zentrale Rolle für das Beharren. Portugal war von den rohstoffreichen afrikanischen Kolonien abhängig, die zusammen 23 Mal so gross waren wie das eigentliche Staatsgebiet.
Diktator António de Oliveira Salazar bediente sich der Theorie des sogenannten Lusotropikalismus, um seinen Machtanspruch in Afrika zu rechtfertigen: Portugal sei keine aggressive Kolonialmacht, sondern fördere ein friedliches und tolerantes Nebeneinander. Doch dieser Mythos wurde spätestens Anfang der 1960er Jahre entzaubert, als Unabhängigkeitsbewegungen den bewaffneten Kampf gegen die Kolonialmacht aufnahmen. Startpunkt war Angola.
Dort lebte Nuno Simões, ein weisser Portugiese. Simões war ein Jahr alt, als sein Vater – ein Beamter aus linksintellektuellem Milieu – wie viele andere mit der Familie nach Angola übersiedelte. Als junger Medizinstudent schloss sich Simões später der marxistisch orientierten Unabhängigkeitsbewegung MPLA an. «Die Situation war nicht so schlimm wie in Südafrika, aber auch Angola war stark segregiert.» Weisse lebten in den Städten, Schwarze in der Peripherie. Die Ungleichheit war gross, Widerstand gegen das Regime wurde brutal niedergeschlagen. Simões verliess Angola, nachdem er, wie viele andere Portugiesen, 1978 von der MPLA ausgeschlossen wurde. Heute lebt der 71-Jährige in einer geräumigen Wohnung im Osten Lissabons und pflegt noch immer Kontakt zu Bekannten von damals. Ein Zebrafell auf dem Dielenboden erinnert an die einstige Heimat.
Traumatisierte Soldaten
Auch in den anderen «Überseeprovinzen», wie die Diktatur die Kolonien gerne nannte, war das Aufbäumen bald nicht mehr aufzuhalten – und stürzte Portugal in einen blutigen Mehrfrontenkrieg. Só erinnert sich genau daran, wie die ersten Militärhubschrauber am Himmel kreisten und der Krieg seinen Lauf nahm. Offiziell ging es darum, die als «Terroristen» gebrandmarkten Unabhängigkeitskämpfer:innen auszuschalten. Doch auch die Zivilbevölkerung litt, einige von Sós Verwandten wurden im Bombenhagel verletzt. Massaker, Folter und Napalmangriffe waren nur einige der Schandtaten.
Die Unabhängigkeitsbewegungen in Angola, Moçambique und Guinea-Bissau setzten auf Guerillaaktionen und wurden dabei von den sozialistischen Staaten unterstützt. Portugal wiederum erhielt Schützenhilfe vom Apartheidregime Südafrikas. Einige europäische Staaten griffen dem Nato-Gründungsmitglied mit Waffenlieferungen unter die Arme. Trotzdem waren die Kriege für Portugal nicht zu gewinnen. Só meint: «Die Kolonialregierung erlebte in Guinea-Bissau ihren Vietnam-Moment.» Am 24. September 1973 erklärte das westafrikanische Land einseitig seine Unabhängigkeit. Wirtschaftlich war Guinea-Bissau für Portugal völlig unwichtig, aber die Niederlage signalisierte einen Machtverlust – und den Anfang vom Ende der Diktatur.
Denn die Kriege zermürbten die portugiesische Gesellschaft und bluteten das Land wirtschaftlich aus. Fast sechzig Prozent des Staatshaushalts wurden in den Überseekriegen verpulvert. Anfänglich hatten auch oppositionelle Kräfte – mit Ausnahme der Kommunist:innen – die Kriege befürwortet. Doch zunehmend stiess das imperiale Beharren inmitten allgemeiner Entkolonialisierungstendenzen auf Widerstand. Viele Soldaten kamen verstümmelt und schwer traumatisiert aus den Kolonien zurück. 8300 portugiesische Soldaten und mehr als 100 000 Afrikaner:innen liessen dort ihr Leben. Die Unzufriedenheit wuchs, viele Offiziere erkannten die Unsinnigkeit der Kriege. Schliesslich konspirierten oppositionelle Soldaten und putschten am 25. April 1974. Vier Jahrzehnte Diktatur und 500 Jahre Kolonialzeit endeten.
Portugal zog sich überstürzt zurück, entliess seine letzten Kolonien Guinea, Angola und Moçambique auf dem afrikanischen Kontinent in die Unabhängigkeit – und hinterliess vielerorts Chaos und Zerstörung. In Angola folgte ein jahrzehntelanger Bürgerkrieg.
Streit um Denkmal
Während die Nelkenrevolution in Portugal heute omnipräsent ist, tut sich das Land mit der Erinnerung an die Kolonialgeschichte immer noch schwer. Auf der einen Seite werden an den Hochschulen kritische Debatten lauter, das Land ist heute stark multikulturell geprägt. Portugies:innen mit afrikanischen Wurzeln, NGOs und linke Parteien kämpfen seit langem für eine zeitgemässe Erinnerungskultur. Im April 2023 sagte Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa, Portugal solle sich für seine zentrale Rolle im transatlantischen Sklav:innenhandel entschuldigen und sich seiner Geschichte stellen. Auf der anderen Seite verdrängen weite Teile der Bevölkerung immer noch die Verbrechen der Kolonialzeit. Die rechtspopulistische Chega-Partei macht Stimmung gegen eine Neubewertung der Geschichte. Und das Selbstverständnis als Entdeckernation und mythische Verklärungen einer angeblich glorreichen Vergangenheit verhindern oftmals einen realistischen Blick.
Das schwierige Erbe zeigt auch die Debatte um ein Bauwerk am Ufer des Tejo in der Hauptstadt Lissabon. Das «Denkmal der Entdeckungen» wurde 1960 errichtet, zur Hochzeit der Diktatur. Es ist eine in Beton gegossene, 56 Meter hohe Hommage an Heinrich den Seefahrer, den Initiator der portugiesischen Entdeckungsreisen im 15. Jahrhundert. Das Monument fehlt in keinem Reiseführer. Für die einen ist das Denkmal das Relikt einer stolzen Seefahrernation. Für die anderen ist es ein Monument der Schande. Einige Aktivist:innen wollen es abreissen lassen, mehrfach wurde es beschmiert. Auf einem Graffito hiess es: «Die Menschheit segelt blindlings nach Geld und ertrinkt in einem scharlachroten Meer.» Es wurde inzwischen entfernt.