Bedrohte Diaspora
Der Exodus aus Afghanistan hat eigentlich niemals aufgehört. Doch die erneute Machtergreifung der Taliban im August 2021 trieb Hunderttausende in eine überstürzte Flucht. Eine gewaltige Menschenmenge versuchte damals auf das Flughafengelände von Kabul zu gelangen; 123 000 Menschen wurden unter chaotischen Umständen über eine Luftbrücke verschiedener Nato-Staaten evakuiert. Und Hunderttausende blieben zurück.
Damals verlangte der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) von allen Staaten, „aus Afghanistan flüchtenden Zivilisten Zugang zu ihrem Territorium zu gewähren und den Grundsatz der Nichtzurückweisung einzuhalten“.1 Iran und Pakistan, die bereits 85 Prozent der afghanischen Geflüchteten aufgenommen hatten, folgten der Aufforderung nicht, sondern beschränkten den Zugang zu ihren Ländern auf Inhaber eines Passes, eines Visums oder, in Pakistan, einer tazkera (afghanischer Personalausweis).2
Trotz dieser Einschränkungen verlassen weiterhin viele Afghan:innen das Land. Für durchschnittlich 350 Dollar gelangt man von Sarandsch in Nimrus, der am dünnsten besiedelten Provinz Afghanistans, nach Teheran. Belutschische Fluchthelfer bringen die Reisenden mit Pick-ups ins pakistanische Belutschistan. Dort beginnt ein langer Marsch in die iranische Provinz Sistan und Belutschistan.
Täglich sollen ungefähr 5000 Afghan:innen in Iran ankommen, die meisten illegal. Fast zwei Drittel von ihnen werden schnell zurückgeschickt.3 Seit Ende 2023 hat die Zahl der Ausweisungen noch einmal rasant zugenommen. Der Kommandeur der iranischen Grenztruppen in der Provinz Razavi-Khorasan erklärte Anfang Februar 2024, dass binnen 15 Tagen 20 000 Afghan:innen ausgewiesen worden seien. Zwischen Januar und November 2023 wurden nach UNHCR-Angaben 631 000 Afghan:innen aus Iran deportiert.4
Viele Bewohner der mehrheitlich schiitischen Region Hazaradschat haben sich schon seit Ende der 1970er Jahre, nach der sowjetischen Invasion Aghanistans, auf den Weg nach Iran gemacht. Bereits hundert Jahre zuvor, in den 1890er Jahren, waren Mitglieder dieser diskriminierten Minderheit vor den Pogromen unter dem Emir Abdur Rahman nach Maschhad (Iran) und Quetta (Pakistan) geflohen.
Mehr als 500 000 Hazara leben heute in den Vororten Mariabad und Hazara Town am Rande von Quetta, wo über die Netzwerke der Migranten ein reger Austausch zwischen Afghanistan und Iran stattfindet. Die Verstreuung der Familien, die einen großräumigen Handel mit Waren und Finanzen fördere, sei geradezu Teil einer Strategie der sozioökonomischen Anpassung geworden, schreiben Tina Gehrig und Alessandro Monsutti in ihrer Studie über afghanische Exilant:innen.5
Während die Hazara seit mehr als einem Jahrhundert in den Grenzregionen zwischen Iran und dem pakistanischen Belutschistan siedeln, bevorzugen die sunnitischen Afghanen und Paschtunen Pakistan. Doch wer sich auf den Weg in die Türkei und nach Europa macht, kommt um Iran nicht herum.
In Pakistan sei es den afghanischen Geflüchteten lange Zeit relativ gut gegangen, erklärt Karim Pakzad, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut de relations internationales et stratégiques (Iris): „Wenn Afghanen ihre Situation in Iran beklagten, führten sie gern Pakistan als Vorbild an. Dort fühlten sie sich besser aufgenommen.“
Dabei hat auch Pakistan schon immer Afghan:innen ausgewiesen. Doch das Ausmaß der Massenabschiebungen im Herbst 2023 hat viele überrumpelt. Die Regierung in Islamabad hatte zum 1. November die Ausweisung von 1,7 Millionen afghanischen Flüchtlingen ohne Aufenthaltspapiere angeordnet, die zum Teil seit Generationen in Pakistan lebten. Zwischen Mitte September und Ende November zwangen die Behörden 375 000 Menschen, das Land zu verlassen. Aus Furcht vor nächtlichen Razzien hatten sich viele allerdings bereits von selbst auf den Weg gemacht. Die schlechte Behandlung, die ihnen zuteil wurde, wenn sie von der Polizei festgenommen und eingesperrt wurden, sei Teil der Regierungsstrategie, berichteten Journalisten und Menschenrechtsaktivisten.6
Um die aggressive Abschiebepolitik zu rechtfertigen, verweist die Regierung in Islamabad auf eine angebliche Sicherheitsbedrohung durch die rund vier Millionen Afghanen in Pakistan. Afghanistan diene den pakistanischen Taliban (TTP) als Rückzugsort. Die aus dem Zusammenschluss verschiedener islamistischer Gruppen 2007 entstandene Miliz und die afghanischen Taliban teilen zwar dieselbe Ideologie, aber ihre Ziele unterscheiden sich. So möchte die Regierung in Kabul nicht mit den TTP in Zusammenhang gebracht werden, die immer häufiger Anschläge auf die pakistanischen Sicherheitskräfte verüben.
Die Massenabschiebungen wurden vom Islamischen Emirat Afghanistan als demütigend und willkürlich bezeichnet. Trotzdem haben die Behörden versucht, die hunderttausenden Flüchtlinge, die oft gar keine Beziehung zu ihrem Herkunftsland mehr haben, irgendwie aufzunehmen.
