Flucht aus Afghanistan: Humanitäre Ausrede
Hunderttausende Afghan:innen versuchen seit der Machtübernahme der Taliban, in den Iran zu flüchten. Das Staatssekretariat für Migration weiss, dass sie dort kein Asyl erhalten. Dennoch werden kaum humanitäre Visa erteilt.
«Wo lebt Ihre Tochter? Was ist sie von Beruf? Wird sie bedroht?» Es ist Freitagnachmittag, und im Luzerner Flüchtlingstreff Hello Welcome stellt Renate Metzger-Breitenfellner zügig und routiniert ihre Fragen. Gemeinsam mit Dolmetscher und Mitarbeiter Reza Hosseini hat sie schon viele solcher Gespräche geführt.
Den beiden gegenüber sitzt ein afghanischer Vater, der kurz vor der Pensionierung steht. Er lebt seit sieben Jahren hier, nun möchte er seine achtzehnjährige Tochter in die sichere Schweiz retten: Seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 muss sie sich in Kabul versteckt halten.
Rund 200 Menschen aus Afghanistan hat Hello Welcome in den letzten eineinhalb Jahren beraten. Wie in einem Bienenstock sei es an Beratungstagen zugegangen, erzählt Metzger. «Sogar aus dem Wallis sind Geflüchtete gekommen, um Unterstützung zu erhalten, damit sie ihre Familienmitglieder in Sicherheit bringen können.» Die Angehörigen leben in Afghanistan, aber auch in umliegenden Staaten wie dem Iran oder Pakistan, wo viele nach der Machtergreifung der Taliban illegalisiert leben.
Minderjährige abgewiesen
Dolmetscher Hosseini, selbst als Jugendlicher über die Türkei und Griechenland in die Schweiz geflohen, ist bei vielen Gesprächen dabei. «Die Verzweiflung über die Situation der Familienmitglieder bedeutet für die Afghan:innen einen psychischen und physischen Stress.» Mit ein Grund dafür sei, dass die Familie in Afghanistan einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert habe: Grosseltern, Kinder, alle lebten im selben Haus. Als Hosseini in die Schweiz kam, waren für ihn Altersheime etwas Verstörendes.
Kürzlich machte die WOZ eine Rettungsaktion für afghanische Geflüchtete publik. Das Deutschschweizer PEN-Zentrum hat es geschafft, vierzig Afghan:innen die Ausreise zu ermöglichen (siehe WOZ Nr. 43/22). Eine erfreuliche Ausnahme in der Schweizer Asylpolitik – und ein Beweis dafür, dass sich zivilgesellschaftliches Engagement lohnt. Hier bei Hello Welcome, wo die grosse Zahl der Gesuche einen vertieften Einblick in die Thematik ermöglicht, zeigt sich die Regel: Lediglich in 3 der 200 behandelten Fälle bewilligten die Schweizer Botschaften in Teheran oder Islamabad ein humanitäres Visum für die Ausreise. Viele Gesuche wurden noch nicht einmal beantwortet.
Ein humanitäres Visum ist kein Asylgesuch. Doch es ermöglicht zumindest die Einreise in die Schweiz, um hier ein solches zu stellen. Damit wäre es ein probates Mittel, um Menschen auf der Flucht Zugang zum hiesigen Asylsystem zu verschaffen, ohne dass sie sich auf eine der oft tödlichen Fluchtrouten nach Europa begeben müssen. Bloss wenden die Schweizer Behörden das Mittel äusserst restriktiv an: Eine Person, die ein Gesuch stellt, muss nachweisen, dass sie unmittelbar an Leib und Leben bedroht ist. Ausserdem kann geprüft werden, ob sie sich in einem sicheren Drittstaat aufhält oder einen Bezug zur Schweiz hat, beispielsweise hier lebende Familienangehörige.
Renate Metzger zeigt eine der Standardantworten, mit denen Gesuche abgelehnt werden: «Fehlen einer offensichtlichen Gefährdung», so lautet die Begründung in Beamtendeutsch. «Die geltend gemachte Gefährdung stellt keine besondere Notsituation dar, die ein behördliches Eingreifen zwingend erforderlich macht.»
