Niederländische Debattenkultur: Aus dem Mikrokosmos in den Shitstorm

Nr. 17 –

Die junge Schriftstellerin Lale Gül schreibt einen Roman über das konservative islamische Milieu, in dem sie aufwuchs. Das Buch wird zum Bestseller, die Autorin bekommt Morddrohungen. Ein persönliches Drama mit explizit politischer Dimension.

Die einen feinden sie an, die andern wollen sie instrumentalisieren: Autorin Lale Gül.

Als die Fotos mit den Waffen kommen, hat Lale Gül genug: Sie taucht unter. Die Beweisstücke hat sie auf ihrem Telefon als Screenshots gespeichert, wie all die Drohungen, die sie in den letzten zwei Monaten erhielt. Sie zeigt ein Foto mit einer Pistole. Auf einem anderen: ein Maschinengewehr. Auch ein Video mit einem IS-Lied hat man ihr geschickt. Oder die Ankündigung, sie stehe «offiziell auf der schwarzen Liste von sharia4holland». Die gleiche Gruppe teilte ihr mit, sie habe «grosse Pläne» mit ihr und sei «überall in Amsterdam aktiv».

Rund siebzig solcher Drohungen hat die 23-jährige Schriftstellerin empfangen, seit am 10. Februar ihr Debütroman «Ik ga leven» (Ich werde leben) erschienen ist. «Und das sind nur die, die explizit mit Gewalt drohen. Nicht mitgezählt sind die impliziten à la ‹ich kanns nicht erwarten, dich auf der Strasse zu treffen›.» Woche für Woche erstattet sie Anzeige. Inzwischen steht das Buch an der Spitze der Bestsellerliste. Lale Gül, Studentin der niederländischen Literatur und Tochter türkischer Eltern, die einst als AnalphabetInnen nach Amsterdam kamen, lebt versteckt und bewegt sich in der Öffentlichkeit nur per Taxi fort – auch zum Treffen für diesen Artikel.

Schreiende NachbarInnen

Güls autobiografischer Roman beschreibt das konservativ-türkische Milieu im Westen der Hauptstadt, in dem sie aufwuchs. Er ist eine Anklage gegen die Benachteiligung als Mädchen und junge Frau, gegen die Koranschule der stockkonservativen Vereinigung Milli Görüs, den Kopftuchzwang und die via Satellit empfangene AKP-Propaganda, «massgeschneidert für das reaktionäre, kollektivistische und ultrareligiöse Publikum». Die Protagonistin verweigert sich der Rolle, die ihr in diesem Mikrokosmos aus Tugend und Angst zugedacht ist: «Kind Gottes, Dienstmädchen, konformistisches Mitglied des Gemeinwesens, keusche Ehefrau eines koranfesten Gatten. Ich bekomme Flecken im Gesicht, wenn ich daran denke.»

Wenn Lale Gül über den Sturm berichtet, der über sie hereingebrochen ist, klingt sie dabei erstaunlich abgeklärt. «So atheistisch, wie man nur sein kann», nennt sie sich. In ihrem Debüt legt sie davon Zeugnis ab und beschreibt ihre Entwicklung zur Anhängerin von Aufklärung und individueller Freiheit. «Ich dachte, dass man mich versteht, wenn ich das so gründlich wie möglich erkläre.» Was sie ausserdem dachte: dass sich Frauen in ähnlichen Situationen im Schicksal der Protagonistin wiederfinden würden. Und dass ihre ultrareligiöse Mutter ihr nicht vergeben und sie für einige konservative Muslime zur «Ausgestossenen» würde – aber nicht, dass die Lage derart ausser Kontrolle geraten würde.

