Sachbuch: Das Grauen überlebt

Nr. 16 –

In fünfzehn Porträts zeichnet die Autorin Simone Meier die Lebensgeschichten von Überlebenden des NS-Regimes nach.

Buchcover von  «Bevor Erinnerung Geschichte wird. Überlebende des NS-Regimes in der Schweiz heute – 15 Porträts»
Simone Müller: «Bevor Erinnerung Geschichte wird. Überlebende des NS-Regimes in der Schweiz heute – 15 Porträts». Mit Fotografien von Annette Boutellier. Limmat Verlag. Zürich 2022. 200 Seiten. 43 Franken.

Eine Pferderennbahn bei Budapest, im November 1944 werden Tausende ungarische Jüdinnen und Juden zusammengetrieben, auf dem Weg in die deutschen Vernichtungslager. Mit dabei die damals fünfzehnjährige Agathe Rona und ihre Mutter. Diese geht auf einen Polizeikommandanten zu, sagt, sie seien Christinnen – und tatsächlich lässt sie der Kommandant durch eine Lücke im Stacheldraht rund um die Rennbahn entfliehen.

Agathe Rona ist eine der fünfzehn Überlebenden des NS-Regimes, die die Autorin Simone Müller in «Bevor Erinnerung Geschichte wird» porträtiert. Es sind solche glücklichen Wendungen, die auch in den Erzählungen der anderen Überlebenden das Grauen der NS-Zeit kontrastieren. Alle leben sie im hohen Alter in der Schweiz und geben einen Einblick in die Zeit der Verfolgung, der sie in unterschiedlichen europäischen Ländern ausgesetzt waren. Die Porträts führen in Verstecke, in Ghettos und Konzentrationslager und berichten von verschiedenen Lebenswegen nach der Befreiung.

Auch das Geburtsjahr prägt das Erlebte: Die beiden jüngsten Porträtierten sind 1942 in Belgien beziehungsweise den Niederlanden geboren und wurden bei Pflegeeltern versteckt. Für beide war es ein tiefer Einschnitt, von den biologischen Eltern, die sie als fremd wahrnahmen, später wieder abgeholt zu werden. Monique Simon schildert die Einsamkeit, die ihr Leben bestimmte. Sie gewöhnte sich nie mehr wirklich an andere Menschen, nachdem sie sich als Kleinkind möglichst unauffällig verhalten und alleine auskommen musste. Bei anderen Porträtierten gab es ein Leben vor der Verfolgung. So sagt der 1930 geborene László Papp: «Bis 1944 war ich der glücklichste Mensch. Wenn ich das nicht gehabt hätte, diese ersten 14 Jahre, dann hätte ich Auschwitz nicht überlebt.»

Simone Müller rahmt die Erzählungen der Überlebenden mit Beobachtungen an deren aktuellen Wohnorten, sie fängt Stimmungen ein, beschreibt Möbel und Wandbilder, lenkt die Aufmerksamkeit auf Körpersprache, Mimik und Stimme der Interviewten. So sind behutsam verfasste Kurzbiografien entstanden, die sehr lebensmutige Menschen zeigen –trotz allem Erfahrenen.