Der Schatz der Wismut

Le Monde diplomatique –

Franz Tippel, Wismut – Neuerer (1972), Öl auf Leinwand
Franz Tippel, Wismut – Neuerer (1972), Öl auf Leinwand Foto: Wismut GmbH/DIK/A. Kämper

In einem Glaskasten DDR-Verdienstmedaillen, im Schrank daneben schwere rote Fahnen, wie sie einst auf Maiparaden geschwungen wurden, in Aktenschubladen technische Zeichnungen von Minenschächten und Karten mit handschriftlichen Randnotizen in kyrillischer Schrift. Nico Loße, Co-Geschäftsführer der Wismut-Stiftung, führt uns durch das Depot des ehemaligen Bergbauunternehmens SDAG Wismut. Das einstige Industriekonglomerat mit bis zu 100 000 Mitarbeiter:innen baute unter strengster Geheimhaltung Uran für sowjetische Atombomben ab.

Langsam gleitet die letzte Tür auf. Die Tür zum Allerheiligsten. Was hier aufbewahrt wird, ist nicht für die Augen der Öffentlichkeit bestimmt. Hier am Stadtrand von Chemnitz, hinter der imposanten Säulenfassade der ehemaligen Wismut-Hauptverwaltung, befindet sich der wohl größte Kunstschatz der DDR.

Rund 4.300 Werke sammelte die Wismut zwischen ihrer Gründung 1946 und der Wende 1990. Die Wismut-Stiftung ist eine Tochtergesellschaft der Wismut GmbH, die 1991 vom Bund geschaffen wurde, um die massiven Umweltschäden zu beseitigen, die der Bergbau hinterlassen hat. Die Stiftung, 2021 gegründet, soll sich um das „Erbe der Wismut“ kümmern, wozu neben der umfangreichen Kunstsammlung auch ein großer Foto- und Filmbestand gehört.

Nico Loße greift nach einem Gemälde, das deutlich größer ist als er selbst: Eva Schulze-Knabes „Hauerbrigade Herzog“ von 1973. Es zeigt vier Bergleute im Schacht, in eine konzentrierte Beratung vertieft. „Viele der Motive haben mit Bergbau zu tun“, erklärt Loße in breitem Sächsisch. „Oft bekamen die Künstler die Gelegenheit, unter Tage zu gehen und den Bergleuten bei der Arbeit zuzuschauen.“

Es mag verwundern, dass ein DDR-Bergbauunternehmen so viel Wert auf die Förderung und Produktion von Kunst legte. Doch mit der sicherheitspolitischen Bedeutung des Uranabbaus für den gesamten Ostblock und dem Umfang, in dem er hier betrieben wurde, konnte die SDAG Wismut sich ein eigenes Infrastrukturnetzwerk aufbauen. „Die Mitarbeiter wurden in ihren eigenen Krankenhäusern behandelt. Sie haben in ihren Restaurants gegessen und in ihren speziellen Einrichtungen Urlaub gemacht“, erklärt Loße.

Dazu kamen eigene Schulen, Kinos, Einkaufszentren, Freizeitanlagen und Sportvereine. Als Kompensation für die harte und – nicht zuletzt durch radioaktive Strahlung – gefährliche Arbeit unter Tage waren die Bedingungen deutlich besser als im DDR-Durchschnitt. Die Wismut kümmerte sich auch um die kulturelle Bildung der Bergleute, sie betrieb Galerien und lud Künstler zu Arbeitskreisen und Exkursionen ein. Große Auftragsarbeiten wurden in Kantinen und Fabrikhallen ausgestellt.

Die Wismut entwickelte sich zu einem „Staat im Staate“, wie Loße sagt. „Kunstwerke in Auftrag zu geben und zu erwerben war nur eine von vielen Aktivitäten.“ Er geht durch die Regalreihen, schiebt Plastikhüllen beiseite und gleitet mit dem Fingern über Bilderrahmen.

Hier lagern Werke einiger der prominentesten DDR-Künstler:innen: Werner Petzold, Frank Ruddigkeit, Alexandra Müller-Jontschewa, Hans Siegenbruk. Drei Bilder von Carl Kuhn. Auch Werner Tübke, einer der Gründer der Leipziger Schule, ist vertreten. Und Willi Sitte. Von Carl-Heinz Westenburger gibt es mehrere Zeichnungen von Bergmännern und Landschaften.