Eine solch enge Auslegung werde der Situation in Afghanistan nicht gerecht, erklärt Dolmetscher Reza Hosseini: Die Angehörigen der schiitischen Hasaraminderheit würden von den sunnitischen Taliban systematisch verfolgt. «Besonders in Gefahr sind die Frauen.» Metzger betont auch den mangelnden Schutz unbegleiteter Minderjähriger: Selbst wenn Geschwister in der Schweiz um deren Einreise nachsuchten, werde diese verwehrt.
Der Iran ist nicht sicher
Neben der restriktiven Auslegung der Verfolgung erweist sich auch das oft eingeforderte Kriterium des sicheren Drittstaats als problematisch: Einerseits ist es den Afghan:innen aufgrund des Fehlens einer diplomatischen Vertretung der Schweiz in Kabul gar nicht anders möglich, als in einem Drittstaat ein Gesuch für ein humanitäres Visum zu stellen. Und andererseits sind die Nachbarländer für Afghan:innen nicht sicher, wie eine Ende August publizierte Studie von Amnesty International zum Iran belegt.
Gemäss iranischen Behörden sind seit der Machtübernahme der Taliban eine halbe bis eine Million Afghan:innen ins Land geflüchtet. Weil der Iran seine Grenzen für Personen ohne Reisedokumente geschlossen hat, bleibt diesen oft nur der inoffizielle Weg über die Grenze. Viele kommen nicht weit, denn die iranischen Grenzsoldaten schiessen scharf. Amnesty dokumentiert im oben genannten Bericht elf Tötungen an der Grenze.
Obwohl der Iran die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet hat, kommt es an der Grenze zu rechtswidrigen Pushbacks. Afghan:innen, die es in den Iran schaffen, werden willkürlich inhaftiert und dann deportiert. Das Uno-Flüchtlingswerk UNHCR schätzt, dass die iranischen Behörden zwei Drittel aller ankommenden afghanischen Flüchtlinge zwangsweise zurückschaffen. Die Unsicherheit für die Geflüchteten dürfte seit Beginn der Revolte gegen das Regime nicht kleiner geworden sein.
Zwar bietet der Iran, der sich als Schutzmacht für Schiit:innen versteht, seit Jahrzehnten Millionen von Menschen aus Afghanistan Zuflucht. Viele von ihnen leben aber ohne Papiere im Land und werden als illegale Arbeitskräfte ausgebeutet. Gab es für Geflüchtete früher die Möglichkeit, einen Ausweis zu erlangen, ist das Asylsystem seit der Machtübernahme der Taliban im Nachbarland ausgesetzt. Das hält selbst das Schweizer Staatssekretariat für Migration (SEM) in einer aktuellen Länderanalyse fest. «Neu geflüchtete Personen erhalten de facto kein Asyl. In der Regel hindert die Regierung sie an einer Registrierung.»
Ein Hoffnungsschimmer
Dennoch leistet die Schweiz nur einen geringen Beitrag dazu, dass afghanische Geflüchtete den Iran sicher verlassen können. Wie das SEM auf Anfrage schreibt, wurden von der Botschaft in Teheran im laufenden Jahr von den 187 Gesuchen um ein humanitäres Visum 29 gutgeheissen. Zur Frage, ob der Iran angesichts des Amnesty-Berichts als sicherer Drittstaat gelten könne, heisst es: «Das SEM hat keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass sämtliche Afghaninnen und Afghanen in Iran von Abschiebung bedroht sind. Daher erfolgt eine Prüfung im Einzelfall.»
Am Schluss der Beratung des afghanischen Vaters bei Hello Welcome greift Metzger zum Telefon. Ein Anruf beim Sozialamt bringt die Erkenntnis, dass bisher kein Familiennachzug in Betracht gezogen wurde. Der Beamte am Telefon verspricht, dass er ein entsprechendes Gesuch einreichen werde. Weil die Tochter bereits volljährig ist, wird sie im Gegensatz zu den übrigen Familienmitgliedern vom Gesuch aber nicht erfasst werden können. Metzger will es mit einem Gesuch um ein humanitäres Visum probieren. Ein neuer Anlauf, den beschränkten Chancen zum Trotz.