Tabuisierte Sexualität: Mord und Sühne

In Russland wird siebenmal so viel abgetrieben wie in der Schweiz. Die russisch-orthodoxe Kirche will das ändern. Auf einer Wallfahrt im Norden Russlands können Frauen, die verhütet oder abgetrieben haben, für ihre Sünde büssen.

Der Wald, ein grünes wogendes Meer, liegt uns zu Füssen: Bäume, so weit das Auge reicht. Schwertransporter mit frisch geschlagenen Baumstämmen fahren vorbei. Die Luft ist von Gesang erfüllt: «Herr, erbarme Dich.» Ein Gruppe Menschen bewegt sich im Eiltempo durch das fast menschenleere Gebiet bei Belaja Cholunitsa, rund achtzig Kilometer nordöstlich der russischen Gebietshauptstadt Kirow, dem früheren Wjatka. Kirow liegt, rund 950 Kilometer von Moskau entfernt, im Norden Russlands. Vorneweg marschieren zwei Männer, rote Fahnen mit dem Bildnis von Heiligen vor sich her tragend. Es folgt eine wundertätige Ikone, eingefasst in ein Gestell aus Holz, das auf den Schultern von drei Männern ruht. Der Priester ist in Schwarz gekleidet, trägt eine rote Stola, Kinnbart und Schnauz. Dann folgen Frauen: alte und junge, Mütter und Kinder. Einige gehen in ausgetretenen Turnschuhen, Badeschlappen oder Gummistiefeln. Eine alte Frau hinkt, eine andere stützt sich auf einen Stock. Viele tragen dicke Strümpfe, alle sind in lange, unförmige Röcke in verwaschenen Farben gekleidet und haben die Haare mit einem Kopftuch bedeckt. In Hosen und ohne Kopftuch an der Wallfahrt teilzunehmen, wäre Sünde. Um den Hals haben die Frauen Kopien von Ikonen hängen, die bei jedem Schritt vor und zurück wippen. Eine Gruppe obdachloser Alkoholiker, die sich den WallfahrerInnen angeschlossen haben, bemüht sich, den Rückstand aufzuholen. Die Sonne brennt unbarmherzig.

Es ist keine gewöhnliche Wallfahrt. Folgt man der Logik der russisch-orthodoxen Kirche, so sind hier Mörderinnen versammelt. Die dreitägige Pilgerreise wendet sich ausdrücklich an Frauen, die abgetrieben haben. Abtreibung ist für die russisch-orthodoxe Kirche gleich Mord. Absolute Vergebung für diese Todsünde gibt es nicht. Aufrichtige Reue mildert immerhin die Schwere des begangenen Verbrechens. Lena, eine bleiche junge Frau mit akkurat festgezurrtem Kopftuch, arbeitet in der Kirche von Belaja Cholunitsa und ist eine der OrganisatorInnen der Wallfahrt. Sie gibt mir Einblick in ihr Weltbild. Eine Abtreibung habe negative Auswirkungen auf die Familie, die Kinder, den Ehemann und die ganze Gesellschaft, erklärt sie. Millionen von Kindsmorden lasteten auf der russischen Gesellschaft wie ein Fluch. Lena büsst für die Generation ihrer Eltern, die besonders viel abgetrieben haben und nicht gläubig waren. Mit ihrer Busse will sie das «Gesamtvolumen» des Bösen in der Gesellschaft vermindern. Lena spricht auch davon, dass Abtreibung aus dem falschen Verhalten der Frau entstehe, aus Hochmut, Selbstverliebtheit und Gefallsucht. All das müsse gesühnt werden.

