Wahlen in Albanien: Sozialistisch nur dem Namen nach
Die Sozialistische Partei macht liberale Politik, die rechte Opposition setzt auf sozialdemokratische Parolen. Inhalte sind im albanischen Wahlkampf aber ohnehin zweitrangig.

Elio Shyti ist 2016 gegangen. Der 36-Jährige arbeitete daraufhin als Softwareentwickler in Nürnberg, seine Frau als Ärztin. Mit ihren zwei Kindern konnten sie sich in Deutschland ein neues Leben aufbauen. Aber Shyti ist für den Wahlkampf nach Albanien zurückgekehrt. Er steht unter einem Mandarinenbaum im Garten einer alten Villa im Gassengewirr der Hinterhöfe von Tirana. Hier trifft sich die junge linke Partei Lëvizja Bashkë (Bewegung Gemeinsam), die vom 44-jährigen Universitätsprofessor Arlind Qori angeführt wird. «Linke Politik hat Albanien all die Jahre gefehlt», sagt Shyti, «denn das einzige Sozialistische an der Regierungspartei ist ihr Name.»
Der amtierende Ministerpräsident Edi Rama von der Sozialistischen Partei (PS) ist schon seit 2013 im Amt. In staatlichen Spitälern, erzählt Elio Shyti, sei es bis heute üblich, dass man unter der Hand Schmiergeld zahlen müsse, um überhaupt behandelt zu werden. «Die niedrigste Rente in Albanien liegt bei rund 8000 Lek», so Shyti weiter. Von diesen umgerechnet rund 80 Franken «kann man weder genug essen noch seine Medikamente zahlen». Aufgrund der steigenden Lebenshaltungskosten sei es für erwerbstätige Paare mittlerweile üblich geworden, dass ein ganzes Monatseinkommen für die Miete draufgehe. Das gilt vor allem für Tirana, die boomende Hauptstadt, in der mittlerweile fast die Hälfte von Albaniens Bevölkerung lebt. Obwohl die Sozialistische Partei seit zwölf Jahren regiert, nimmt die Ungleichheit zwischen Arm und Reich immer weiter zu. Die Regierung lockt grosse Hotelbetriebe mit dem Versprechen an, dass sie als «strategische Investoren» keine Steuern zahlen müssen.
Links oder rechts? Egal!
Noch nie standen so viele neue Listen auf dem Wahlzettel wie bei den kommenden Wahlen am 11. Mai, sagt Alba Çela, eine Politikwissenschaftlerin, die am Institut für Internationale Studien in Tirana arbeitet. Neben Shytis Linkspartei etwa auch die Bewegung Shqipëria Bëhet (Albanien entsteht), angeführt vom 37-jährigen Anwalt Adriatik Lapaj. Oder Mundësia (Möglichkeiten), eine weitere neue Partei, die sich wirtschaftsliberal gibt. Sie wird vom reichen Geschäftsmann Agron Shehaj angeführt, einem ehemaligen Abgeordneten der stärksten Oppositionspartei Demokratike e Shqipërisë (Demokratische Partei Albaniens, PD). Nicht nur die Parteienvielfalt ist neu: Zum ersten Mal darf auch die Diaspora mittels Briefwahl abstimmen. «Rund eine Viertelmillion Menschen haben sich registriert, und ich bin gespannt, ob sie sich für eine der zwei Grossparteien entscheiden oder neuen Parteien ihre Stimme geben», sagt Çela.
Gefährlich würden die neuen Parteien Rama aber trotzdem kaum, glaubt die Politologin. Das liege auch am komplexen Wahlsystem, das den beiden Grossparteien PS und PD in die Arme spiele. Wer einen der 140 Abgeordnetensitze ergattern will, muss nicht nur eine nationale Wahlhürde überwinden, sondern auch eine Mindestanzahl von Stimmen in einem der zwölf Wahlkreise erreichen – je nach deren Grösse. Umfragen sehen die regierende PS deutlich auf Platz eins.
Nicht Ideologien und Parteiprogramme entscheiden in Albanien Wahlkämpfe, sondern Klientelnetzwerke. Es ist ein offenes Geheimnis, dass es bei den Wahlen weniger um die Wahlprogramme als um die Verteilung staatlicher Ressourcen geht: um Posten in Gemeinden, der Polizei, den Behörden oder Schulen. Die Frage, ob ein Kandidat links oder rechts ist, spielt eine untergeordnete Rolle.
Während der regierende Sozialist Rama kaum sozialistische Politik macht, setzt sein eigentlich rechter Herausforderer von der PD, der frühere Präsident Sali Berisha, im Wahlkampf auf klassisch sozialdemokratische Parolen. Rentner:innen verspricht er Konsumkarten, mit denen sie Lebensmittel günstiger beziehen könnten, sowie höhere Pensionen. Bei Veranstaltungen wettern seine Kandidat:innen gegen das Bildungs- und das Gesundheitssystem, die sich nur Reiche und Privilegierte leisten könnten. All das klingt mehr nach Bernie Sanders als nach Donald Trump.
