Niederlande: Am Rande der Nervenkrise

Die Verunsicherung nach dem Mord an Theo van Gogh erreicht alle – Holland zerfällt.

Illustration: Floriaan Went

Fuad bittet seine Frau, die Vorhänge zu ziehen. Er möchte nicht, dass der Besuch auffällt. Wir sind in einem der typischen roten Klinkerbauten mit den vielen Satellitenantennen in Amsterdam-West. Klein-Casablanca nennen sie hier diese Ecke. Eine Untertreibung: 83 Nationalitäten haben die städtischen Dienste gezählt. Fuad breitet «De Telegraaf» aus, plättet die Zeitung mit dem Handrü­cken, deutet auf einen Glatzkopf: «Holland ist vorbei», sagt er, «fertig, Schluss. 23 Jahre bin ich hier, und längst Niederländer. Jetzt frage ich mich, wohin ich gehen soll.»

Der Glatzkopf ist Pim Fortuyn, rechtsradikaler Dandy, Polemiker, Parteichef. 2002, ein paar Tage vor der Wahl nur, hatte ihn ein verwirrter Tierschützer ermordet. Umfragen sagten Fortuyn, der die ImmigrantInnen vor die Türe setzen wollte und gegen den Islam hetzte, einen Wahlsieg voraus. 460 000 HolländerInnen haben ihn am vergangenen Montag zum «grössten Niederländer aller Zeiten» gekürt – weit vor Rembrandt, Anne Frank, Johan Cruijff, Erasmus, Vincent van Gogh. «Belgien wäre nicht schlecht», sagt Fuad, «oder doch Frankreich?»

Am selben Abend, in der Innenstadt. Sie Professorin, er Journalist, bitten zu Tisch. Gäste aus denselben Branchen, plus Politik. Eigentlich müsste man nun Small Talk machen. Doch Max sagt: «Können wir hier noch leben?» Gerti, die Welterfahrene: «Eigentlich nicht. Wir waren zu tolerant. Aber wohin?»

Amsterdam am Rande der Nervenkrise. Was ist mit der holländischen Gesellschaft geschehen? Sie hatte uns mit freiem Wort und lässigen Umgangsformen, mit ihrer sozialen Fürsorge und dem entspannten Multikulturalismus gelockt. Jetzt brennen Koranschulen, Moscheen und Kirchen. Furcht und Fremdenhass schlagen hoch. In den Medien geht das Wort vom minderwertigen Islam. Fortuyn ist in aller Munde. Razzien und Verhaftungen jagen sich. «Die Niederlande sind im heiligen Krieg», tönte Vizepremier Gerrit Zalm.

Der andere Mörder

Das Fieber will nicht sinken, seit am 2. November Mohammed Bujeri, ein 26-jähriger Holländer marokkanischer Herkunft, den Filmemacher und Journalisten Theo van Gogh auf offener Strasse vom Fahrrad schoss, den Sterbenden mit weiteren Kugeln und einem Messer traktierte, schliesslich eine Dschihad-Botschaft in holländischen Stabreimen mit einem zweiten Messer an den Bauch des Opfers heftete.

Tief geschockt, sahen die NiederländerInnen in der Tat die Wiedergängerin der Ermordung Fortuyns. Van Gogh verehrte Fortuyn, er war unterwegs ins Studio, um einen Film über Fortuyn fertig zu stellen, als Bujeri ihm auflauerte. Doch diesmal war der Mörder ein Muslim, der für sich in Anspruch nahm, im Namen des Islam zu töten. Das änderte alles. KommentatorInnen sahen in der Schlachtung Van Goghs einen Anschlag auf die Meinungsfreiheit, auf das holländische Modell, und, wo ihnen vor Empörung das Denken aussetzte, auf die westlichen Grundwerte, gar «auf uns alle». Der Krieg der Kulturen wurde einmal mehr angesagt.

