Der universelle Argentinier
Wenn Johannes Paul II. der politische Papst war, als Leitfigur der Kämpfe gegen die kommunistischen Regime Osteuropas, und Benedikt XVI. der doktrinäre Papst, als intellektueller Theologe und Wächter des Konservatismus, dann war Franziskus der soziale Papst. Er hat das von Anfang an mit einer Reihe von Handlungen klargemacht: Als Ziel seiner ersten Reise wählte er die Insel Lampedusa, wo Italien der afrikanischen Küste am nächsten liegt und wo tausende Migrant:innen ankommen, die versuchen, nach Europa zu gelangen.
Der Größe seiner Aufgabe bewusst, aber allergisch gegen das zeremonielle Protokoll, machte er es zu seiner Priorität, die Ungerechtigkeiten der Welt zu benennen und anzuprangern. Franziskus versuchte die Aufmerksamkeit auf die vom System Ausgeschlossenen zu lenken, die Ausgestoßenen, diejenigen, die den immer strenger werdenden Ansprüchen der Märkte nicht entsprechen. Er war kein antikapitalistischer Papst. Aber wo immer er konnte, wies er doch auf die Ungleichheit hin, die die neoliberale und globalisierte Phase des gegenwärtigen Kapitalismus mit sich bringt.
Deshalb forderte er eine Kirche, die sich mit den Opfern identifiziert, indem sie sie in den Mittelpunkt stellt: „Seid Hirten, die nach Schaf riechen“, ermahnte er seine Priester. So weit es ihm möglich war, versuchte er innerhalb der Kirche eine inklusive Strömung zu fördern, etwa indem er die Regeln für Geschiedene lockerte, indem er sie an bestimmten Sakramenten teilhaben ließ (was ihnen zuvor verwehrt war). Er setzte sich für die kirchliche Segnung gleichgeschlechtlicher Paare ein und empfahl Eltern, ihre homosexuellen Kinder nicht aus dem Haus zu jagen. Er ließ sich mit trans Personen fotografieren, segnete Prostituierte. Seine Enzyklika Laudato si’ mit dem Titel „Über die Sorge für das gemeinsame Haus“ ist das wichtigste Dokument der Kirche, das sich für den ökologischen Schutz des Planeten einsetzt – eine beachtlich fortschrittliche Perspektive für eine naturgemäß so konservative Institution.
Die strenge Überprüfung der zwölf Jahre von Franziskus’ Pontifikat führt zu einem umso überraschenderen Ergebnis, als es zum Zeitpunkt seiner Weihe zum Papst noch in eine ganz andere Richtung zu gehen schien.
Hier in Argentinien glaubten wegen seiner Konflikte mit den Regierungen von Néstor und Cristina Kirchner viele, dass er einen Kampf gegen die linken Regierungen in Lateinamerika lostreten würde – so wie Johannes Paul II. gegen den Kommunismus. Er tat aber das Gegenteil: Er umarmte die Vergessenen der Welt – und zwar in solchem Maße, dass der rechtsextreme Kandidat Javier Milei ihn im Präsidentschaftswahlkampf 2023 als „Kommunisten“ und „Vertreter des Bösen auf Erden“ bezeichnete. Mehr aus Notwendigkeit denn aus Überzeugung sah sich Milei später gezwungen, seinen Ton zu ändern; er reiste nach Rom und traf sich mit dem Papst. „Jugendsünden“, sagte Franziskus und vergab ihm.
Franziskus war der erste nichteuropäische Papst seit dem 8. Jahrhundert, was die wachsende Bedeutung der Länder des Globalen Südens für die katholische Kirche und für eine multipolare Weltordnung unterstreicht, in der der „alte Norden“ an Gewicht verliert. Er war auch der erste Papst aus Argentinien, einem Land, das im internationalen Konzert keine dominante Rolle spielt und sich seit Jahrzehnten im sozioökonomischen Niedergang befindet – und es trotzdem schafft, von Zeit zu Zeit Figuren von solcher Größe hervorzubringen. Wenn es je zwei Argentinier von universellem Format gegeben hat, waren es Diego Maradona und Jorge Luis Borges. Nach dem Tod von Franziskus wird nun ein Dritter in diesen Rang erhoben.
José Natanson
José Natanson ist Leiter der argentinischen Ausgabe von Le Monde diplomatique.