Palästina: Wenn Ärzte Begleitung brauchen: Nur die Köpfe

Ein Versuch praktischer Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung ist die «Zivile Mission». Die WOZ dokumentiert Auszüge aus dem Tagebuch eines Schweizer Aktivisten.

Mit drei Taxis fahren wir auf haarsträubenden Routen vom Flughafen über Jerusalem nach Ramallah. Dabei müssen wir zweimal aussteigen, bei brütender Hitze warten, um schliesslich Checkpoints zu passieren. Je näher Ramallah und das Flüchtlingslager Kalandia rücken, desto gespenstischer und angespannter wird es: Ausgangssperre. Seit Dienstag. Und wir fahren mit den Taxis einfach rein! Man merkt den Taxifahrern die Nervosität an, sie bremsen vor jeder Ecke, jeder will den anderen nach vorne lassen, der Fahrpreis ist hoch. Viele Menschen stehen an Fenstern und Türen, nur wenige Kinder spielen draussen. Jedoch: Alle scheinen froh darüber, zu sehen, dass sie nicht alleine sind. Dies wird uns auch immer wieder versichert. Alle Menschen winken, manche laden uns zum Kaffee ein, manche bitten um Milch für die Kinder – wir haben keine!

Wir stoppen am Fuss des Hügels, auf dem das Ramallah Hospital steht, und steigen aus. Die Taxifahrer wünschen uns eindringlich, Gott möge mit uns sein. Vorsichtig steigen wir den Hügel hoch, irgendwo rechts muss das Spital liegen. Plötzlich sehen wir die Soldaten. Nur die Köpfe. Dann ein Panzerrohr. Und zwei kleinere Panzer.

Ja nicht hastig umkehren. Wir entscheiden uns, trotz auf uns gerichteten Gewehren weiterzugehen. Man lässt uns heran. Die Soldaten sind kaum zwanzig Jahre alt. Wir verhandeln und geben uns als Ärzte und Pfleger aus. Man glaubt uns kaum, lässt uns aber nach Pass- und Taschenkontrolle passieren. «Mein» Soldat blickt mir tief in die Augen und sagt leise und langsam, kopfschüttelnd: «What the hell are you doing here? Why do you come from Switzerland to Ramallah? Why?» Ich glaube und hoffe, dies ist keine Ironie. Aber trotzdem: Er hat das Sturmgewehr und den Panzer.

Wir schaffen es, in den Hof des Spitals zu gelangen. Rund zwanzig amerikanische AktivistInnen liegen im Schatten herum. Sie sind gestern angekommen. In der Nacht durften sie die Sprengung eines Dutzends Autos miterleben. Die Explosionen waren derart nah am Spital, dass einige Scheiben zu Bruch gingen. Jetzt fahren Ambulanzen mit Blaulicht vor. Und werden viertelstundenlang untersucht. Peinlichst genau, absolut sinnlos. Denn sie wollen nur ins Spitalgelände rein.

Auf dem Parkplatz des Spitals, ausserhalb der Gitter, sieht man zwei Massengräber, die mittlerweile zu Gedenkstätten wurden. Die Palästina-Fahnen hängen schlaff herunter. Während der Besetzung im März gelang es nicht einmal, die toten Patienten auf einem Friedhof zu begraben.

Irgendwann kommen wir raus. So etwas muss man erlebt haben. Ramallah ist wie ausgestorben, nur zwanzig AktivistInnen gehen langsam durch die Trümmer: Kaputte Häuser, plattgedrückte Autos, demolierte Läden, Abfall, Gestank. Und überall Menschen an den Fenstern, auf den Balkonen. Alle winken, lächeln. Wieder werden wir gefragt, ob wir Milch für die Kinder hätten. Wir haben keine. Wir geben uns Mühe, auf der Strasse laut zu sein. Es wurde uns gesagt, dass so die Menschen auf uns aufmerksam würden und in ihrer Isolation einen Lichtblick erlebten.

