Klimaklagen: Urteile für künftige Generationen
Lässt sich der Planet auf dem Rechtsweg retten? Gleich mehrere Gerichtsentscheide liessen in Europa zuletzt aufhorchen. Das Problem ist nur: Den juristischen Erfolgen sind enge Grenzen gesetzt, solange die Politik keine ambitionierteren Ziele hat.
Die Waldbrände am Mittelmeer, der auftauende Permafrost in Sibirien, der schwächelnde Golfstrom: Die globale Klimakatastrophe bahnt sich immer deutlicher an. Das macht der neuste Bericht des Weltklimarats deutlich, und darauf weisen fast 14 000 WissenschaftlerInnen in einem dringlichen Aufruf hin: Ohne eine unverzügliche, drastische Reduktion des weltweiten Treibhausgasausstosses droht die Klimaerhitzung noch weit verheerendere Folgen zu haben, als bislang prognostiziert wurde. Und dennoch bewegt sich auf politischer Ebene noch immer erschreckend wenig. Bei Gesprächen Ende Juli etwa schafften es die zuständigen MinisterInnen der G20-Länder nicht, sich auf ambitioniertere Klimaziele zu einigen.
Gegen die Trägheit der Politik setzen sich AktivistInnen und NGOs weltweit zur Wehr – und zwar nicht nur auf der Strasse, sondern auch vor Gericht. Immer öfter berufen sie sich dabei auf internationale Menschenrechtsverpflichtungen, und in Europa gab es mancherorts durchaus bemerkenswerte Urteile. Inwiefern diese letztlich zu effektiven Emissionsreduktionen führen, ist bei genauerem Hinschauen aber nicht so klar.
Rechte für künftige Generationen
Schon vor sechs Jahren machte ein Bezirksgericht in Den Haag weltweit Schlagzeilen: Die NGO Urgenda hatte den niederländischen Staat erfolgreich verklagt. Das Gericht verpflichtete die Regierung, ihre Klimapolitik anzupassen und grössere CO2-Reduktionen festzulegen – unter anderem deshalb, weil anhaltende Untätigkeit die Grundrechte der niederländischen Bevölkerung verletzen könnte. Auf der ganzen Welt wurden bald ähnliche Rechtsbegehren eingereicht – so auch in der Schweiz, wo die Klimaseniorinnen gegen den Bund klagten. Nachdem das Bundesgericht ihnen letztes Jahr eine Abfuhr erteilt hatte, entschieden sie sich, die Angelegenheit an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg weiterzuziehen. Mittlerweile sind dort vier Klagen zum Thema Klimawandel hängig, während aus vielen europäischen Ländern weitere Urteile nationaler Gerichte eintreffen – wobei sich ein Trend abzeichnet, der möglicherweise auch Einfluss darauf haben wird, wie der EGMR die Klage der Klimaseniorinnen beurteilt.
In einem Anfang Juli publizierten Bericht zu globalen Trends in Sachen Klimaklagen stellen die Wissenschaftlerinnen Joana Setzer und Catherine Higham fest: Die Zahl strategischer Klagen, bei denen sich die KlägerInnen explizit auf Grund- und Menschenrechte berufen, nimmt weltweit zu. Über hundert sind es mittlerweile, von Paris bis Pakistan. Und deren Erfolgsquote ist beträchtlich: «Positive Gerichtsurteile gab es bislang in 25 Fällen, negative in 32», schreiben Setzer und Higham. Dass ein als «positiv» gewertetes Urteil aber effektiv zu einer konkreteren Klimapolitik beiträgt, ist nicht garantiert – was sich nicht zuletzt am Beispiel «Neubauer und weitere gegen Deutschland» zeigt.
Eine Gruppe junger Menschen, darunter mit Luisa Neubauer das Gesicht der deutschen Fridays-for-Future-Bewegung, hat auf der Basis des deutschen Grundgesetzes geltend gemacht, dass Deutschland mit einem zu tiefen Reduktionsziel bis 2030 sowie wenig konkreten Plänen zu dessen Umsetzung ihre Grundrechte verletze. Ende April entschied das Verfassungsgericht: Derzeit sei die KlägerInnenschaft in ihren Grundrechten zwar nicht verletzt. Weil aber die ab 2030 zur Einhaltung des Pariser Abkommens erforderlichen CO2-Einsparungen so drastisch seien, dass praktisch die ganze Bevölkerung erhebliche Grundrechtseinschränkungen werde in Kauf nehmen müssen, seien die Betroffenen sehr wohl zur Beschwerde legitimiert. «Angesichts der grossen Gefahren, die ein immer weiter voranschreitender Klimawandel auch für die (…) geschützten Rechtsgüter etwa durch Hitzewellen, Überschwemmungen oder Wirbelstürme mit sich bringen kann, ist der Staat hierzu sowohl den heute lebenden Menschen als auch (…) im Hinblick auf künftige Generationen verpflichtet», schrieb das Gericht.