Dass sie den Resonanzraum ihres Buchs unterschätzt hat, wird ihr klar, als sie kurz nach der Veröffentlichung von ihrer ersten Talkshow nach Hause kommt. Vierzig wütende Anrufe hat sie bekommen, weil sie forderte, dass in Moscheen Niederländisch gesprochen werden solle, und weil sie sich negativ über Koranschulen äusserte. «Es war, als sei eine Bombe explodiert. Die halbe Nachbarschaft war in unserem Wohnzimmer versammelt, und alle schrien mich an: ‹Schämst du dich nicht? Wir Muslime haben es schon schwer genug. Warum schreibst du so ein Buch? Das sorgt für Hass und Rassismus!›»

Es folgt ein wochenlanger Spiessrutenlauf. Ständig klingeln empörte NachbarInnen. Verwandte aus der Türkei fallen am Telefon über Lale Gül her. Auf der Strasse wird sie beschimpft und bespuckt. Zu Hause herrscht «jeden Tag Krieg». Die Mutter ist schon länger depressiv, droht mit Selbstmord oder sagt ihrer Tochter, sie hätte lieber einen Stein geboren. «Irgendwann schaltest du deine Emotionen aus», sagt Lale Gül. Die kleine Schwester, die sie über alles liebe, mache sie für die Traurigkeit der Mutter verantwortlich. Dem Vater zitterten die Hände vor Anspannung. Wo er auch hinkomme, bekomme er zu hören: «Schämst du dich nicht? Warum hältst du sie nicht zurück?»

Rigide abgesteckte Positionen

In dieser Zeit verlässt Lale Gül kaum noch das Haus. Die Bedrohungen sind inzwischen landesweit ein Thema in den Medien. Sie erwägt, die gerade erst begonnene Schreiblaufbahn zu beenden, und entscheidet sich, nicht mehr über den Islam zu schreiben. «Dieses Land hat einen Kontext», erläutert sie, auf die Morde an Pim Fortuyn (2002) und Theo van Gogh (2004) verweisend und auch auf die Flucht der bedrohten Politikerin Ayaan Hirsi Ali in die USA (2006).

In der Kolenkitbuurt, ihrem Viertel in Amsterdam West, weiss jeder, wo Gül, die Tochter des Briefträgers, wohnt. Kurz bevor sie das Elternhaus verlässt, zieht sie sich – vorübergehend – auch aus den Medien zurück. «Ich habe es so satt. Ich schaffe es mental nicht mehr», twittert sie.

Nun, im Versteck, fühlt die Autorin sich sicherer. Sie hat «mehr Ruhe im Kopf», doch macht ihr die Situation zu schaffen, vor allem, dass sie die kleine Schwester und den Bruder nicht mehr sieht. Dass Menschen ihr oft raten, sie solle doch den Kontakt zu ihrer Familie abbrechen, versteht sie. «Andererseits: Deine Familie ist eigentlich auch dein Safe House, wo du immer hinkannst, wenn es dir nicht gut geht. Darum wollte ich den Kontakt nicht abbrechen. Sie sind auch keine schlechten Menschen, nur sehr konservativ. Aber ihre Liebe ist eben auch nicht bedingungslos.»

Aus dem persönlichen Drama Lale Güls ist in diesem Frühjahr eine nationale Angelegenheit geworden – gerade weil sich viele in ihrem Schicksal wiederfinden. Gül berichtet von Hunderten Mails von Frauen oder homosexuellen Männern, die sich von ihrem Buch ermutigt fühlten. Das Onlinemanifest «Lasst Lale frei» wurde knapp 8000-mal unterzeichnet, auch von vielen Politikern, Publizistinnen und Prominenten. Mit Femke Halsema, der Bürgermeisterin, hat sie regelmässig Kontakt, die Stadt Amsterdam unterstützt sie bei der Finanzierung ihres Verstecks. «Lale steht in einer langen Amsterdamer Tradition von Freidenkern, die mit grossen persönlichen Risiken ihre Freiheit einforderten», schreibt Bürgermeisterin Halsema auf Instagram.

In der noch immer latent explosiven niederländischen Debatte um Islam und Integration war vorauszusehen, dass «Ik ga leven» und seine Verfasserin zwischen die rigide abgesteckten Fronten geraten würden. So kanzelt der Rotterdamer Sozialdemokrat Zeki Baran, Vorsitzender des Mitbestimmungsorgans der Türken in den Niederlanden, das Buch als «Hetzerei» ab: Absichtlich kurz vor den Wahlen veröffentlicht, gehe es darum, die Rechte zu stärken. Dass der Rechtspopulist Geert Wilders Lale Gül in einer TV-Debatte «tapfer» nennt und in ihrem Schicksal «den Beweis» sieht, dass «der türkische Islam sich in den Niederlanden nicht integriert», sorgt bei Gül zu Hause für die finale Eskalation.

