Nach dem Fall der Taliban: Die nächste Etappe im afghanischen Krieg
Unter den ausländischen Regierungen, die an einer Lösung für Afghanistan arbeiten, herrscht nahezu Eintracht über einen Friedensplan. Eine breit angelegte Übergangsregierung soll in zwei Jahren einen Verfassungsentwurf erarbeiten und den Weg für ein demokratisches Afghanistan ebnen. Die Nordallianz sowie die Fraktion um den 87-jährigen ehemaligen König Saher Schah sollen jeweils zu gleichen Teilen die Übergangsregierung stellen.
Dieser Friedensplan schliesst die Taliban und andere politische Interessengruppen grundsätzlich aus. Obgleich es zu früh ist, abzusehen, ob sich die Taliban als Bewegung halten werden, ist aber eine Friedensfindung ohne die lokalen und regionalen Führer Südafghanistans, die mit den Taliban verbündet sind, kaum denkbar.
Die in der westlichen Welt verbreitete Kategorisierung in «gut» und «böse» übersieht, dass das Gros der Kämpfer und Kommandeure der Taliban genauso gut in der Nordallianz hätte kämpfen können. Der Krieg in Afghanistan wird nicht von ideologischen Gesichtspunkten bestimmt. Es sind vor allem materielle Anreize sowie politischer Opportunismus, aufgrund deren man der einen oder der anderen Partei angehört. Das Kriegshandwerk etablierte sich im völlig zerstörten Afghanistan als eine angepasste Wirtschaftsform, um das Überleben zu sichern.
Die Crux des Friedensplans ist, dass er auf einer ethnischen Vereinfachung des Konflikts aufbaut. Immer wieder betonen westliche PolitikerInnen, dass eine Regierung unter Beteiligung aller ethnischen Gruppen zustande kommen soll. Die Ethnie dient so als vormoderne, quasidemokratische Legitimation: Wenn in einer Regierung nur alle ethnischen Gruppen vertreten wären, spiegelte sie die verschiedenen Facetten der afghanischen Bevölkerung genügend wider. In diesem naiven Plan erscheint die Nordallianz als Repräsentantin der ethnischen Minderheiten und die Königsfraktion als jene der zahlenmässig dominierenden Paschtunen.
Der Trugschluss ist offensichtlich. Die ethnischen Gruppen sind nicht mit den herrschenden militärisch-politischen Bewegungen identisch und bilden keine einheitlich handelnden Blöcke. Es bleibt völlig unberücksichtigt, dass trotz der Ethnisierung des Krieges eine Ethnisierung der Massen ausblieb. Denn den meisten AfghanInnen sind alle Kriegsparteien gleichermassen verhasst. Für die afghanische Bevölkerung stellt nicht die ethnische Gruppe, sondern nach wie vor Familie, Clan und Dorf die wesentlichen Identitätsbezüge dar. Eine «ethnische Lösung» birgt ein hohes Konfliktpotenzial. Denn sie bringt Fragen nach Definition, Umfang und Verteilung der ethnischen Gruppen mit sich. Dadurch wird Ethnizität erst die zentrale politische Bedeutung beigemessen, die sie bisher zu keinem Zeitpunkt einnahm. Im afghanischen Krieg stellte die Berufung auf die Ethnie allein ein Instrument der politischen und militärischen Mobilisierung dar, jedoch nicht die Ursache und schon gar nicht den Schlüssel zur Lösung des Krieges.
Eine Einigung der Nordallianz und der Königsfraktion in den Berliner Friedensgesprächen nächste Woche ist kaum zu erwarten. Denn seit die Nordallianz entgegen den Absprachen mit den USA Kabul einnahm, ist die Umsetzung des Friedensplans in Gefahr geraten. Die Nordallianz, die weite Teile des Landes militärisch kontrolliert, betrachtet Kabul als Pfand, um ein stärkeres Gewicht in der neuen afghanischen Regierung zu erlangen. Burhanuddin Rabbani, der sich 1992 zum afghanischen Präsidenten ausrufen liess, macht keinen Hehl daraus, dass die Friedensgespräche in Berlin nur einen «symbolischen Wert» haben und die Entscheidungen über die Zukunft Afghanistans im Lande selbst gefällt werden.
Die vermeintliche Stärke der Nordallianz entspricht der Schwäche der Königsfraktion. Denn Saher Schah, obgleich die wichtigste und unter den AfghanInnen anerkannteste Symbolfigur, verfügt kaum über militärische Macht in Afghanistan. Um ihn gruppiert sich das traditionelle Establishment Afghanistans, das von Exilafghanen dominiert wird und kaum noch direkten politischen und militärischen Einfluss nimmt. Allein Hamed Karsai, unter dessen Führung seit wenigen Wochen eine militärische Front in Südafghanistan gegen die Taliban kämpft, repräsentiert die Königsfraktion im Lande selbst.
Jedoch darf auch die Nordallianz nicht überschätzt werden. Sie bildet einen fragilen, in sich zerstrittenen Block. Die Nordallianz besteht im Wesentlichen aus der Dschamiat-i Islami, der Hisb-i Wahdat und der Dschombesch-i Melli, die jeweils für sich in Anspruch nehmen, im Namen der Tadschiken, Hasara respektive Usbeken zu sprechen. Diese drei Parteien haben je eigene Vorstellungen über ein zukünftiges Afghanistan und kontrollieren entsprechend den hauptsächlichen ethnischen Siedlungsgebieten verschiedene Regionen: Während Masar-i Scharif und weite Teile der nordafghanischen Ebene von Raschid Dostums Dschombesch-i Melli dominiert werden, hat die Hisb-i Wahdat Zentralafghanistan unter ihre Kontrolle gebracht. Die Dschamiat-i Islami wiederum kontrolliert Herat und Westafghanistan sowie den Nordosten.
Auch Kabul wurde allein von der Dschamiat-i Islami eingenommen. Gerade dies sorgt für Zündstoff innerhalb der Nordallianz: Da die westlichen Stadtteile vorwiegend von Hasara bewohnt werden, kündigte die Hisb-i Wahdat an, Truppen nach Kabul zu entsenden, um «ihre Bevölkerung» zu schützen. Auch die Dschombesch-i Melli beäugt die alleinige Präsenz der Dschamiat-i Islami in Kabul mit wachsendem Misstrauen. Denn nach wie vor gilt: Wer Kabul hat, stellt die Regierung. Die militärisch-politische Konstellation gleicht in etwa der Situation von 1992, als die Mudschaheddin der kommunistischen Herrschaft ein Ende bereiteten: Damals waren genau diese drei Parteien in wechselnden Koalitionen an einem nicht enden wollenden Krieg um die Herrschaft über Kabul, an der völligen Zerstörung der Stadt und an der Ermordung tausender ZivilistInnen beteiligt. Bis sie 1996 von den Taliban vertrieben wurden.