Von neun bis vierzehn Uhr wird die Ausgangssperre vorübergehend aufgehoben. Knapp vor neun Uhr sieht man wieder beinahe an jedem Fenster Menschen. Kein Jeep kommt, um die Aufhebung anzukündigen. Zögerlich gehen die ersten Menschen für wenige Minuten auf die Strasse, einzelne Autos fahren in grosser Hast vorbei. Nach weiteren Minuten werden es immer mehr, die meisten hupen, um die Leute aus den Häusern zu holen. Binnen einer halben Stunde sind die meisten Läden offen, die Strassen mit Autos und Personen, die Trottoirs mit Menschen, Tieren und Wagen verstopft. Ramallah lebt.

Wir gehen auf den Markt, um Vorräte einzukaufen. Unser Kühlschrank platzt aus allen Nähten, zudem muss man aufpassen, dass nichts verfault. Immerhin: Wir haben einen Kühlschrank. Um halb zwei Uhr sind schon wieder deutlich weniger Menschen auf der Strasse. Bald ist wieder Ausgangssperre. Wir gehen um halb drei rein, die Menschen hasten, die Autos fahren mit überhöhter Geschwindigkeit, die Läden werden geschlossen. Für wie lange? Niemand weiss es.

Man hat das Gefühl, eigentlich gar nicht viel zu tun. Doch die MedizinerInnen versichern immer wieder, wie froh sie um uns seien: Die Ambulanzen stünden weniger lang herum und würden seltener kontrolliert, die Soldaten gäben sich zivilisierter, man habe weniger Angst und sei weniger nervös.

Erneut werden wir von einem Truppentransporter und einem Panzer angehalten und kontrolliert. Schweizer Pass zeigen, freundliche Worte, gelassene Haltung und vorbei ist die Sache. Die hinter den Fenstern zuschauenden Palästinenser müssen neidisch sein. Als wir beinahe beim Büro angekommen sind, treffen wir auf zwei Transporter und einen Panzer, die ein Auto blockieren. Ein Palästinenser wollte noch an seinen Arbeitsort. Wir entscheiden uns, zu warten. Nach einer Viertelstunde kann der Palästinenser davonfahren.

Ich begleite einen Arzt auf einem Hausbesuch. Zu Fuss. Eine Viertelstunde gehen. Weshalb? Weil immer wieder Ambulanzen konfisziert werden. Nach dem Hausbesuch gelingt es uns, in einem eigentlich geschlossenen Geschäft Batterien für die medizinischen Geräte zu kaufen.

Wir erfahren, dass die Ausgangssperre heute nicht aufgehoben wird. Die Taxipreise steigen enorm: Für knapp drei Kilometer bezahlen wir rund 13 Franken pro Person. Moralisch ist es absolut daneben, Menschen dafür zu bezahlen, Bussen, Gefängnis, Verletzungen oder gar den Tod zu riskieren. So lassen wir den Fahrer nach der holprigen, vorsichtigen und nervösen Fahrt auch früher anhalten, geben einiges Trinkgeld und gehen den Rest zu Fuss. Wenigstens lässt sich das durch den Zweck unseres Aufenthaltes doch teilweise legitimieren. Einige von uns haben sich bereits entschieden, später als geplant in die Schweiz zurückzukehren. Wir können einfach nicht heim, wir wollen nicht.

«Zivile Mission»

In drei Gruppen reisten 14 Schweizerinnen und Schweizer im Juni 2002 für eine Woche nach Palästina, um gemeinsam mit lokalen nichtstaatlichen Organisationen zivile Protestaktionen und medizinische Versorgung zu unterstützen. Organisiert wurde die «Zivile Mission» von der Gruppe Schweiz ohne Armee (GSoA); unter den TeilnehmerInnen befanden sich auch Mitglieder der Juso und der Gesellschaft Schweiz– Palästina.