Walentina, eine knapp vierzigjährige Frau, ist extra aus dem fernen Tscheljabinsk angereist. Als sie zum dritten Mal schwanger wurde, war ihr zweites Kind erst vier Monate alt. Das ging über ihre Kräfte. Vom Ehemann konnte sie keine Unterstützung erwarten. Also trieb sie ab. Das sei, so versicherten ihr die Ärzte, lediglich eine unbedeutende Operation: Etwas Überflüssiges werde aus ihrem Körper entfernt. Heute lastet die Abtreibung schwer auf Walentinas Gewissen. «Was Gott gibt, dafür sorgt er auch», sagt sie. Sie will mit der Teilnahme an der Wallfahrt für ihre Sünde büssen und für andere Sünderinnen beten. Da ist sie am richtigen Ort: Diese Wallfahrt ist eine echte Busse. Drei Tage geht es fast im Laufschritt durch den Wald, insgesamt mehr als hundert Kilometer. Dauernd wird gesungen und gebetet, Pausen gibt es nur wenige. «Wir wurden zu stolzen, aufrechten Menschen erzogen, die nur sich selbst vertrauten und denen alles möglich schien», erzählt Walentina. «Wie schwer ist es mir gefallen, mich zum ersten Mal demütig zu verbeugen.» Walentina hat die Demut gut gelernt. Sie und die anderen Pilgerinnen beten gesenkten Hauptes, verbeugen sich jedes Mal tief, wenn sie das Kreuz schlagen, knien nieder, stehen auf, knien nochmals nieder. In ihren langen Röcken und dem Kopftuch, so scheint mir, versinken sie fast im Staub. Von der stolzen, aufrechten Haltung ist nichts geblieben.

Keine Verhütung

Im Jahr 2002 wurde in Russland zwei Millionen Mal abgetrieben – bei einer Gesamtbevölkerung von 144 Millionen Menschen. In den letzten Jahren der Perestrojka war die Zahl sogar doppelt so hoch: 1990 wurden in Russland vier Millionen Abtreibungen gezählt. Auf 1000 Frauen in gebärfähigem Alter kamen 2002 insgesamt 54,2 Schwangerschaftsabbrüche. Zum Vergleich: In der Schweiz waren es 7,7 Abtreibungen auf 1000 Frauen. Bis zu 60 Prozent aller Schwangerschaften in Russland enden auch heute noch mit einer Abtreibung. Diese Rekordzahlen sind ein Erbe der Sowjetzeit. Familienplanung wurde damals ausschliesslich über den Schwangerschaftsabbruch betrieben. Verhütungsmittel waren kaum erhältlich: Die Pille gab es nicht, Kondome nur selten, und wenn, dann in schlechter Qualität. Sexualerziehung war ein Fremdwort. So konnte sich keine Tradition der Verhütung entwickeln. Lenin hatte im Zuge der revolutionären Befreiung der Frau die Abtreibung bereits im Jahr 1920 legalisiert. Stalin verbot die Abtreibung sechzehn Jahre später wieder, um die Geburtenrate zu erhöhen. Das führte dazu, dass viele Frauen unter prekären Bedingungen schwarz abtrieben. 1955 wurde der Schwangerschaftsabbruch wieder legal.

Inga Grebeschewa, die Direktorin der Russian Family Planning Association (RFPA), weist auf einen weiteren wichtigen Faktor für die hohe Abtreibungsrate hin: Die negative Haltung vieler Russinnen gegenüber der Pille. Die ersten Hormonpillen, die in den achtziger Jahren nach Russland eingeführt wurden, waren von schlechter Qualität. Das prägt die Haltung der Frauen bis heute. «Viele Russinnen sind der Ansicht, dass Hormone schädlicher sind als eine Abtreibung», sagt die Soziologin Rita Stein-Redent. «Wenn schon die Mutter und Grossmutter abgetrieben haben, warum sollen sie es nicht auch tun?» Für viele Russinnen ist die Pille schlicht zu teuer: Zehn Franken pro Monat für Verhütung auszugeben, können sich viele Alleinerziehende, Studentinnen oder sozial Benachteiligte nicht leisten. Der durchschnittliche Monatslohn liegt bei 230 Franken. Abtreibungen hingegen sind nach wie vor billig und werden routinemässig durchgeführt. Kondome werden bis heute eher zum Schutz vor Krankheiten denn als Verhütungsmittel benützt.

