Klimaprozess in den Niederlanden: 550 Megatonnen im Gerichtssaal

Nr. 15 –

2021 wurde Shell als weltweit erster Konzern von einem Gericht dazu verpflichtet, seine CO₂-Emissionen zu reduzieren. Seither hat in Europa der klimapolitische Wind gedreht – und im Berufungsprozess spielt der Fossilgigant plötzlich die soziale Karte.

Es war ein Meilenstein in der Geschichte der Klimaklagen: Am 26. Mai 2021 wurde der Ölkonzern Shell in den Niederlanden dazu verurteilt, seine CO₂-Emissionen bis 2030 um 45 Prozent gegenüber dem Stand von 2019 zu reduzieren. Erstmals entschied ein Gericht damit über die Mitverantwortung eines Konzerns für die Klimakatastrophe. Nach fast drei Jahren stehen sich Shell und die NGO Milieudefensie – der niederländische Zweig der Umweltorganisation Friends of the Earth, auf deren Klage das Urteil folgte – in Den Haag wieder vor Gericht gegenüber. Letzte Woche begann der Berufungsprozess.

Shell will das imageschädigende Urteil unbedingt korrigieren, dafür hat der Konzern sogar die Anwaltskanzlei gewechselt. Vor Gericht argumentierte Shell nun, ein richterlicher Befehl gegen eine einzelne Firma sei nicht effektiv und habe keinen Effekt auf die Nachfrage, da Kund:innen sich der Konkurrenz zuwenden würden. Für das weltweite Emissionsniveau könne dies gar kontraproduktiv sein, da die Konkurrenz womöglich mehr CO2 ausstosse. Am ersten Sitzungstag bekannte sich der inzwischen in Grossbritannien angesiedelte Konzern zu den Pariser Klimazielen.

Ein weiteres Argument: Die Regie bei deren Umsetzung sei Sache der Regierungen, nicht der Justiz. Die letzten drei Jahre hätten gezeigt, dass die Verbindung von Energiesicherheit und Bezahlbarkeit «keine ausgemachte Sache» sei. Beide dürften nicht reinen «Klimainteressen» untergeordnet werden. Die Energiewende stellte Shell als politischen Balanceakt dar. Das Urteil von 2021 sei «desaströs für die Niederlande» und ihre Wirtschaft, dem Land drohe eine «Deindustrialisierung», zumal Milieudefensie weitere Klagen gegen 29 Grossunternehmen angekündigt hat.

1,4 Prozent aller Emissionen

Milieudefensie fordert, das Urteil schon wegen der klimaschädlichen Dimensionen des Konzerns zu bestätigen. Die Emissionen von Shell liegen über jenen der meisten Länder der Welt und betrugen zum Zeitpunkt des Urteils 550 Megatonnen CO₂ jährlich – 1,4 Prozent der weltweiten Emissionen. Auch dass Shell die eigenen Vorgaben – zwanzig Prozent weniger Ausstoss bis 2030 – kürzlich auf vage fünfzehn bis zwanzig Prozent abschwächte, ist laut der Organisation alarmierend; ebenso wie Pläne für neue Öl- und Gasprojekte.

Die Faktenlage, so Milieudefensie-Direktor Donald Pols und Anwalt Roger Cox, habe sich seit 2021 noch erhärtet. Will sagen: Die Beweise für die Erderhitzung sind erdrückend. 650 davon legt die Organisation dem Gericht nun zusätzlich vor, darunter wissenschaftliche Updates und Einschätzungen von Expert:innen. Hitzerekorde und Extremwetterlagen mit Dürren und Überschwemmungen haben diese in den letzten drei Jahren eindrücklich veranschaulicht.

Dessen ungeachtet hat sich das gesellschaftliche Klima in Europa seit dem Urteil, das 2021 weltweit für Aufsehen sorgte, drastisch verändert. Den «Green Deal» und das Naturschutzgesetz der EU bezeichnen inzwischen viele im konservativen und bürgerlichen Spektrum als Zumutung, die Rede von einer Verschnaufpause in der Klimapolitik hält sich hartnäckig. In vielen Ländern, darunter der Schweiz, erlitten grüne Parteien zuletzt empfindliche Niederlagen – obwohl der Sommer 2023 der heisseste je gemessene war.

Mit dieser Verschiebung hat sich eine Erzählung verbreitet, wonach Nachhaltigkeit ein Abgrenzungsmerkmal jener sei, die es sich leisten könnten – die Energiewende sei schon in der Anlage unsozial. Hier setzt auch die Strategie von Shell an: Mehrfach tauchte im Plädoyer des Konzerns der Verweis auf «anfällige Gruppen» in der Bevölkerung auf sowie die Warnung vor Szenarien, in denen diese ihre Energierechnung nicht mehr bezahlen könnten. So vorhersehbar diese Strategie, so deutlich ist die Botschaft: Shell inszeniert sich als Garant einer gerechten Energiewende, will vor allem Flüssiggas als vernünftige Brückentechnologie darstellen und feiert das eigene innovative Potenzial. Derweil profitieren der Konzern und die anderen Schwergewichte der fossilen Branche von der Energiekrise und fuhren 2022 Rekordgewinne ein.

Bleibt das Momentum?

Am Freitag werden in Den Haag die Schlussplädoyers gehalten. Das Urteil wird im Herbst erwartet. Der Ausgang des Prozesses wird auch davon zeugen, ob sich das Momentum der Klimaklagen im rauer gewordenen Diskurs halten kann. Zur Strategie von Milieudefensie erklärte Direktor Donald Pols: «Wissenschaftlich ist die Erderwärmung eindeutig belegt, es gibt Unterstützung in der Bevölkerung für Klimaschutz, er ist bezahlbar – warum funktioniert es dann nicht, ambitioniertere Absprachen zu treffen? Irgendwann wurde mir klar: Wir müssen uns auf die grossen Verschmutzer konzentrieren.» Von der Strategie der Klagen gegen Konzerne scheint man hier immer noch überzeugt.