Van Gogh bekam ein Staatsbegräbnis. MancheR musste sich bei der plötzlichen Verklärung des ermordeten Autors ein wenig Zwang antun. «Ich bin gegen Mord. Die meisten Menschen sind gegen Mord. Darum ist Van Gogh 47 Jahre alt geworden», schrieb Door Piet Grijs im Wochenmagazin «Vrij Nederland». Van Gogh war kein feiner Mann. Zu seinen Witzen gehörten Dinge wie: «Warum riecht es hier so karamellisiert? Wird wohl gerade ein diabetischer Jude verbrannt.» Über Leon de Winter, dessen Hass auf den Islam er teilte, sagte Van Gogh, der Mann binde sich Stacheldraht um den Schwanz und schreie beim Bumsen «Holocaust, Holocaust!» Derlei lief in Holland bis vor zwei Wochen unter «Meinungsfreiheit». Toleranz nahm Van Gogh auch in Anspruch, wenn er die Muslime als «rückständige Ziegenficker» bezeichnete.

Nur eben: Weder Grijs noch de Winter haben zur Pistole oder zum Messer gegriffen.

Sprecher der islamischen Gemeinden und die meisten Ulema der rund 300 Moscheen und Gebetshäuser fanden scharfe Worte der Verurteilung für den Mörder, sie demonstrierten gegen Gewalt und schlugen auch konkrete Massnahmen vor. In den Niederlanden leben etwas über 900 000 MuslimInnen (sechs Prozent der Bevölkerung). Sie stammen aus den früheren Kolonien Indonesien und Surinam, aus der Türkei, aus Marokko, Algerien, Ägypten. TürkInnen und MarokkanerInnen, die man in Boomjahren als Arbeitskräfte lockte, bilden die stärksten Gruppen.
Hört man sich hingegen in der polizeilich scharf überwachten At-Tawhid-Moschee oder bei den jungen Männern und Frauen draussen in Amsterdam-West um, klingt die Geschichte anders, sogar im Gespräch mit einem Reporter. Zwar stellt sich nur ein sehr junger Algerier provokativ hinter die Tat, alle anderen geben Auskünfte wie: «Allein Gott gibt und nimmt Leben. Das steht keinem von uns an.» Aber sie kaschieren ihren Hass auf Van Gogh nicht. Auf Van Gogh und auf Ajaan Hirsi Ali, die abtrünnige Muslimin aus Somalia, die rechte Abgeordnete, die die Frauenfeindlichkeit des Islam geisselt. Sie ist die Autorin des Van-Gogh-Filmes «Submission», der unlängst am Fernsehen lief. In dem Streifen inszeniert Van Gogh die Knechtung einer zur Heirat gezwungenen Frau, zeigt sie weitgehend nackt, von Peitschenstriemen gezeichnet, Koranverse in die Haut geritzt. Im Bekennerschreiben des Mörders. wird Hirsi Ali mit dem sicheren Tod bedroht.

In diesem Hass erkennen viele Niederländer die Bedrohung ihrer Gesellschaft. Sie sehen in diesen jungen MuslimInnen die Schattenseite ihrer eigenen Toleranz. Sie halten das holländische Modell der Integration für endgültig gescheitert. Und manche sehen sich sogar als Opfer einer aus der Ferne gesteuerten Attacke heiliger Krieger.

Abgebrochene Biografie

In der Hart Nibbrigstraat, wo Bujeri aufwuchs, vierstöckige Blöcke, ein wenig Grün, galt er als gut integriert, hat er die anderen Kids zum Schulbesuch angehalten, sah sich gleichermassen als Niederländer und Marokkaner, brachte den behinderten Vater manchmal zur Moschee vier Blöcke weiter. Wann seine Biografie abbrach, er in eine andere Moschee wechselte und Kontakt mit Dschihadisten aufnahm – und warum dies geschah –, wissen wir nicht.

Murad könnte es erhellen. 29-jährig, «Niederländer und Muslim», Betriebswirt, bei einem Multikulti-Immobilienhändler beschäftigt, kennt er die inneren Mechanismen der Radikalisierung. «Du wirst zuerst hören wollen, dass ich Mord Mist finde», sagt er. «Das tue ich wirklich. Wir sind in einer Demokratie. Bujeri hat uns sehr viel Schaden beigefügt.» Wir sitzen in einem ägyptischen Café. Zuerst läuft eine äygptische Kitschserie, dann, zur vollen Stunde, al-Dschasira. Die Szene des US-Soldaten, der einen verletzten Iraker erschiesst, wird in ganzer Länge gezeigt, anders als auf BBC. Die Kunden, Männer über vierzig, wollen es nicht sehen. «Van Gogh hat gesagt, wer sein Gast sei, solle sich an die Regeln halten. Ich finde, er hat Recht. Aber er beschimpft mich als Ziegenficker, als Barbar. Was würdest du tun?» – «Ich würde den Tisch umschmeissen und rausgehen.» – «Was ist, wenn du nicht gehen kannst, weil das dein Land ist? Was soll ich in Marokko? Ich bin hier aufgewachsen.» «Na ja», sagt der Reporter, «vielleicht solltet ihr etwas härter im Nehmen sein.» Murad lächelt. «Das bin ich. Das Problem ist dieses Wort ‹ihr› in deinem Satz. Ich bin Murad, ich bin nicht der Muslim an und für sich.»

