Sexualstrafrecht: Der harzige Weg zum gültigen Nein

Nr. 10 –

Die Schweiz reformiert ihr Sexualstrafrecht – und nähert sich damit Staaten wie Schweden oder Spanien an. Doch auch dort bleiben die Debatten hitzig.

Demonstration für die «Nur Ja heisst Ja»-Lösung im Mai 2022 in Bern
«Zustimmung ist sexy»: Demonstration für die «Nur Ja heisst Ja»-Lösung im Mai 2022 in Bern. Foto: Alessandro della Valle, Keystone

Kaum eine Reform wurde in den letzten Jahren so kontrovers diskutiert wie jene des Sexualstrafrechts. Am Dienstag nun hat der Ständerat bei den zentralen Fragen Hand zu einem Kompromiss geboten, dem der Nationalrat im Juni zustimmen dürfte. Er blieb zwar im Gegensatz zum Nationalrat, der im Winter die Regelung «Nur Ja heisst Ja» beschlossen hatte, bei der Widerspruchslösung. Weil der Ständerat nun aber das sogenannte Freezing – ein Erstarren des Opfers – berücksichtigen und zudem Richter:innen die Möglichkeit geben will, Täter:innen zu Präventionskursen zu verpflichten, unterstützen linke Politiker:innen sowie 39 Fachstellen und feministische Organisationen die Reform (vgl. «Ein Sieg für die Frauenrechte»). Die Strafrechtsexpertin Nora Scheidegger, die an vorderster Front für eine Reform des Sexualstrafrechts gekämpft hatte, sagt: «Wir haben erreicht, was politisch möglich war.»

Den Paradigmenwechsel verankern

Die Schweizer Reform muss im internationalen Kontext betrachtet werden. In vierzehn europäischen Ländern gilt laut der Menschenrechtsorganisation Amnesty International bereits die Zustimmungslösung: in Belgien, Dänemark, Griechenland, Grossbritannien, Irland, Island, Kroatien, Luxemburg, Malta, Schweden, Finnland, Slowenien, Spanien und Zypern. Deutschland kennt seit 2016 die Widerspruchslösung. In der Schweiz gilt aktuell noch ein extrem veraltetes Sexualstrafrecht. Es setzt für die Anerkennung von Vergewaltigungen nicht nur Gewalt voraus, sondern definiert sie auch sehr eng: als vaginale Penetration weiblicher Personen.

Es sei kein Zufall, dass in westlichen Ländern derzeit so heftig über das Sexualstrafrecht debattiert werde, sagt Manuel Cancio Meliá, Professor für Strafrecht an der Autonomen Universität Madrid. «In den meisten dieser Länder hat sich vor rund hundert Jahren ein Epochenwechsel vollzogen: Auch die Frauen wurden zu Bürgerinnen. Das schlägt sich nun zunehmend auch im Sexualstrafrecht nieder.» Die sexuelle Selbstbestimmung der Frauen rücke immer mehr ins Zentrum der Debatte. «Die Reformen versuchen, diesen Paradigmenwechsel gesetzlich zu verankern», sagt Cancio Meliá.

Doch noch gibt es kaum Daten dazu, wie sich die Strafrechtsreformen konkret auswirken. In vielen der betreffenden Länder gebe es seitdem zwar mehr Anzeigen, sagt Cancio Meliá. Doch noch fehlten die Erkenntnisse dazu, ob Vergewaltigungsopfer eher zur Polizei gingen, weil sie mehr Chancen für eine Verurteilung sähen, «oder ob andere Faktoren wie die #MeToo-Debatte wichtiger sind – oder es schlicht mehr Übergriffe gibt».

