Portugal: Ärger im linken Paradies

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Vor der Präsidentschaftswahl in Portugal sorgen nicht die linken Erfolge für Gesprächsstoff, sondern der rasante Aufstieg der extremen Rechten. Denn offiziell existierte diese bis vor kurzem nicht.

Präsidentin wird sie wohl nicht: Sozialdemokratin Ana Gomes tritt an, um einen Achtungserfolg des Rechtsaussenkandidaten zu verhindern. Foto: Horacio Villalobos, Getty

Es ist Montagabend, und im TV-Studio des portugiesischen Senders SIC Notícias sitzen sich zwei linke Politikerinnen gegenüber. Beide wollen die nächste Präsidentin Portugals werden. Und beide haben schlechte Karten, denn die Wiederwahl des Konservativen Marcelo Rebelo de Sousa gilt als sicher.

Die Debatte zwischen der Sozialdemokratin Ana Gomes und Marisa Matias vom Bloco de Esquerda (linker Block) ist höflich, ja fast schon freundschaftlich. Nicht nur, weil sich die Kandidatinnen in vielen politischen Fragen einig sind, sondern auch, weil sie einen gemeinsamen Gegner haben. Dieser ist nicht der amtierende Präsident, den laut einer aktuellen Umfrage zwei Drittel der PortugiesInnen wiederwählen wollen, sondern der Kandidat der extremen Rechten. Damit hatte ein Jahr zuvor noch niemand gerechnet.

Im Nachgang zu den Parlamentswahlen von 2019 waren sich die europäischen Medien einig: Die Linke hatte in Portugal erneut gesiegt. Eine Ausnahmeerscheinung in der Europäischen Union, wo ansonsten, egal ob in Grossbritannien, Italien oder Ungarn, rechtspopulistische Parteien Zulauf haben, während die traditionelle Sozialdemokratie zunehmend an Einfluss verliert. Es hiess, in Portugal gebe es kein Potenzial für Rechtspopulismus und -extremismus: Die 2019 gegründete Partei Chega erreichte mit 1,3 Prozent Stimmenanteil einen einzigen Sitz im Parlament.

Nun, etwas mehr als ein Jahr später, stehen die Präsidentschaftswahlen an, und die politischen Machtverhältnisse scheinen infrage gestellt. Glaubt man den Umfragen, bleiben die linken KandidatInnen gegen den äusserst beliebten Marcelo Rebelo de Sousa chancenlos. Gleichzeitig liefern sich Chega-Kandidat André Ventura und Sozialdemokratin Gomes mit jeweils über zehn Prozent der WählerInnenstimmen ein Kopf-an-Kopf-Rennen um den zweiten Platz. Wie konnte es dazu kommen?

Das neue Angebot

«Die Nachfrage nach einer Partei wie Chega existierte bereits», lautet die Einschätzung des Politologen Pedro Magalhães. Allein das Angebot fehlte, was sich mit der Parlamentswahl geändert habe. Obwohl André Ventura 2019 als einziger Abgeordneter den Sprung ins Parlament schaffte, habe seine Wahl zur Normalisierung der Partei und ihrer Positionen geführt. Das Parteiprogramm von Chega gleicht auf den ersten Blick dem anderer Rechtsaussenparteien: Chega (zu Deutsch: Genug) inszeniert sich als Anti-Establishment-Partei und gibt sich betont staatskritisch. Bestandteil des Parteiprogramms sind unter anderem ein neoliberaler Wirtschaftskurs, die Forderung nach Grenzschliessungen und ein Verbot von Abtreibungen. Auch Homophobie und Xenophobie sind, wie für Parteien der extremen Rechten üblich, integraler Bestandteil der Chega-Propaganda.

Und doch ist der portugiesische Kontext aussergewöhnlich: So ist in Portugal etwa eine EU-freundliche Haltung bis an den rechten Rand verbreitet, und auch der Hass auf MigrantInnen funktioniert als Mobilisierungstreiber schlecht. Portugal war jahrzehntelang ein Abwanderungsland und zieht erst seit wenigen Jahren vermehrt MigrantInnen an, die zudem oft aus ehemaligen portugiesischen Kolonien stammen. Gleichzeitig hat die Erinnerung an die erst 1974 beendete Diktatur dazu geführt, dass faschistisches Gedankengut bis vor kurzem als nicht salonfähig galt. Chega-PolitikerInnen vermeiden daher positive Bezüge zu Diktator António de Oliveira Salazar.