Diese Künstler:innen erhielten die höchsten Auszeichnungen des Landes und unterrichteten an den angesehensten Akademien. Nach dem Ende der DDR gerieten die meisten von ihnen in Vergessenheit, ihr Œuvre blieb in den Tiefen des Wismut-Depots. In mehr als 30 Jahren gab es nur einige wenige temporäre Ausstellungen in ostdeutschen Provinzstädten, die kleine Teile der Sammlung zeigten.

Seit dem Ende des Kalten Kriegs und dem Zusammenbruch des Ostblocks steht diese Kunst im Verdacht, bloße Propaganda im Dienst eines totalitären Regimes zu sein und eindimensional sozialistischen Realismus zu reproduzieren. „Im wiedervereinigten Deutschland geht die Tendenz dahin, die Werke als politisch belastet abzustempeln“, sagt Nico Loße.

Die größte Sammlung von DDR-Kunst

„Und es gibt natürlich in der Sammlung reine Auftragsarbeiten, bei denen das Honorar eine große Rolle gespielt hat. Aber das gilt ja nicht nur für die DDR. Das gilt für die gesamte Kunstgeschichte seit der Antike.“ Die interessantere Frage sei, inwieweit sich die Künstler:innen bestimmten Anforderungen angepasst und gebeugt haben. „Wenn ich mir die Gemälde anschaue, scheint mir, dass der Einfluss von oben oft relativ gering war.“

Es gebe Werke, die bestimmte positive Aspekte des Kommunismus hervorheben und verherrlichen. Andere seien hingegen Beispiele, dass in einem gewissen Maß auch Kritik möglich war. Die Stärke der Sammlung liege darin, dass sie beides zeigt: „Der Titel von Werner Petzolds Gemälde ‚Friedliche Nutzung der Atomkraft‘ ist höchst irreführend, wenn man weiß, dass die Wismut für die Herstellung von Atombomben gegründet wurde. Und es finden sich Bilder wie ‚Blick auf Ronneburg‘ von Kurt Pesl, das eine durch den Bergbau zerstörte Landschaft zeigt.“ Propaganda oder nicht? In die Mottenkiste oder ins Museum?

Die Wismut-Kunst mag umstritten sein, die Bedeutung des Urans, an dem die Berge rund um Chemnitz so reich sind, ist es nicht. Nachdem die USA im August 1945 in Hiroshima und Nagasaki gezeigt hatten, was Atomwaffen anrichten können, setzte Stalin alles daran, seine eigene Bombe zu entwickeln. Doch im gesamten sowjetischen Einflussbereich wurde nur in Sachsen und Ostthüringen ausreichend Uran gefunden. Hier konzentrierte Stalin seine Bemühungen, die USA im nuklearen Wettlauf einzuholen. Vom Erfolg oder Misserfolg dieser Bemühungen hing die gesamte Geo- und Sicherheitspolitik der UdSSR ab. Daher wurde an nichts gespart.

SDAG Wismut steht für Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft, was den Eindruck erweckt, es handele sich um eine partnerschaftliche Zusammenarbeit von ostdeutschen und sowjetischen Behörden. Doch in Wirklichkeit wurde ein so wichtiges und geheimes Unterfangen wie die Entwicklung von Atomwaffen selbstverständlich direkt von Moskau gesteuert. „Die Geheimhaltung fing schon beim Namen an“, erklärt Loße. Wismut oder Bismut ist die Bezeichnung für ein relativ unbedeutendes Metall. „Mit Uran hat das nichts zu tun und diente nur als Tarnung.“

Die Sicherheitsmaßnahmen und die Geheimhaltung waren umfassend. Es gab Sperrgebiete, sowjetische Soldaten patrouillierten, die Bergleute mussten sich stets ausweisen. Fotografieren war strengstens verboten. Außerdem gab es eine Reihe von Maßnahmen, die den eigentlichen Zweck des Bergbaus, die eingesetzte Technik sowie die geförderten Erzmengen verschleiern sollten.

