Friedensnobelpreis: Das bedrohte Tabu

Nr. 42 –

Der Friedensnobelpreis geht an die japanische Antiatomwaffenorganisation Nihon Hidankyo – ein Zeichen gegen die globale atomare Aufrüstung.

Mit schmerzhaften Erinnerungen ist es so eine Sache. Nur zu gerne werden sie beiseitegeschoben, verschwiegen, vergessen.

Die Auszeichnung der japanischen Antiatomwaffenorganisation Nihon Hidankyo mit dem Friedensnobelpreis ist ein Zeichen gegen das Vergessen. «An diesem Zeitpunkt in der Geschichte der Menschheit ist es wichtig, sich daran zu erinnern, was atomare Waffen sind – die zerstörerischsten Waffen, die die Welt je gesehen hat», erklärte das Komitee bei der Bekanntgabe des Preisesträgers.

Im Vorfeld war dieses Jahr aufgrund der Vielzahl weltweiter Krisen kein:e Gewinner:in absehbar gewesen. Auch für die Ogranisation selbst kam die Preisvergabe überraschend. Der 82-jährige Kovorsitzende von Nihon Hidankyo, Toshiyuki Mimaki, der im Alter von drei Jahren den Abwurf über Hiroshima überlebt hatte, verfolgte die Preisvergabe auf seinem Smartphone im Rathaus von Hiroshima. «Ich musste mich in die Wangen kneifen, um sicherzugehen, dass ich wach bin», sagte er am Samstag an einer Medienkonferenz in Tokio.

Vor fast achtzig Jahren, am 6. und 9. August 1945, kosteten die US-amerikanischen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki schätzungsweise 120 000 Menschen sofort das Leben. Kinder, Frauen, Männer – viele von ihnen wurden durch die extreme Hitze der Detonation an Ort und Stelle verdampft, ihre Schatten brannten sich auf Treppenstufen und Wände. Die von den Bomben verursachten Feuerstürme zerstörten die beiden Städte innert Sekunden. Noch einmal so viele Opfer starben in den folgenden Monaten und Jahren an den Spätfolgen der Strahlung.

Die Überlebenden der Atombomben werden in Japan Hibakusha genannt – und sie werden von Jahr zu Jahr weniger. Nur noch rund 100 000 Hibakusha leben; im Durchschnitt sind sie 85 Jahre alt.

Nihon Hidankyo hat sich als Zusammenschluss der Hibakusha bereits 1956 gegründet, um auf das Schicksal der Überlebenden aufmerksam zu machen. Diese waren nach den Atombombenabwürfen nicht nur durch physische und psychische Verletzungen gezeichnet, sondern wurden auch Opfer von Diskriminierung. Anfangs glaubte man, dass die Strahlenkrankheit ansteckend oder vererbbar sei. Viele Hibakusha und ihre Kinder verschwiegen daher ihr Schicksal.

Mit Zeitzeug:innenberichten hält Nihon Hidankyo die Erinnerung an das Grauen der Atombombenabwürfe am Leben – und setzt sich für eine Welt ohne Atomwaffen ein. Die Botschaft der Hibakusha leiste einen wichtigen Beitrag, um das «nukleare Tabu» zu erhalten, betonte das Komitee bei der Preisvergabe. Dieses Tabu sei eine «Grundvoraussetzung für eine friedliche Zukunft für die Menschheit». Es sei alarmierend, dass es weltweit unter Druck gerate.

Die politische Botschaft der Preisvergabe ist deutlich. Denn die Gefahr einer nuklearen Eskalation ist so gross wie seit dem Kalten Krieg nicht mehr. Russlands Präsident Wladimir Putin droht seit Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine mal mehr, mal weniger explizit mit seinem Atomwaffenarsenal, sollten sich die Unterstützerländer der Ukraine direkt an Kriegshandlungen beteiligen. Die aggressive Rhetorik über den Einsatz nuklearer Waffen habe das Komitee bei der Vergabe des Preises beeinflusst, sagte dieses.

Aber nicht nur Russlands Angriffskrieg erhöht das Risiko für einen Einsatz nuklearer Waffen. Weltweit modernisieren und erweitern die Atommächte ihre Arsenale. Auch der Krieg in Nahost und eine mögliche Eskalation zwischen Israel und dem Iran bergen das Risiko eines nuklearen Konflikts.

Angesichts der weltweiten Aufrüstung ist es bemerkenswert, dass das Vergabekomitee immer wieder das Wort «Tabu» bemühte. Der Einsatz von nuklearen Waffen sei «eine Bedrohung für uns alle», «moralisch inakzeptabel» und müsse «ein Tabu bleiben», betonte das Nobelpreiskomitee. Nie darf vergessen werden, wie zerstörerisch und entmenschlichend der Krieg mit Atomwaffen ist. Das ist die Botschaft der Hibakusha.