Nach den Worten von Jean-François Cautain, ehemaliger EU-Botschafter in Pakistan, der heute für das European Institute of Peace in Kabul arbeitet, hätten die Taliban sehr wohl erkannt, dass es sich politisch auszahlen würde, wenn sie sich um die Ausgewiesenen gut kümmern würden.
So hätten die Taliban an den Grenzübergängen Zelte errichtet, jeder Familie Geld gegeben und Armee-Lkws zur Verfügung gestellt, um die Familien in ihre Herkunftsprovinzen zu bringen. Mobiltelefonunternehmen wurden aufgefordert, SIM-Karten mit Gratis-Guthaben zu verteilen. „Das Vorgehen der Regierung wurde von vielen Afghanen gewürdigt“, so Cautain.
Haroun Rahimi, Dekan der juristischen Fakultät der American University of Afghanistan, die seit 2021 in Katar angesiedelt ist, verweist darauf, dass viele afghanische Flüchtlinge in Pakistan gehofft hatten, durch das UNHCR in ein anderes Land, bevorzugt ein europäisches, gebracht zu werden. „Sie wurden in ständiger Ungewissheit gehalten. Genauso wie die ehemaligen Ortskräfte, die wegen ihrer Tätigkeit für die USA oder für die Europäer schon einen Aufnahmeantrag gestellt hatten. Das ist zutiefst ungerecht und grausam.“
Während Iran und Pakistan Afghan:innen in großer Zahl ausweisen, haben die europäischen Staaten seit der Machtübernahme der Taliban die Abschiebungen ausgesetzt. Die EU verschließt jedoch die Augen vor den systematischen Ausweisungen der Türkei nach Afghanistan.
Laut Human Rights Watch hat die Zahl der Abschiebeflüge sowie der Pushbacks an der türkisch-iranischen Grenze seit der erneuten Machtübernahme durch die Taliban sogar zugenommen. In den ersten acht Monaten 2022 seien 44 768 Menschen aus Afghanistan auf dem Luftweg nach Kabul abgeschoben worden: „Das entspricht einem Anstieg von 150 Prozent gegenüber den ersten acht Monaten des Jahres 2021.“
Nach türkischen Angaben handelt es sich dabei um „freiwillige Ausreisen“. Eine Fiktion, widerspricht Human Rights Watch: „Viele Afghanen, denen eine Abschiebung droht, haben keine Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen oder ihre Abschiebung auf andere Weise anzufechten. Ihre Unterschriften oder Fingerabdrücke auf Formularen zur freiwilligen Rückkehr werden oft erzwungen, durch Täuschung erlangt oder gefälscht.“7
In Iran haben viele Afghan:innen, die seit 40 Jahren oder länger im Land leben, Familien und kleine Textil- oder Baufirmen gegründet. Ihre Kinder sind hier geboren und haben nie in Afghanistan gelebt. Trotzdem ist ihr Status prekär und ihre Rechte bleiben eingeschränkt.
Sawar aus Safadascht (Provinz Teheran) kam kurz nach der Islamischen Revolution 1979 nach Iran. Wie viele bedauert er, dass er sich damals nicht um die iranische Staatsbürgerschaft bemüht hat, was mit einigen Tricks möglich gewesen wäre, heute aber ausgeschlossen ist. „Damals hatten meine Mitreisenden und ich nicht vor, unser ganzes Leben hier zu verbringen, wir waren stolz, Afghanen zu sein und wollten keinen anderen Pass“, erzählt Sawar. Wie alle seine Landsleute, die legal in Iran leben, muss er sich jedes Jahr einem komplizierten und kostspieligen Verfahren unterwerfen, um sein Visum zu verlängern.
Ohne das Recht auf Grundbesitz und freie Wohnortwahl versuchen mittlerweile immer mehr Afghan:innen, Iran zu verlassen. Immer häufiger heißt das Ziel Brasilien, wohin sie mit einem humanitären Visum oder über Vermittlungsagenturen zu gelangen hoffen. Von dort wollen sie weiter in die USA oder nach Kanada, ohne offensichtlich eine Vorstellung davon zu haben, wie weit, teuer und gefährlich das ist – angefangen beim gefürchteten Tapón del Darién, einem 160 Kilometer breiten Urwald- und Sumpfgebiet zwischen Kolumbien und Panama.
Ähnliches gilt für die Routen Richtung Europa. Wenn die Flüchtenden nicht in der Türkei aufgehalten werden und es in einem überfüllten, kaum seetauglichen Boot übers Mittelmeer schaffen, drohen ihnen an den Außengrenzen des Schengenraums völkerrechtswidrige Pushbacks oder Auffanglager, die Gefängnissen gleichen. Line Golestani
1 „UNHCR position on returns to Afghanistan“, UNHCR, August 2021.
2 „Like an obstacle course: Few routes to safety for Afghans trying to flee their country“, Amnesty International, Oktober 2021.
3 „Afghanistan Situation Response in Iran – As of 31 August 2022“, UNHCR, 29. September 2022.
4 „Iran: déportations vers l’Afghanistan“, Organisation suisse d’aide aux réfugiés (OSAR), Bern, 23. April 2024.
5 Tina Gehrig und Alessandro Monsutti, „Territoires, flux et représentations de l’exil afghan: le cas des Hazaras et des Kaboulis“, in: A Contrario, Bd.1, Nr. 1, Lausanne, 2003.
6 Siehe „Pakistan: Widespread Abuses Force Afghans to Leave“, Human Rights Watch, 29. November 2023.
7 „Türkei: Pushbacks gegen Afghanen an der Grenze zum Iran“, Human Rights Watch, 18. November 2022.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Line Golestani ist Journalistin.