Trotzdem wird Berisha im Wahlkampf von Beratern aus dem Umfeld des US-Präsidenten unterstützt. Darunter auch von der Heritage Foundation, einer Denkfabrik, die einen ultrarechten Konservativismus propagiert. Der Grund, warum sich Berisha bei den Republikaner:innen anbiedert, ist kein ideologischer, sondern ein persönlicher. 2021 wurde er wegen Korruptionsvorwürfen zur «Persona non grata» in den USA erklärt. Berisha hofft wohl, dass die Sanktionen unter der neuen Regierung fallen – und er wieder einreisen darf.
«Freiheitsbringer» aus früherer Zeit
Kavaja, eine Stadt unweit des Meeres, erstrahlt in Blau, der Farbe der Partia Demokratike e Shqipërisë. Der Schlachtruf ihrer Anhänger:innen ist seit Jahren derselbe und wenig kreativ: «Rama, geh!» Für Sali Berisha ist der Auftritt ein Heimspiel. In Kavaja, einer der wenigen Gemeinden im Land, die von einem «blauen» Bürgermeister regiert werden, hat die PD eine Mehrheit – und die ist an diesem Abend sehr laut. Am Ende eines von Palmen gesäumten Boulevards ist eine blaue Bühne aufgebaut. Hinter der Leinwand zünden Berishas Anhänger Feuerwerkskörper. Während der Song «Eye of the Tiger» aus den Boxen dröhnt und Berisha die Bühne betritt, fliegen in alle Richtungen Funken.
Berisha wird von seinen Anhänger:innen wie ein Rockstar gefeiert. Aber der achtzigjährige Arzt ist alles andere als ein Newcomer. Seit 35 Jahren schon mischt er in der Politik Albaniens mit. In Kavaja, wo er an diesem Abend auftritt, fanden im März 1990 die ersten Bürger:innenproteste gegen das Regime statt, das nach dem Fall des Eisernen Vorhangs als letzte stalinistische Bastion in Europa übrig geblieben war. Von 1992 bis 1997 war Berisha der erste nicht kommunistische Präsident Albaniens seit dem Zweiten Weltkrieg. Bis heute kann er von diesem Image als demokratischer Freiheitsbringer profitieren. Dabei ist er das beste Beispiel dafür, dass es in Albanien nie einen Elitenwechsel gegeben hat. Der Kardiologe war einst Parteisekretär bei den Kommunist:innen.
Das Jahr 2024 verbrachte Berisha fast durchgehend in Hausarrest. Mittlerweile hat die Sonderstaatsanwaltschaft zur Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität (Spak) Anklage gegen ihn erhoben. Sie wurde auf Bestreben der EU und der USA eingerichtet. Eine unabhängige Justiz gilt als zentrale Voraussetzung dafür, dass Albanien der Europäischen Union beitreten kann. Jetzt teilt die Spak in alle Richtungen aus, nimmt Oppositionelle ebenso ins Visier wie Sozialisten aus dem engsten Umfeld von Edi Rama. So etwa Erion Veliaj, den Bürgermeister von Tirana.
Die Spak ist somit zu einem Dilemma für Edi Rama geworden. Einerseits wird die Behörde seinem Machtzirkel gefährlich. Andererseits weiss Rama, dass er ohne sie sein wichtigstes Wahlversprechen nicht realisieren kann. Auf seinen Plakaten wirbt er mit einem EU-Beitritt bis 2030. «Vëtem me Edin» (Nur mit Edi) steht darauf. Wobei: Auch damit hebt sich Rama nicht vom Rest ab. Nirgendwo auf dem Westbalkan ist die EU-Zustimmung höher als in Albanien. Es gibt keine Partei, die gegen den Beitritt Stimmung macht. Dass er dennoch so prominent auf das Thema setzt, zeigt, wie sicher Rama sich fühlt.
Die Opposition ist nicht viel kreativer: Berisha verspricht, die Social-Media-Plattform Tiktok nach Albanien «zurückzuholen». Edi Rama hatte sie, nachdem ein Vierzehnjähriger von einem Mitschüler erstochen worden war, als angebliche Massnahme zugunsten des Jugendschutzes verboten. Die Opposition wirft ihm Zensur vor. Unklar ist, wie lange das Verbot bestehen wird und ob es technisch überhaupt aufrechterhalten werden kann. Wichtiger dürfte Rama aber ohnehin die Aussenwirkung sein. Er will, dass über ihn und sein kleines Land geredet wird, das als erster Staat in Europa ein Komplettverbot der Plattform verhängt hat.
Die tatsächlichen Probleme, die die neue Regierung angehen müsste, bleiben wenig beleuchtet. Der Exodus von Hunderttausenden, oft gut ausgebildeten Albaner:innen – wie dem Softwareentwickler Elio Shyti und seiner Frau – lähmt die Wirtschaft, insbesondere den boomenden Tourismussektor. Während junge Menschen nach Deutschland, Italien oder Grossbritannien abwandern, weil sie keine Zukunft in Albanien sehen, suchen Hotels an der Küste oder in den Bergen händeringend Personal.