Nachdem sich Nico Loße mit dem alten Bergmannsgruß „Glück auf!“ verabschiedet hat, geht es mit der Regionalbahn Richtung Chemnitzer Stadtzentrum. Unter dem 7 Meter hohen Kopf von Karl-Marx treffe ich den Kunstkritiker Burkhard Müller. Über die Wismut-Sammlung sagt er: „Das ist ein beeindruckendes Konvolut, das sich noch niemand ernsthaft angeschaut hat.“

Niemand habe die Sammlung sortiert oder bewertet. Niemand habe sich einen Gesamteindruck über den Wert und die Bedeutung der Kunst verschafft. Obwohl die meisten Künstler:innen, die in der Sammlung vertreten sind, heute in Vergessenheit geraten sind, „beherrschen viele von ihnen ihr Handwerk auf hohem, oft sehr hohem Niveau“. Und die Motive seien „weit weniger stereotyp“ als die gängigen Klischees des sozialistischen Realismus.

Er blättert durch den Katalog, den er mitgebracht hat, lässt den Blick auf Abbildungen schmutziger Gesichter und rauer Hände ruhen. „Was mir immer imponiert hat, sind die Porträts von einzelnen Bergleuten. Davon gibt es sehr viele. Sie haben alle ihre eigene Würde. Das sind keine hochrangigen Politiker oder Wirtschaftsbosse. Das sind Arbeiter.“

„Und jetzt schauen Sie mal hier.“ Müller ist beim Gemälde „Schichtbus“ von Lutz R. Ketscher angelangt. Unter den Figuren im Bus fällt ein älterer Bergmann auf. Gebeugt von jahrelanger harter Arbeit, zieht er kraftlos an einer Zigarette. Im Fenster des Busses spiegelt sich die nächtliche Silhouette einer Erzaufbereitungsanlage, der dicke Rauch aus den Schornsteinen und die düstere Farbwahl verheißen nichts Gutes.

Laut Müller ist das Gemälde mit Werken von Edward Hopper vergleichbar. „Wie sich die Einsamkeit in der großen Glasscheibe spiegelt. Das ist außergewöhnlich raffiniert gemacht. Ein großartiges Werk von einem völlig unbekannten Maler. Das Wismut-Archiv ist voll von solchen Arbeiten, die darauf warten, entdeckt zu werden.“

Auf ihn haben die künstlerische Freiheit, die viele der Künstler:innen offenkundig genossen haben, und die stilistische Bandbreite der Arbeiten einen starken Eindruck gemacht. Und er merkt an, dass die Sammlung weit über die Grenzen des von den DDR-Bonzen bevorzugten sozialistischen Realismus hinausgeht.

Müller erinnert sich noch gut, wie „nach der Wende niemand mehr etwas zu tun haben wollte mit dem, was als Staatskunst galt. Und nichts war verdächtiger als die Bestände im Wismut-Depot. Die Maler, die in der DDR geblieben sind, stehen unter dem Pauschalverdacht, dem System blind gedient zu haben. Lange bestand an ihren Werken keinerlei Interesse. Bei der Wismut hat dieser Umstand dazu geführt, dass diese vermutlich größte Kunstsammlung der DDR der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist.“

Chemnitz wurde zur Kulturhauptstadt Europas 2025 ernannt, was laut Müller das Bewusstsein für die Wismut-Kunst schärfen könnte. „Die Sammlung wäre die Hauptattraktion. Die Stadt besitzt etwas, was sonst niemand auf der Welt hat“, sagt er und legt den Katalog zur Seite.

Auf dem Cover streckt einer von Werner Petzolds Bergleuten dem Betrachter die Hand entgegen – ein Appell, die Kunst der Wismut aus der Vergessenheit zu holen.

Jens Malling ist Journalist. Sämtliche im Text beschriebenen Bilder finden sich in: Paul Kaiser und Holger Saupe (Hg.), „Sonnensucher. Die Kunstsammlung der Wismut – eine Bestandsaufnahme“ (Kat. Kunstsammlung Gera 2014), Dresdner Institut für Kulturstudien 2014.