Auch dazu, wie sich die Reformen auf die Zahl der Verurteilungen auswirken, gibt es noch kaum Untersuchungen. Erste Anhaltspunkte liefert einzig Schweden, wo seit 2018 ein sehr progressives «Nur Ja heisst Ja»-Gesetz gilt. Der Schwedische Nationalrat für Kriminalprävention studierte 2019 alle Vergewaltigungsurteile der Gerichte. Er stellte fest: Die Verurteilungsrate hatte sich im Vergleich zu 2017 um 75 Prozent erhöht. Doch der deutliche Anstieg erfolgte nicht in erster Linie deshalb, weil es zu mehr Anklagen kam. Vielmehr scheint das schwedische Gesetz einen unerwarteten Effekt auf Fälle zu haben, bei denen Opfer gewaltsam zu Sex gezwungen werden: Es macht es leichter, diese Vergewaltigungen zu beweisen. Denn laut Expert:innen sei die von Opfern geschilderte Gewalt manchmal nicht nachweisbar – die fehlende Einwilligung jedoch schon. Erste Daten aus Deutschland deuten darauf hin, dass die dort geltende Widerspruchslösung einen ähnlichen Effekt hat.

Von den 76 Prozessen, die es in Schweden 2019 ohne das neue Einwilligungsgesetz nicht gegeben hätte, endete die Hälfte mit einer Verurteilung. Laut den Expert:innen werden Vergewaltigungen nach der neuen Definition am häufigsten von jungen Erwachsenen angezeigt. In den meisten Fällen würden sich Täter und Opfer locker kennen und etwa im Kontext einer Party im selben Bett landen.

Das Zustimmungsprinzip funktioniert für die Expert:innen gut – in vielen Fällen könne sich das Gericht neben der Aussage des Opfers auf weitere Indizien, wie etwa Textnachrichten, stützen. Schärfungsbedarf sehen sie lediglich im Graubereich der Fahrlässigkeit, den es im schwedischen Modell gibt: So sei es etwa schwierig, die Grenze zwischen erlaubten Überzeugungsversuchen und unerlaubtem Unter-Druck-Setzen zu ziehen.

Allgemein gebe es bei den Debatten um das Sexualstrafrecht viel Polemik, sagt Strafrechtsprofessor Cancio Meliá. Weder «Nein heisst Nein» noch «Nur Ja heisst Ja» änderte etwas daran, dass die Beweislast weiter bei der Anklage liege. «Ausserdem war die Aussage des Opfers bei Vergewaltigung schon immer zentral, weil diese in der Regel unter vier Augen geschieht.»

Polemische Debatte in Spanien

Wie aufgeladen die Debatte sei, zeige sich aktuell zum Beispiel in Spanien. Dort ist seit rund fünf Monaten ein ähnlich progressives Zustimmungsgesetz wie in Schweden in Kraft. Doch am vergangenen Dienstag hat das Unterhaus beschlossen, dieses bereits wieder zu überarbeiten. Für öffentliche Empörung hatte eine nicht bedachte Wirkung des Gesetzes gesorgt: Im Zuge der Reform wurde auch das Strafmass für Vergewaltigungen angepasst. Das Mindeststrafmass wurde abgesenkt, das Maximalstrafmass angehoben. Weil in Spanien aber Fälle nach einer Gesetzesänderung vor Gericht neu aufgerollt werden können, stellten mehrere Straftäter daraufhin Anträge auf Wiederaufnahme ihrer Verfahren. 65 von ihnen wurden seit Oktober vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen, darunter auch Sexualstraftäter mit schwerwiegenden Delikten. Mit dem Grundprinzip der Zustimmung hätten diese Fälle zwar nichts zu tun, sagt Cancio Meliá. Dennoch werde dieses in Spanien nun wieder infrage gestellt.

In der Schweiz gehen die Diskussionen im Juni weiter. Noch gibt es Differenzen zwischen Ständerat und Nationalrat. Umstritten ist insbesondere die Frage der Strafrahmen.

Strafrechtsexpertin Nora Scheidegger regt derweil bereits neue Debatten an: Weil der Streit um die Frage der Zustimmungs- oder Widerspruchslösung die Parlamentsdebatte dominiert habe, sei über viele Aspekte der sexuellen Selbstbestimmung nicht diskutiert worden. «Andere Länder sind da weiter.» Vielerorts würde etwa darüber debattiert, was sexuelle Selbstbestimmung im Zusammenhang mit Behinderung oder Demenz heisse. «Auch die Frage, ob Täuschungen – also das Vorspiegeln falscher Tatsachen, um Sex zu bekommen – strafbar sein sollen, ist in vielen Ländern gerade ein grosses Thema.»