Ein «moralisches» Problem

Russlands Jugendliche sind auch heute noch schlecht aufgeklärt. Sexualität bleibt tabuisiert, Sexualaufklärung in der Schule gibt es kaum. Das staatliche Familienplanungsprogramm von 1994, das die Gratisabgabe von Verhütungsmitteln an Bedürftige sowie Aufklärungskurse beinhaltete, wurde 1997 wieder gestoppt – auf Druck der russisch-orthodoxen Kirche und nationalkonservativer Politiker. Ein Land mit sinkender Geburtenrate dürfe keine Geburtenregelung finanzieren, so die Argumentation der Familienplanungsgegner. Laut Grebeschewa hatte das staatliche Programm einen starken Rückgang der Abtreibungen zur Folge. Heute gehen die Abtreibungen weniger schnell zurück. Grebeschewa macht der Widerstand gegen Familienplanung wütend: «Die Jugend bei einer so hohen Rate von Abtreibungen und sexuell übertragbaren Krankheiten ohne Aufklärung zu lassen, ist ein Verbrechen», sagt sie. Wütend macht Grebeschewa auch, dass trotz der niedrigen Geburtenrate viele Kinder ohne Eltern aufwachsen – in Heimen oder auf der Strasse. Kinder zu haben, ist in Russland ein grosses Armutsrisiko. Die Kinderzulagen sind höchstens ein besseres Trinkgeld. Dazu kommen die Schwierigkeiten, Kindern eine gute Erziehung und Gesundheitsversorgung zukommen zu lassen.

Im September letzten Jahres hat das russische Parlament das sehr liberale Abtreibungsgesetz verschärft. Patriarch Alexej II., das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, hat sich diesen Sommer in die laufende Diskussion um die niedrige Geburtenrate und die «schrumpfende» Nation eingemischt. Einer der Gründe für die niedrige Geburtenrate sei das «moralische Problem» der Abtreibung, schreibt er in einem Brief an Präsident Wladimir Putin. Nationalkonservative und religiöse Abgeordnete fordern nun sogar ein völliges Abtreibungsverbot. Grebeschewa und andere Expertinnen rechnen allerdings damit, dass ein solches Verbot in naher Zukunft nicht durchkommen wird.

Dämonische Verschwörung

Am Abend des ersten Wallfahrtstages erreichen die PilgerInnen völlig erschöpft das Dorf Klimkowka. Am angeblichen Grab der drei ermordeten Kinder, denen die Wallfahrt gewidmet ist, halten die zwei anwesenden Priester Gottesdienst. Sie heissen Vater Sossima (wie der Mönch aus Dostojewskis «Brüder Karamasow») und Diakon Marian. Frauen legen kleine Geschenke und Zettel mit Gebeten nieder. Die AlkoholikerInnen verschwinden in den einzigen Laden des Dorfes. Einige DörflerInnen schauen dem Treiben der rund 200-köpfigen PilgerInnenschar verdutzt zu. Ein alter Mann erinnert sich noch an die schönen Zwiebeltürme der Dorfkirche. Die Türme wurden 1936 zerstört, die Kirche selbst zur Scheune umfunktioniert. Es gebe nur noch wenige Menschen im Dorf, die gläubig seien, sagt der Mann. Er deutet auf die Grabstelle und schüttelt den Kopf. «Hier war in Wirklichkeit nie ein Grab», beteuert er.

Lena und ein paar andere Frauen verteilen Flugblätter. Neben mir sitzt ein apathisch wirkendes 16-jähriges Mädchen. Es starrt minutenlang unbeweglich auf die Broschüre in seinen Händen. Auf dem Umschlag sind tote Föten abgebildet. Dann beginnt das Mädchen leise vor sich hinzusummen, und wiegt den Oberkörper hin und zurück. Es wurde vom Vater gezwungen, an der Wallfahrt teil zu nehmen. Auf dem Pamphlet steht, Verhütungsmittel würden von bösen westlichen Mächten propagiert, die sich zu einer dämonischen Verschwörung gegen Russland zusammengetan hätten. Teil dieser Verschwörung seien die Stellen für Familienplanung, die an den Verhütungsmitteln verdienten. Verhütung sei gleich Abtreibung, und Präservative schützten nicht vor Aids. Sexualaufklärung an den Schulen führe zum Anstieg sexueller Krankheiten und Sexualverbrechen. Das Flugblatt wurde höchstwahrscheinlich von den Abtreibungsgegnern der Organisation Schisn (Leben) und der Vereinigung Orthodoxer Ärzte verfasst, mit denen die OrganisatorInnen der Wallfahrt zusammenarbeiten. Die offizielle Sozialdoktrin der russisch-orthodoxen Kirche unterscheidet zwischen Abtreibung und Verhütung.

