Wahlen in Afghanistan: Demokratische Taliban?

Nr. 37 –

Conrad Schetter über die Freunde von Präsident Karsai, die Tricks der Warlords und den Umstand, dass frühere Feinde zusammen im Parlament sitzen werden.

WOZ: Die Wahlen für Parlament und Provinzräte am 18. September sind die letzte Etappe der Neuordnung des Landes, des so genannten Fahrplans in den Frieden. Bringen sie dem Land tatsächlich Frieden und Stabilität?

Conrad Schetter: Kurzfristig werden die Wahlen zu mehr Unruhe und Konflikten führen. Langfristig erfahren Regierung und Staat eine gewisse Legitimität. Die Wahlen sind sinnvoll, weil die Bevölkerung eine politische Stimme erhält.

Sie haben davor gewarnt, in Afghanistan zu früh eine demokratische Ordnung einzuführen. Das zementiere bloss bestehende Machtverhältnisse.

Diese Wahlen kann man nicht mit Demokratie gleichsetzen. Sie werden in vielen Bereichen nicht demokratisch ablaufen. Es wird zu Gewalt kommen, wo die herrschenden Machtstrukturen herausgefordert werden. In der Provinz Paktia im Südosten beispielsweise, wo die Stammesstrukturen stark sind, kandidieren viele aus der modernen, westlich ausgerichteten Elite. Ein solches Aufeinandertreffen von moderner und traditioneller Elite kann zu Machtkämpfen führen. In den Regionen mit mächtigen Kriegsfürsten werden diese zu diktieren versuchen, wen man zu wählen hat. Dasselbe gilt für die paschtunischen Stammesgebiete. Der Mehrheit der Bevölkerung wird von ihren Führern gesagt, wen sie zu wählen haben.

Gehen die Afghanen und Afghaninnen gerne wählen?

Bei der letztjährigen Präsidentenwahl hat man gesehen, dass das Ritual des Wählens wichtig ist. Es war eine Art Feiertag. Die Parlamentswahlen, das ist allen klar, bedeuten für die Gewählten einen finanziellen Gewinn. Sie bekommen pro Monat 3000 US-Dollar - für Afghanistan eine enorme Summe. Es geht auch darum, dass jeder Kandidat zeigen will, dass er der Mächtigste ist und die grösste Klientel hat. Politische Ideen spielen keine Rolle, und auch Ideologien sind nicht sehr wichtig. Ich rechne mit einer hohen Wahlbeteiligung. Die Wahlen sind ein grosses Thema - eben weil es darum geht, zu signalisieren, zu wem man gehört. Die Stammesführer und Warlords werden versuchen, den Zugang zu den Urnen zu kontrollieren. Ihre Leute werden vor den Wahllokalen rumlungern und genau beobachten, wer hineingeht - und wer besser nicht hingehen sollte.

Haben Frauen, die nicht zu einem mächtigen Stamm gehören, eine Chance, gewählt zu werden?

Jede Provinz hat eine Frauenquote. In Paktia zum Beispiel muss einer von sechs Sitzen im Parlament von einer Frau besetzt werden. Da sich nur wenige Frauen bewerben, reichen wenige Stimmen, um gewählt zu werden. Einige Warlords haben deswegen ihre Ehefrauen ins Rennen geschickt. Die Kandidatinnen gehören durchwegs zum Establishment: Sie sind gebildet oder gehören einflussreichen Familien an. Sie sind nicht moderner als die Männer und verharren in ähnlicher Weise in den Klientelstrukturen.

Die Taliban kontrollieren faktisch ganze Gebiete im Süden. Wird dort auch gewählt?

Offiziell ja. Provinzen wie Kandahar, Urusgan, Sabul und Paktia werden von regierungsfeindlichen Gruppen kontrolliert. Wie dort eine Wahl vor sich gehen soll, weiss ich nicht: Die Regierung hat keinen Einfluss. Es kann natürlich auch sein, dass sich Taliban aufstellen lassen und auch gewählt werden, sie also die Möglichkeit nutzen, ihre Leute ins Parlament zu bringen. Unter den Kandidaten finden sich ja auch ehemalige hochrangige Taliban wie der frühere Aussenminister Wakil Ahmed Mutawakil. Die haben auch grosse Chancen, weil viele mit ihnen sympathisieren. Die Grenzen zwischen den Taliban, die die neue Ordnung bekämpfen, und der Regierung sind recht durchlässig. So finden sich unter Leuten, die als Taliban-Hardliner gelten, sehr gute Freunde von Präsident Hamid Karsai. Sie wurden aus der Haft in Guantánamo entlassen und von Karsai als Berater angestellt. Jemand, der heute in der Regierung ist, kann morgen die Regierung bekämpfen und umgekehrt. Dazu kommt, dass nicht jeder, der von den USA in Guantánamo oder auf dem Stützpunkt Bagram inhaftiert wurde, zu al-Kaida oder den Taliban gehört. Die USA schicken mittlerweile Störenfriede egal welcher Couleur nach Guantánamo.

