Kost und Logis: Wege für den Rest des Lebens

Nr. 46 –

Bettina Dyttrich hat das Ossola gefunden

Sie stehen am Bahnhof Bern, auf der Rampe von der Unterführung zum Perron. Sie stehen genau so, dass niemand mehr durchkommt. Zuerst bin ich genervt, dann muss ich lachen: Es ist eine italienische Tourist:innengruppe auf Bernausflug, mit dem Lötschbergzug aus Domodossola angereist. Es geht also auch umgekehrt.

An sonnigen Samstagen sind Bern- und Walliserdeutsch die lautesten Idiome in der Innenstadt von Domodossola. Deutschschweizer:innen decken sich auf dem riesigen Markt mit Kleidern, Käse und Steinpilzen ein, verstopfen die Bars am Bahnhofplatz und schwärmen vom italienischen Kaffee. Neben der direkten Anreise von Bern ist auch die Rundfahrt mit der Centovallibahn über Locarno beliebt. Im Tiefbahnhof dieses viel zu kurzen Züglis wirds dann endgültig klaustrophobisch.

Aber wer nur in der Stadt und in den Zügen bleibt, verpasst das Schönste. Auch ich habe das erst vor kurzem gemerkt. Seither bin ich fasziniert und überfordert. Topografisch ist das Ossola eine der extremsten Regionen der Alpen. Der Talboden liegt auf nur knapp 300 Metern, rundherum stehen Zweitausender und dahinter schon die Viertausender des Monte-Rosa-Massivs. Das gibt sehr viel Landschaft auf kleinem Raum, sehr viele Seitentäler, Klimazonen, Pflanzengesellschaften, Abgründe und Ausblicke.

Nur schon das Valle di Bognanco, das gleich am Stadtrand von Domodossola beginnt: sehr grün, sehr steil. An den Hängen dichter Laubwald, der fast tropisch wirkt, im engen Talboden der absurd heruntergekommene Badekurort Fonti. Ein Thermalbad, umringt von Ruinen. Vor und nach den Weltkriegen wurde hier in grandioser Selbstüberschätzung ein Hotel nach dem anderen gebaut, dazu Dancing, Trinkhalle, Kino. Ähnlich überdimensioniert ist der Wallfahrtsort Re an der Grenze zum Centovalli. Dort eine Marienerscheinung, hier das Mineralwasser: Beides zieht nicht mehr so. Man muss froh sein, wenn einem kein Balkon auf den Kopf fällt. Aber das Bad ist offen, die Bademeisterin herzlich, und im Anbau des wunderschönen, natürlich geschlossenen Kinos verkauft ein Teenager Getränke zu dröhnender Retrorockmusik. Nur Glace gibt es nicht mehr – Ende der Saison.

An den Hängen die beeindruckende Steinarchitektur der Agrargesellschaft – Terrassen, Treppen, Ställe, Kapellen. Weiter oben wachsen Lärchen, die Landschaft wird sanfter, der Blick weiter. Im Weiler Graniga ein angenehmes Hotel, in den Wäldern mehrere Rifugi. Diese sind nicht ganz vergleichbar mit SAC-Hütten, oft haben sie eine Zufahrt, bieten schöne Mehrbettzimmer und einfache, aber gute, günstige Mahlzeiten mit Schwerpunkt Polenta.

Und das ist erst eines von vielen Tälern. Mein ganzes restliches Leben wird nicht reichen für alle Wanderwege im Ossola. Das beruhigt mich sehr. «Delle stelle alle stalle», hat jemand in Domodossola an eine Hauswand geschrieben. Von den Sternen zu den Ställen? Eher umgekehrt.

Bettina Dyttrich ist WOZ-Redaktorin und empfiehlt als Einführung ins Ossola den Rother-Wanderführer von Tim Shaw.