Der neue Papst: Schluss mit den klebrigen Gesängen

Nr. 20 –

Die Wahl von Leo XIV. weckt Hoffnungen. Doch salbungsvolle Worte werden nicht genügen. Er muss die vielen Krisen und Baustellen der Kirche glaubwürdig angehen und darf nicht von Defiziten und Blockaden ablenken.

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Leo XIV. Anfang Woche im Vatikan vor Pericle Fazzinis Skulptur «Die Auferstehung»
«Nur informierte Menschen können freie Entscheidungen treffen»: Leo XIV. Anfang Woche im Vatikan vor Pericle Fazzinis «Die Auferstehung» (1977). Foto: Salvatore Laporta, Imago

Der Wechsel von einem Papst zum nächsten ist oft eine Zäsur, der sich auch nichtkirchliche Menschen eigenartig interessiert zuwenden. Jetzt, wo Papst Franziskus gestorben ist und Robert Francis Prevost sein Papstamt als Leo XIV. angetreten hat, lohnt es sich deshalb, einen Blick auf die gegenwärtige Lage der römisch-katholischen Kirche und den aktuellen Aggregatzustand des globalen Katholizismus zu werfen.

Eklatante Stagnation

Im Frühjahr 2013 endete im Vatikan die 1978 unter Papst Johannes Paul II. begonnene und von seinem Nachfolger Benedikt XVI. ab 2005 fortgesetzte theologische Linie in einer eklatanten Stagnation. Diese beiden Päpste definierten den Katholizismus in Abgrenzung gegen den Marxismus und jede Philosophie, die absolute Werte infrage stellt. Selbst für die innerkirchlichen theologischen Gegner:innen kam dieser Stillstand unerwartet.

In diesen Jahren disziplinierte der Vatikan reformorientierte Theolog:innen wie etwa die deutsche Ethikerin Regina Ammicht Quinn subtil oder auch unverhohlen. Charismatische Leader wie der Mexikaner Marcial Maciel Degollado dagegen instrumentalisierten, nicht selten mit klebrigen Gesängen, die brachliegenden religiösen Sehnsüchte der Menschen für ihre kirchenpolitischen Zwecke und sexuellen Bedürfnisse.

Dass in dieser Situation Benedikt XVI. auf sein Amt verzichtete, kam für die meisten Katholik:innen unerwartet. Für jene unter ihnen, in deren Glauben die Papstfigur eine so zentrale Stellung einnahm wie die Bibel im Glauben reformierter Christ:innen, war es ein Schock, der lange nachwirkte. Das Papsttum verlor einiges von seiner sakralen Aura.

Ein flotter Konservativer

Als Nachfolger des Zurückgetretenen wurde mit Jorge Mario Bergoglio ein Argentinier gewählt, der für viele Benedikt-Anhänger unter den Kardinälen als «flotter Konservativer», als Gegner der ihnen suspekten Befreiungstheologie galt. Er hatte sie vor dem Konklave, vor der eigentlichen Papstwahl, mit einer fulminanten Rede beeindruckt, in der er die Selbstbezogenheit der Kirche geisselte.

Unter dem Namen Franziskus interpretierte er als Papst das Evangelium sehr verständlich und stellte sich an die Seite der Armen und der Geflüchteten, zunehmend und am Ende sehr deutlich auch gegen die neue US-Regierung unter Donald Trump. Zudem sorgte er dafür, dass Theolog:innen weltweit wieder freier forschen und debattieren können. Das heisst allerdings nicht, dass reformorientierte katholische Denkfabriken im Westen in Blüte stünden. Sie leiden vielerorts in Europa intellektuell und personell an Ausblutung und Überalterung.

Papst Franziskus hat mit seinen Gesten und seinen kapitalismuskritischen Lehrschreiben auch Menschen erreicht, die während der Pontifikate von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. die Kirche verlassen hatten oder als Agnostiker:innen der Kirche fernstehen. Bei den sogenannt strengen Katholik:innen stiess er dagegen auf Ablehnung.

Besonders in Frankreich manifestierte sich unter Katholik:innen immer stärker eine tendenziell islamfeindliche Distanzierung von Franziskus’ Akzenten. In den USA regte sich gar robuster Widerstand. In beiden Ländern gewann ein Katholizismus an Fahrt, der ideologisch nahe bei der russischen Orthodoxie liegt, sich nationalistisch und ordnungsfixiert gebärdet, sich von Ressentiments gegen Normabweichler:innen nährt und von Untergangsfantasien erfüllt ist. Letztlich fand Franziskus innerhalb der Kirche nicht die solide und konstante Gefolgschaft, die er zur Durchsetzung weiterer Reformen benötigt hätte.