Karsai wird nachgesagt, er habe die Taliban anfänglich tatkräftig unterstützt.

Das Gros des Stammes der Durrani-Paschtunen, zu denen Karsai gehört, hat anfangs die Taliban gefördert. Karsais Vater war sehr für die Taliban. Ob die Karsais die Taliban finanziell unterstützten, weiss ich nicht. Aber sie standen ihnen sehr wohlwollend gegenüber. Karsais Vater hoffte offenbar, dass er nach der Machtübernahme der Taliban ein Amt erhalten und dass der König zurückkehren würde. Als dies 1996, nach der Einnahme Kabuls, nicht passierte, haben sich die Karsais - wie die gesamte paschtunische Elite - von den Taliban abgewandt.

Neben den ehemaligen Taliban stehen auch bekannte Kriegsfürsten und Kriegsverbrecher auf der Wahlliste. Karsai vertritt den Standpunkt, es stehe der Bevölkerung frei, diese Leute nicht zu wählen. Ist das die richtige Strategie?

Viele Afghanen haben in den langen Kriegsjahren Verbrechen begangen. Der Friedensprozess hat von Anfang an versucht, die Warlords zu integrieren und politisch zu beteiligen. Das ist moralisch fragwürdig, aber realpolitisch gesehen die einzige Möglichkeit. Hätte man alle, die Verbrechen begangen haben, von den Wahlen ausgeschlossen, wäre es zu grossen Konflikten gekommen. Die Diskussion über Versöhnung und Schuld muss dennoch geführt werden.

Viele der Kriegsfürsten sind offenbar an Kinderhandel und Drogenschmuggel beteiligt. Eine politische Legitimierung durch die Wahlen stärkt ihre Position weiter.

Das Problem ist, dass kriminelle Strukturen die gesamte Gesellschaft durchweben. So ist etwa vom Bruder von Präsident Karsai bekannt, dass er in den Drogenhandel verwickelt ist. Karsai deckt ihn. Es sind zu viele, die an den kriminellen Machenschaften verdienen. Afghanistan wird sicher kein Parlament haben, das für die guten Afghanen steht, sondern eines der mächtigen Afghanen. Daran sieht man, wie unfertig diese afghanische Demokratie noch ist.

Es haben sich auch viele ehemalige kommunistische Kader aufstellen lassen. Einige sind nach Jahren des Exils nach Afghanistan zurückgekehrt. Haben sie Chancen, gewählt zu werden?

Kommunisten waren schon unter den Taliban und vermehrt seit dem Sturz der Taliban stark in der Verwaltung vertreten. Sie sind neben den Exilafghanen die Einzigen, die über Bildung verfügen und deshalb für den Staat und die internationalen Organisationen unverzichtbar. Sie sind gut vernetzt und haben die Möglichkeit, zu mobilisieren. Besonders gute Kontakte haben sie in den Ausbildungsorganen - in den Schulen, Universitäten und der Militärakademie - und der staatlichen Bürokratie. Einige geniessen nach wie vor grosses Ansehen. Deshalb denke ich, dass es der eine oder andere ins Parlament schafft.

Die früheren Kriegsparteien werden also zusammen im Parlament sitzen.

Ja. Doch die ideologischen Differenzen werden heruntergespielt. Dasselbe gilt für die Frage der ethnischen Zugehörigkeit: Beides ist unterschwellig vorhanden und kann auch wieder mobilisiert werden. Aber beides steht hintenan. Die ideologischen Grenzen haben sich verwischt.

Wie viel Macht wird das Parlament haben?

Das Parlament ist eher schwach und kann die Regierung kaum kontrollieren. Es ist eher eine Art Debattierklub - im schlechtesten Fall ein Debattierklub einer politischen Elite, die ihre Rente von 3000 Dollar pro Monat abschöpft.

Die Wahlbehörde hat im Juli elf Kandidaten wegen Zugehörigkeit zu illegalen bewaffneten Gruppen von der Wahl ausgeschlossen. Am Montag hat sie weitere zehn Kandidaten von der Liste gestrichen. Doch die Wahlunterlagen sind schon lange gedruckt und die Ausgeschlossenen werden Stimmen erhalten. Könnte dadurch das Resultat gefährdet sein?

Es war sehr unglücklich, eine Woche vor der Wahl Leute von der Liste zu nehmen. Das ist mir unverständlich. Wenn diese Leute gewählt und dann nicht zugelassen werden, kommt es zu Konflikten. Einige der grossen Kriegsfürsten treten übrigens gar nicht an, sondern lassen Stellvertreter kandidieren. Und einige Stammesführer kandidieren nicht, weil sie sich aus dem Ganzen raushalten wollen. Ein Scheitern bei der Wahl würde bedeuten, dass sie das Gesicht verlieren.