«Bis vor kurzem herrschte die Meinung vor, es gebe keinen Rassismus in Portugal», erklärt der Politjournalist und Wahlexperte Daniel Oliveira. Dass öffentlich über das Thema diskutiert werde, sei eine neue Entwicklung. Ventura und seine Partei arbeiten daran, den Rahmen dessen, was politisch sag- und denkbar ist, nach rechts auszuweiten. Der Chega-Abgeordnete schockierte im vergangenen Jahr wiederholt mit Hetze gegen Sinti, Roma und Schwarze.

Der Selfiekönig

Venturas Aufstieg ist auch deshalb erstaunlich, weil die Linke eine erfolgreiche Bilanz vorweisen kann. Im Nachgang zur Eurokrise von 2010 verfolgte die damalige konservative Regierung eine desaströse Austeritätspolitik, für die sie fünf Jahre später bei den Parlamentswahlen abgestraft wurde. Die Linke ging als klare Siegerin aus den Wahlen hervor und nahm einen Kurswechsel vor, der sich bezahlt machte: Der Koalitionsregierung unter der Führung der SozialdemokratInnen (Partido Socialista, PS) gelang es nach 2015, die Zahl der Arbeitslosen zu halbieren, die Wirtschaft anzukurbeln und trotz einer Erhöhung der Sozialausgaben Schulden abzubauen.

Die portugiesische Stimmbevölkerung hiess diese Politik bei den Wahlen von 2019 gut und bestätigte damit die linke Koalition, der neben dem PS auch der Bloco de Esquerda, die Kommunistische Partei und die Grünen angehören. Trotz dieser erfolgreichen Zusammenarbeit kandidieren bei den anstehenden Wahlen nicht nur Ana Gomes und Marisa Matias, sondern mit João Ferreira von der Kommunistischen Partei auch noch ein dritter linker Kandidat für die PräsidentInnenschaft.

Die Kandidaturen würden vom Bloco und den KommunistInnen normalerweise benützt, um ihre politischen Themen zu platzieren, sagt Journalist Oliveira, selbst ehemaliges Mitglied und Mitgründer des Bloco. Dass die Chancen auf einen Wahlerfolg verschwindend gering sein würden, war allen klar: Seit der Nelkenrevolution und der damit endenden rund vierzigjährigen Diktatur wurden alle demokratisch gewählten Präsidenten jeweils für eine zweite Amtszeit bestätigt.

Der amtierende Rebelo de Sousa ist so beliebt wie kein anderer Präsident vor ihm. Marcelo, wie er genannt wird, gibt sich volksnah und lässt keine Gelegenheit aus, um für Selfies mit Fans zu posieren. Politisch hat er hingegen bisher kaum von sich reden gemacht, was auch in der Natur seines Amtes liegt: Die Funktion des Premierministers ist in Portugal ungleich wichtiger als die der Präsidentin. Trotzdem ist das Amt des Staatspräsidenten nicht ausschliesslich ein repräsentatives. So hat der Präsident etwa ein Gesetzgebungsveto sowie die Aufgabe, den Premierminister zu ernennen – aktuell ist dies der sozialdemokratische António Costa (PS). Obwohl aus unterschiedlichen politischen Lagern stammend, verbindet Premier und Präsident nicht nur die gute Zusammenarbeit, sondern auch eine langjährige Freundschaft.

Diese Idylle könnte in den nächsten Jahren Risse erhalten, glaubt Politologe Magalhães: «Da eine erneute Wiederwahl nicht möglich ist, tendieren Präsidenten in ihrer zweiten Legislatur dazu, sich stärker ins politische Geschehen einzumischen.» Befürchtungen, dass sich die Zusammenarbeit mit Rebelo de Sousa in Zukunft weniger harmonisch gestalten könnte, scheint Premier Costa keine zu haben. Offiziell haben die SozialdemokratInnen Stimmfreigabe beschlossen. Laut Umfragen hat eine Mehrheit ihrer WählerInnenschaft vor, Rebelo de Sousa in seinem Amt zu bestätigen. Die PS-Politikerin Ana Gomes wird hingegen von ihrer eigenen Partei offiziell nicht unterstützt.

