Mazedonien nach dem ersten Waffengang: Es wird hoch gepokert

Niemand, schon gar nicht einer der befragten schneidigen Kfor-Offiziere der deutschen Garnison von Tetovo, hätte es der mazedonischen Armee mit ihrer museumsreifen Ausrüstung zugetraut. Aber nachdem der Angriffsbefehl vor zehn Tagen am frühen Sonntagmorgen ausgegeben worden war, dauerte es nur 48 Stunden, bis die albanische Guerilla aus ihren Stellungen vertrieben wurde. Bereits drei Tage später konnte man unter Umgehung einiger Wachtposten die umkämpften Bergdörfer besuchen und feststellen, dass die Armee auch ihr zweites Ziel erreicht hatte: die Schonung der Zivilbevölkerung und ihrer Häuser. Das scheint ein bisschen viel Erfolg auf einmal, und die Menschen in Skopje spekulieren darüber, was wirklich geschah.
Um vorerst bei den sicheren Fakten zu bleiben: Die Lieferung von Helikoptern inklusive Besatzung durch die Ukraine war militärisch entscheidend. Aber genügte das? Weshalb werden keine Opferzahlen der Gegenseite bekannt gegeben? Eine mazedonische Agentur meldete am Dienstag, es befänden sich 37 «mutmassliche Terroristen» in Haft, und man habe einen Toten gefunden. Vor Beginn der Offensive hatten die Behörden noch von 300, manchmal 500 Bewaffneten gesprochen. Wenn das nicht heillos übertrieben war, könnte es jetzt die Behauptung der Guerilla bestätigen, sie habe sich praktisch ohne Verluste rechtzeitig zurückgezogen. Demnach könnte der bewaffnete Konflikt jederzeit wieder ausbrechen.
In der gegenwärtigen Atempause bestimmen die Politiker die Dynamik des Geschehens. Der mazedonische Präsident Boris Trajkovski hat am Dienstag eine «Plattform» angeboten, auf der alle im Parlament vertretenen Kräfte ihre Position bestimmen könnten, um dann gemeinsam die Schritte des Reformprozesses festzulegen. Das gemeinsame Ziel sei der Aufbau einer zivilen demokratischen Gesellschaft. Die Formel ist reichlich unverbindlich, aber attraktiv, weil Mazedonien am 9. April als erster Balkanstaat ein «Stabilitäts- und Assoziationsabkommen» mit der Europäischen Union (EU) unterzeichnen wird. Dieser Termin ist nicht nur eine Chance für das Land, er ist jetzt auch zum Risiko geworden. Die albanischen Parteien, einschliesslich der Demokratischen Partei (DPA), die der Regierungskoalition angehört, haben nämlich gedroht, den historischen Akt zu boykottieren, wenn bis dahin keine substanziellen Fortschritte im interethnischen Dialog stattgefunden hätten. Das aber wird kaum möglich sein, denn Trajkovski hat den Parteien eine Woche eingeräumt, um ihre Anliegen für die Plattform vorzubringen. Stichtag ist der 9. April. Die Boykottdrohung muss da wohl als Machtspiel der albanischen Parteien interpretiert werden, die der Regierungsseite kurzfristig so viele Konzessionen wie möglich abtrotzen wollen, um vor der eigenen Klientel wie vor den Aufständischen bestehen zu können.
Auch wenn die ethnische Polarisierung ständig zunimmt, wird sie durch die Divergenzen zwischen den Parteien der Volksgruppen immer wieder konterkariert. Der oppositionelle, im Bedarfsfall überaus mazedonisch-nationalistische Sozialdemokratische Bund fordert wieder einmal eine grosse Koalition und droht mit Demonstrationen. Ministerpräsident Ljubco Georgievski ist bereit, darüber zu verhandeln, aber seine Koalitionspartner, die DPA und die Liberalen, sind dagegen. Auch zwischen der DPA und der oppositionellen albanischen Partei der Demokratischen Prosperität (PDP) herrscht bitterer Streit über die Beteiligung an den von Trajkovski geführten Gesprächen, die nach Ansicht der PDP nur eine Farce sind. Umgekehrt ist deren Forderung nach einer Internationalisierung der interethnischen Gespräche zumindest vorerst aussichtslos. Nicht nur die Regierungsparteien lehnen dies kategorisch ab, auch die EU will vorerst in Reserve bleiben.
Das bedeutet nicht, dass die EU keine aktive Rolle übernimmt. «Aussenminister» Javier Solana schlug die Bildung einer speziellen Kommission, bestehend aus Regierungsmitgliedern und gewählten albanischen Vertretern, vor, die versuchen soll, beiden Seiten Reformen ohne wechselseitigen Gesichtsverlust schmackhaft zu machen. Etwa Streichung der Verfassungspräambel, von der sich die mazedonisch-albanische Volksgruppe diskriminiert fühlt, gegen Aufgabe der albanischen Föderalisierungspläne. Dadurch würde die eine Seite mehr symbolische Rechtsgleichheit gewinnen, die andere loyalere MitbürgerInnen. Ein vernünftiger Weg, zweifellos. Wenn nur die Zeit nicht so drängen würde.

*Im letzten Beitrag von Andreas Ernst («Vor der Quadratur des Kreises », WOZ Nr. 12/01) erschien aufgrund notwendiger redaktioneller Kürzungen eine zusammenfassende Bemerkung (die mazedonische Mehrheit kultiviere «ein gleichermassen gutmenschelndes wie weinerliches Selbstverständnis»), die in ihrem Ton nach Ansicht des Autors an der Absicht seines Artikels vorbeizielt, nüchtern darzustellen, weshalb sich beide Volksgruppen Mazedoniens als Opfer der jeweils anderen verstehen.