Die Autorin kennt den asymmetrischen Frontverlauf dieses Diskurses aus eigener Erfahrung: Drei Jahre lang unterhielt sie eine heimliche Beziehung zu einem Jungen in Den Haag, dessen Vater die PVV (Partei für die Freiheit) von Geert Wilders nicht nur wählt, sondern auch mit Spenden unterstützt. Nachdem er über den Schock ihres Kopftuchs hinweg ist, baut Lale ausgerechnet zu ihm eine besonders herzliche Beziehung auf. Wenn sie mit seinem Sohn in Den Haag unterwegs ist, wird das Paar dagegen zur Zielscheibe permanenter rassistischer Anfeindungen. Eines Tages bietet der Vater selbst tatkräftige Unterstützung an, was auf seine politischen Vorlieben freilich keine Auswirkungen hat.

In dieser Konstellation fühlt sich Lale Gül ziemlich unwohl: «Ich identifiziere mich mit säkularen Türken. Mit religiösen dagegen nicht, und genauso wenig habe ich mit religiösen Niederländern am Hut.» Was ihr aufstösst, ist der kulturelle Relativismus manch Progressiver im Land. «Sie denken, die islamische Kultur besteht aus schönen Kopftüchern und der Geselligkeit des Ramadans, und sehen nicht, dass sich Schwule in dieser Gemeinschaft nicht outen können oder Frauen, die anders leben wollen, als ‹Huren› bezeichnet werden. Neulich wurden in einem Artikel Feministinnen zitiert, die mich mutig fanden, sich aber kein Urteil anmassten, weil es nicht ihre Kultur sei.»

Die neuen Freiheiten

Wer in den Niederlanden nach progressiven AkteurInnen sucht, die vor der heiklen Thematik nicht zurückschrecken, landet schnell bei der Initiative «Vrij Links», die sich seit 2018 für individuelle Rechte und Säkularität einsetzt. Die Vorsitzende Femke Lakerveld war damals eine der AutorInnen des Manifests der freisinnigen Linken. «Ich finde es feige, wenn Lale seitens orthodox Religiöser als Nestbeschmutzerin bezeichnet wird oder von Linken als Schosshund der Rechten», sagt Lakerveld.

Zugleich bemerkt sie, dass die Kritik Lale Güls deutlich mehr politische Unterstützung bekomme als einst jene von Ayaan Hirsi Ali, was durchaus von einer positiven Dynamik zeuge: «Früher liefen Leute wie Lale gegen die Mauer einer kulturrelativistischen Linken.» Selbst sei sie in den letzten Jahren auf viele Menschen in einer vergleichbaren Situation gestossen, die sich von «Vorschriften, die ihnen andere zuteilten», befreit hätten. «Eigentlich ist es sehr einfach: Antidemokratische Äusserungen, Rassismus, Frauenhass und Homophobie müssen gleichsam deutlich abgelehnt werden, egal aus welcher politischen oder kulturellen Ecke sie kommen.»

Lale Gül sorgt sich unterdessen, wie sie ihr Studium fortsetzen soll, wenn die Hochschulen Ende April wieder ihre Türen öffnen. In Onlinekursen fühlt sie sich derzeit sicherer als an der Universität, ganz zu schweigen davon, dass sie sich nicht in öffentliche Verkehrsmittel traut. Ihr Fazit ist denn auch ein sehr gemischtes: «Einerseits habe ich zum ersten Mal Freiheiten: Ich kann gehen, wohin ich will, treffen, wen ich will, eine Beziehung haben, mit wem ich will, und anziehen, was ich will. Ich brauche kein Kopftuch zu tragen und kann im Sommer an den Strand. Aber ich habe meine Anonymität verloren.»