Da taucht auf, was Tiefenstudien des Ercomer, des Europäischen Forschungszentrums für Migration und ethnische Beziehungen in Rotterdam, längst zeigen: Der Islam der jungen NiederländerInnen hat eine Metamorphose durchlaufen. Er ist individueller geworden und ist, wie Ercomer-Chef Han Entzinger sagt, «ein Islam made in the Netherlands». Dieser Islam hat sich von der Tradition gelöst. Er ist vielfältig, wird persönlich gestaltet, die Theologie hat dabei wenig Gewicht, der Mo­scheen­besuch nimmt ab. Wie ihren nichtmuslimischen Altersgenossen geht es den jungen MuslimInnen vor allem um Dinge wie persönlichen Erfolg, Glück oder freie Wahl. Kurzum: Die Integration hat funktioniert. Nur eine schmale Gruppe der MuslimInnen neigt radikaleren Vorstellungen zu. Teils sind sie auf Tradition bedacht, Einzelne aber nähren die Vorstellung, ein internationalistischer Islam stehe im Kampf gegen den Westen.

Was dieselben Studien aber auch belegen: Die Mehrheit der holländischen MuslimInnen fühlt sich angegriffen, bedroht, in ihrer Eigenheit verletzt. Sie registrieren ethnische Spannungen. Der Punkt, sagt Murad, sei: «Ich habe keinen Bezug zu meiner marokkanischen Herkunft. Ich bin einfach nur Muslim. Das, und mein Gesicht, machen mich zum Ausländer, den man potenziell abschieben kann.» Später, im Zug nach Süden, wird das Gesagte eine kleine Illus­tration erfahren. Holländische Zöllner kommen an Bord. Im Abteil sitzen zwei Araber. Ihre Pässe werden kontrolliert, jener des Reporters nicht. Sie haben EU-Pässe.

Inszenierter Glaubenskrieg

Merkwürdiger Spiegeleffekt: Die holländische Gesellschaft sieht einen Glaubenskrieg aufziehen, im Alltag inszeniert sie ihn. Im Integrationszentrum De Tagerijn hinter dem Amsterdamer Mercatorplein sitzen fünf marokkanische Frauen zusammen. Alle tragen das Kopftuch, die beiden jüngsten eine (strenge) Form von Kopftuch, wie man sie in Marokko nicht sieht. Eine Erfindung des modernen Islam. Ihre Kinder spielen, eine ruft ihre Mails ab. Sie erzählen, dass man ihnen dieser Tage das Kopftuch runterzureissen versucht, dass man sie als Terroristinnen beschimpft. Aber die Jüngste sagt: «Ich habe kein Problem mit Holland. Die Van Goghs haben ein Problem mit mir.»

Nahmen die Medien Van Gogh als Querkopf, als Lästermaul und, wahlweise, rechten oder linken Anarchisten wahr, trat er diesen Frauen oder den Kids auf der anderen Seite des Platzes als
Vertreter der Macht, des Establishments entgegen. Er griff sie an, er hatte die Medien.

Die Jugendlichen drüben haben nächtens ein paar Briefkästen in Brand gesetzt. Sie sind die Pest im Quartier. In Banden organisiert, üben sie Druck auf ihre Kumpels aus, auf ihre Schwestern, sogar auf ihre Mütter. Der traditionelle Islam ist ihnen verhasst. «Der reine Islam ist unser Gesetz», sagt der Wortführer. Er ist vielleicht achtzehn.