Dass zukünftigen Generationen Rechte zugesprochen werden, ist aussergewöhnlich. Das Gericht hält Deutschlands aktuelles Ziel einer 55-prozentigen Emissionsreduktion bis 2030 zwar für verfassungskonform, verpflichtete die Bundesregierung aber dazu, den Reduktionspfad ab 2030 schon jetzt genauer festzulegen. In der Folge tat der Deutsche Bundestag praktisch das Gegenteil: Er beschloss zwar, das Reduktionsziel für 2030 auf 65 Prozent anzuheben und Klimaneutralität bereits 2045 anzustreben – ohne aber die nötigen Massnahmen konkreter zu formulieren.
Es zeigt sich: Dass Gerichte die – im Grunde unverbindlichen – Ziele des Pariser Klimaabkommens für rechtsverbindlich erklären, ist eine Sache. Ob sich die Staaten dann tatsächlich daran halten, eine ganz andere.
In Frankreich verpflichtete das oberste Verwaltungsgericht die Regierung Anfang Juli dazu, einem im November 2020 gefällten Urteil nachzukommen: Die nordfranzösische Küstengemeinde Grande-Synthe hatte argumentiert, besonders stark von einem klimabedingten Anstieg des Meeresspiegels betroffen zu sein – und bekam teilweise recht. Die nationalen und europaweiten Klimaziele seien verbindlich, hielt das Gericht fest. Der Regierung gab es drei Monate Zeit, um zu beweisen, dass ihre bislang getroffenen Klimaschutzmassnahmen ausreichen, um die für 2030 angestrebte CO2-Reduktion umzusetzen. Dann befand dieselbe Instanz: Sie reichen nicht aus. Bis Ende März 2022 muss die Regierung von Emmanuel Macron «alle erforderlichen Massnahmen treffen», um die eigenen Ziele zu erreichen. Diese beinhalten allerdings lediglich eine Reduktion der Emissionen um 40 Prozent bis 2030.
Eine Tendenz ist in Europa also länderübergreifend feststellbar: Der aktuellen Klimapolitik der Regierungen werden keine Grundrechtsverletzungen attestiert. Gleichzeitig werden diese aber verpflichtet, detailliert die Massnahmen zu benennen, mit denen sie ihre Klimaziele erreichen wollen. Es geht nicht um die Reduktionsziele selbst, die noch immer völlig unzureichend bleiben, sondern darum, sie wenigstens einzuhalten.
Eine Tür geöffnet
Dass ein Sieg vor Gericht die gewünschte Veränderung tatsächlich bewirkt, ist mitnichten sicher. Das zeigt sich auch in den Niederlanden. Dort will die KlägerInnenschaft im Fall Urgenda gegen die Regierung vor Gericht ziehen, um die Vollstreckung des historischen Urteils einzufordern. Das Haager Bezirksgericht, das bereits das bahnbrechende Urgenda-Urteil gefällt hat, leistet derweil übrigens weiter Pionierarbeit in Sachen Klimajustiz: Ende Mai zog es den Ölmulti Shell zur Rechenschaft (siehe WOZ Nr. 22/2021 ) – und hielt den Konzern dazu an, die aus der eigenen Produktion resultierenden Emissionen bis 2030 um 45 Prozent gegenüber 2019 zu reduzieren. Das betrifft grundsätzlich auch jene Emissionen, die bei der Verbrennung von Shell-Produkten durch die EndverbraucherInnen entstehen – wenn auch nur in Form einer Verpflichtung, das «Bestmögliche» zu unternehmen. Auch hier stellt sich die Frage, ob und wie Shell dem Gerichtsurteil Folge leisten wird. Der Konzern hat dieses weitergezogen.
Was bedeuten nun all diese Entwicklungen für die in Strassburg hängigen Klimaklagen, darunter jene der Klimaseniorinnen? Vielleicht das, was Gerichtspräsident Róbert Spanó vergangenes Jahr zum Thema Klimaerhitzung sagte: «Niemand kann infrage stellen, dass uns eine schreckliche Katastrophe bevorsteht, die das gemeinsame Handeln der gesamten Menschheit erfordert.» Darin werde der EGMR seine Rolle wahrnehmen, «innerhalb seiner Kompetenzen als justizförmiges Gericht, immer achtsam, dass die Rechte der Konvention wirklich und wirksam sind, nicht illusorisch». Eine Haltung, die sich auch an nationalen Gerichten widerspiegelt: Sie anerkennen durchaus den dringenden Handlungsbedarf, überlassen es aber der Politik, jene Interessenabwägungen vorzunehmen, die beim Kampf gegen die Klimakatastrophe entscheidend sind.
Leider obsiegen an diesem Punkt üblicherweise die Interessen der Industrie. Und es ist zu erwarten, dass auch der EGMR – der den Mitgliedstaaten grundsätzlich grossen Handlungsspielraum lässt – ähnlich entscheiden wird. Immerhin: Aus juristischer Sicht sind die bislang erfolgten Urteile durchaus bemerkenswert. Wenn etwa das deutsche Bundesverfassungsgericht künftigen Generationen auf einmal Rechte zuspricht oder wenn Privatunternehmen plötzlich auf die Einhaltung von Menschenrechtsverpflichtungen behaftet werden, dann wird damit zwar noch nicht der Planet gerettet. Aber immerhin eine Tür geöffnet, um es weiter zu versuchen.