Konturen eines anderen Amerika

Wie könnte es weitergehen? Die Anzeichen verdichten sich, dass Papst Leo XIV. und mit ihm grosse Teile der katholischen Kirche bei sozialen und ökologischen Themen den bisherigen Kurs beibehalten. Zur gegenwärtigen Mehrfachkrise, aber auch zur Ökonomisierung aller Lebensbereiche, zu Dauerstress, Gereiztheit und Kontrollwahn wird er genauso inspirierende Worte finden wie zu den überall sichtbar werdenden Verlust- und Abstiegsängsten. Anfang dieser Woche hat er bereits vor Journalist:innen den richtigen Ton gefunden, als er dazu aufrief, das kostbare Gut der Rede- und Pressefreiheit zu schützen, weil nur informierte Menschen freie Entscheidungen treffen könnten.

Sicher bedeutet die Wahl eines Papstes, der gleichzeitig Peruaner und US-Amerikaner mit kreolischen Wurzeln ist, dass es nun für die USA auf der symbolischen Ebene neben ihrem Präsidenten noch ein anderes Machtzentrum gibt. Nicht von ungefähr wirken denn auch die wiederholten Kontaktaufnahmen von Exponenten der gegenwärtigen US-Regierung mit dem Vatikan wie lächerliche und eifersüchtige Versuche, die eigene Barbarei durch die Begegnung mit dem vermeintlich Zeitlosen aufzuwerten.

In Leo XIV. zeichnen sich Konturen eines anderen Amerika ab. Während mächtige US-amerikanische Interessengruppen drauf und dran waren, die Definitionshoheit über das, was «katholisch» ist, zu erlangen, verspricht er nun in Abgrenzung dazu eine eigenständige Lesart. Frühere Aussagen des jetzigen Papstes lassen es auch als möglich erscheinen, dass die katholische Kirche künftig die Klagen der eigenen Gläubigen in der Ukraine hört. Nachdem Papst Franziskus an einer fast einseitigen Loyalität zu Moskau festhielt, wird es nun denkbar, dass der Vatikan Moskau für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit und den Moskauer Patriarchen für seine offene Kriegshetze öffentlich kritisiert. Anzunehmen ist schliesslich, dass der Vatikan mit China in einem respektvollen Dialog bleiben will.

Kirchliche Fragen

Am dornenreichsten werden auch unter dem neuen Papst die innerkirchlichen Baustellen bleiben. Erst ein glaubwürdiges Vorgehen in diesen Bereichen wird den Verdacht entkräften, der vatikanische Einsatz für mehr soziale Gerechtigkeit wolle bloss von den eigenen Defiziten und Blockaden ablenken.

Robert Prevost hat als Kardinal das Bemühen des verstorbenen Papstes, kirchliche Fragen partizipativer und dezentraler zu lösen, und dessen Entscheidung, Frauen auf hohe vatikanische Verwaltungsposten zu berufen, mitgetragen. Das deutet darauf hin, dass er auch künftig Prozesse ermöglichen und Räume schaffen wird, in denen das Kirchenvolk bei unterschiedlichen Fragen in gemeinsamer, synodaler Arbeit nach mehr Erkenntnis und Wahrheit suchen soll.

Zudem gewänne die Kirche einige Glaubwürdigkeit zurück, wenn sie für ihre Positionen zu Sterbehilfe und Schwangerschaftsabbruch sensibel fragend werben und sich zur Gestaltung der Sexualität oder zu Genderfragen ohne ideologische Verhärtungen äussern würde. Papst Franziskus hat um manche Problemzonen gewusst. Mit seinen wiederholten Attacken gegen den Klerikalismus hatte er jene Dunkelmänner unter seinen Mitarbeitern im Blick, die ihre eigenen Phobien an anderen Menschen bearbeiteten.

Freie Menschen jeden Geschlechts

An einen Schlüsselsatz, der ins Zentrum der katholischen Organisationsstruktur hineinweist, hat Dorothee Wilhelm erinnert. Die leider viel zu früh verstorbene Theologin hat in dieser Zeitung schon 2010 geschrieben: «Die Bedeutung des Zölibats liegt darin, dass jemand, der einen so einschneidenden Eingriff in sein Privatleben zulässt, wohl auch sonst keinen nennenswerten Widerstand mehr leisten wird.» Ihr Satz zielte auf das innerkirchliche Machtgefälle, das gerade in der Missbrauchsthematik die Ursache von so viel Vertuschung und Leid war und ist.

Wird die katholische Kirche so weit kommen, dass in ihrem Inneren genügend freie Menschen jeden Geschlechts frei bleiben und, wenn nötig, nennenswerten Widerstand leisten, auch wenn sie sich frei binden? Als Angehöriger des Augustinerordens kennt der neue Papst seinen Ordensgründer Augustinus sicher gut. Dieser Meister der Selbsterkundung aus dem südlichen Mittelmeerraum war ja nicht nur ein pessimistischer Theologe, sondern auch ein brillanter Philosoph der Freiheit. Eine schwach gewordene Kirche vergibt sich nichts, wenn sie, begleitet von einem neuen Papst, für sich und alle Interessierten augustinische Freiheitsperspektiven neu erschliesst.

Der Jesuit Franz-Xaver Hiestand leitet die Katholische Hochschulgemeinde Zürich.