Da wird deutlich, in einem zweiten Spiegeleffekt, was derzeit in Amsterdam, Rotterdam oder Utrecht geschieht. Der eine oder andere dieser Jungen lässt sich vielleicht von einer radikalen Gruppe mobilisieren. Das Problem ist aber nicht der vermeintliche Krieg der Kulturen, sondern die Unfähigkeit der Gesellschaft, gemeinsame Identität zu produzieren. Holland zerfällt gerade.

Paradies für Gewaltverbrecher

Wer die jüngsten Geschehnisse in den Niederlanden begreifen will, muss zurückblicken. In den letzten zehn Jahren kam es hier immer häufiger zu Gewalttaten, die mit harmlosen Handlungen begannen und tödlich endeten. «Sinnlose Gewalt», nennt man das hier, jeder Niederländer und jede Niederländerin kennt diesen Begriff. Opfer solcher ­Attacken wurden etwa Meindert ­Tjoelker, der in Leeuwarden eine Gruppe jugendlicher Vandalen zurechtwies, oder Renée Steegman, der 2002 in Eindhoven einen rücksichtslosen ­Mofafahrer zur Rede stellte, oder Anja Joos, die 2003 in Amsterdam eines Bierdosendiebstahls verdächtigt wurde. Alle drei bezahlten ihre Hand­lungen mit dem Leben. Angesichts der hohen Zahl der Opfer tödlicher Gewalt ist zu vermuten, dass die Niederlande in den vergangenen Jahren nicht so sehr in den Bann politisch motivierter Gewalt gerieten, sondern schlicht Schauplatz stark zunehmender Ver­rohung wurden.

Gleichzeitig betrug die Aufklärungsquote der Verbrechen im Jahr 2000 ­nur gerade 13 Prozent und war damit die tiefste in Europa. Zum Vergleich: Deutschland hatte in diesem Jahr eine Aufklärungsquote von 53 Prozent. Im selben Jahr konnten in den Niederlanden 43 Prozent der schweren Gewaltverbrechen aufgeklärt werden, in Deutschland waren es 83 Prozent. Laut dem niederländischen Wissenschaftlichen Rat der Regierung (WRR) hängt diese tiefe Aufklärungsrate mit dem so genannten Opportunitätsprinzip zusammen. Das ist eine niederländische Erfindung ohne internationales Pendant. Dieses strafrechtliche Grundprinzip besagt, dass kein Verbrechen von Amtes wegen verfolgt werden muss. Ausschlag gebend bei der Frage, ob eine Verfolgung stattfindet, ist in den Niederlanden nicht die Schwere oder die Art eines Delikts, sondern die Frage, ob die Verfolgung des Täters dem allgemeinen Nutzen dient – ob sie «opportun» ist.

Laut dem WRR führt diese gesetzliche Grundlage zusammen mit dem aussergewöhnlich kleinen Justizapparat dazu, dass viele Anzeigen zahlreicher schwerer Delikte gar nicht erst an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet werden. Denn die Polizei geht davon aus, dass die Staatsanwaltschaft wegen Kapazitätsengpässen sowieso nicht alles verfolgen kann. Gemäss einer Untersuchung des Wissenschaftlichen Untersuchungs- und Dokumentationszentrums beläuft sich die Zahl der schweren Gewaltverbrechen, die aus diesen Gründen und trotz Hinweisen auf mögliche TäterInnen nie verfolgt werden, auf jährlich zirka 80 000. Trotzdem lehnte die Regierung zwei Gesetzesentwürfe ab, welche die Einführung eines Anklagezwanges bezüglich schwerer Gewaltverbrechen beinhalteten.

Im Zuge der «Nulltoleranzpolitik», die seit dem Mord am politischen ­Newcomer Pim Fortuyn offiziell herrscht, wurden zwischen Regierung und Polizei Leistungsaufträge vereinbart. Sie verpflichten die Polizei, eine bestimmte Anzahl Anzeigen aufzu­nehmen und an die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten. Um dieser Verpflichtung nachzukommen, konzentriert sich die Polizei in der Praxis auf die leichteren Fälle. So werden seit kurzem unzählige Bussen an FahrradfahrerInnen ausgeteilt, die mit einem Velo ohne Licht unterwegs sind. Die so genannte Politik des Duldens, auf die die NiederländerInnen jahrzehntelang stolz waren, hat inzwischen um sich greifender, unnachsichtiger Repression gegen­­über leichten Verkehrsdelikten Platz gemacht.

Floriaan Went, Rotterdam

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