Fehlende Einigkeit

Unter anderen Umständen wäre die 66-jährige Gomes wohl eine ideale Kandidatin gewesen: Fünfzehn Jahre lang war die Sozialdemokratin Abgeordnete im EU-Parlament und machte sich unter anderem in ihrer Rolle als portugiesische Botschafterin in Indonesien einen Namen, wo sie sich für die Unabhängigkeit Osttimors einsetzte. Bekannt und beliebt ist Gomes in der Bevölkerung auch für ihren konsequenten Kampf gegen Korruption, dem sie gleichzeitig ihren Ruf als Populistin zu verdanken hat. Mit der öffentlichen Unterstützung von Whistleblowerinnen und Hackern ging sie jedoch auch innerhalb ihrer eigenen Partei vielen zu weit.

Journalist Daniel Oliveira glaubt, dass Gomes’ Kandidatur als Versuch gewertet werden müsse, ein noch besseres Abschneiden des Rechtsaussenkandidaten André Ventura zu verhindern. Denn ein persönlicher oder politischer Nutzen wird der Sozialdemokratin aus der Kandidatur kaum erwachsen.

Ein Achtungserfolg von Ventura hätte aber vor allem dann verhindert werden können, wenn sich die Linke auf eine einzige Kandidatur geeinigt hätte. Das Verdikt von Politologe Magalhães: «Den linken Parteien war der eigene Wahlkampf wichtiger als die Demonstration von Geschlossenheit gegen Rechts.» Theoretisch ist es für Einigkeit noch nicht zu spät, denn die PortugiesInnen stimmen erst am 24. Januar ab. Marisa Matias und João Ferreira hätten bis dahin also noch Zeit, ihre Kandidaturen zurückzuziehen.

Dass diese Idee tatsächlich noch im Raum steht, lässt Gomes während der TV-Debatte mit Matias durchblicken: «Vor dem Tag, der auf die Wahlen folgt, gibt es noch den Tag vor den Wahlen», sagt die Sozialdemokratin etwas kryptisch. Und im darauffolgenden Satz: «Ich stehe einem Zusammenschluss der Linken nicht im Weg.»

Spätestens am Tag nach den Wahlen sollten die linken Kräfte gegen Chega gebündelt werden – dass Ventura den Einfluss seiner Partei bis zu den Parlamentswahlen 2023 weiter ausbauen kann, damit muss gerechnet werden.

Portugiesinnen in der Schweiz: Erschwerte Wahl

Während in Portugal bereits Monate im Voraus Massnahmen geplant wurden, um einen reibungslosen Ablauf der Wahlen trotz Corona garantieren zu können, gingen die 1,5 Millionen Portugiesinnen und Portugiesen, die ausserhalb der Landesgrenze in Europa leben, vergessen.

Im Oktober hatte sich der Regionalrat der portugiesischen Gemeinden Europas beim Ministerium für auswärtige Angelegenheiten erkundigt, unter welchen Voraussetzungen das Wahlprozedere im Ausland erfolge. Die Antwort der Regierung fiel ernüchternd aus: Da eine briefliche Wahl nicht vorgesehen sei, hätte man die Verfassung oder die Wahlgesetze ändern müssen – wofür es aber bereits zu spät sei.

Auch die über 260 000 in der Schweiz lebenden PortugiesInnen können ihre Stimme nur persönlich am 23. oder 24. Januar auf der Botschaft oder auf einem der vier Konsulate abgeben. Die meisten Räumlichkeiten der konsularischen Vertretungen seien enge Büros, sagt Domingo Perreira, Mitglied des Regionalrats der portugiesischen Gemeinden in Europa und Vorstand des Centro Lusitano in der Schweiz. Wie dort Abstandsregeln und andere Schutzmassnahmen eingehalten werden sollen, sei unklar, insbesondere bei der grossen Anzahl Personen, die theoretisch stimmberechtigt sind: «Alleine im Kanton Zürich leben 20 000 PortugiesInnen», so Pereira. Hinzu kämen zusätzlich stimmwillige Personen aus anderen Kantonen.

Pereira ist vom Versäumnis der Landesregierung enttäuscht: «Man konnte für so viele andere Probleme eine Lösung finden, warum ist das ausgerechnet bei der Wahrnehmung eines demokratischen Grundrechts nicht möglich?»

Ayse Turcan