Verzweiflung

Am nächsten Tag, nach der Übernachtung in der Turnhalle von Klimkowka, folgt ein weiterer Gewaltsmarsch durch den Wald. Die Priester legen ein hohes Tempo vor. Sogar die alten Frauen halten besser durch als ich. In Manigor, einer heiligen Quelle, gehen die Gläubigen baden – in Unterwäsche oder nackt. Mindestens dreimal tauchen sie unter. Nach der Prozedur streifen sie ihre Kleider über den nassen Körper. Heiliges Wasser trocknet man nicht ab. Endlich taucht am Horizont die Kirche von Jeljowo auf. Das Dorf, das sich früher hier befand, ist wie vom Erdboden verschwunden. Es wurde in den siebziger Jahren aufgegeben. Um die Kirche steht nichts als mannshohes Gras. Grillen zirpen. Das nahe Wäldchen verspricht Schutz vor der Hitze. Auf dem Kirchendach wachsen Büsche. Ein Zwiebeltürmchen ist umgestürzt. Der Verputz ist abgeblättert, das Rot der nackten Backsteinmauern dominiert. Die Mauern im Innern sind rauchgeschwärzt, nur in Umrissen erkenne ich einige alte Fresken. Der Boden ist mit Schutt und Trümmern übersät. Es ist, als sei ein Film von Tarkowskij Wirklichkeit geworden. Die Träger stellen die Ikone und die Fahnen in die Krypta, die Priester beginnen die Messe zu lesen. Frauen beten vor den Fresken. Die Kirche wurde in den sechziger Jahren geschlossen. Sie steht nur deshalb noch, weil auch sie als Kornscheune genutzt wurde.

Nochmals eine Stunde Marsch. Dann sind wir am Ziel der Wallfahrt: dem Ort, wo ein verzweifelter Vater seine Kinder getötet haben soll. Mitten auf dem Feld steht eine alte Birke, davor ein schlichtes Eisenkreuz und ein Grab, daneben eine morsche Bank. Feldblumen wachsen auf dem Grab. Vater Sossima liest den Brief einer Mutter vor, die ihre Abtreibung bereut, und ruft zur Busse auf. Die Frauen knien oder stehen trotz ihrer Erschöpfung. Das Singen, Beten, Kreuzeschlagen und Sichverneigen will nicht mehr aufhören. Einige Frauen beginnen leise zu schluchzen. Andere halten sich ein Taschentuch vor den Mund. Tränen rinnen über ihr Gesicht. Ich lege mich ins Gras. Das herzzerreissende Weinen und Schluchzen verfolgt mich. Ich kann nicht nachvollziehen, was um mich herum geschieht. Warum laden diese Priester die ganze moralische Schuld für die Abtreibung den Frauen auf und lassen sie dafür leiden? Warum lassen sich diese Frauen das gefallen? Warum spricht niemand von den Vätern, die den Müttern die ganze Verantwortung für die Kinder überlassen? Nach eineinhalb Stunden Beten erheben sich die PilgerInnen mühsam. Sie machen sich auf den Rückweg. Ihnen stehen weitere eineinhalb Tage Marsch durch Wald und Sumpf, Mückenschwärme und die Hitze bevor.

Die «Flammenkinder»

Im Januar 1883, so geht die Legende, hielt der arme Familienvater Geogrij Woronin das Weinen seiner vielköpfigen, hungrigen Kinderschar nicht mehr aus. Er erschlug seine drei jüngsten Söhne Dmitrij, Ilja und Wassilij und warf sie in den brennenden Ofen. Als die Flammen die Leichen erfassten, stiegen aus dem Ofen drei Tauben auf – ein Zeichen Gottes. Bald schon wurden die drei Kinder von der Bevölkerung als Märtyrer verehrt. Es entstand eine Ikone mit der Darstellung der Schutzheiligen der drei Kinder. Gläubige mit allerlei Gebrechen begannen an den Ort des Morder zu pilgern.

Die Ikone, die sich in der Kirche von Jeljowo befand, wurde als wundertätig verehrt. In den sechziger Jahren schlossen die Behörden die Kirche und untersagten die Wallfahrt. Einer alten Frau gelang es, die Ikone zu retten: Sie trug das schwere Gemälde aus Holz rund zwanzig Kilometer zu Fuss nach Klimkowska und versteckte es in ihrem Haus hinter dem Ofen. Gläubige kamen heimlich zu ihr, um die Ikone zu verehren. Mitte der neunziger Jahre überredete ein örtlicher Geistlicher die Nachkommen der alten Frau dazu, die Ikone herauszugeben. Sie befindet sich nun in der Kirche von Belaja Cholunitsa. Im Jahr 2001 fand die Wallfahrt zu den Flammenkindern zum ersten Mal wieder statt – nun allerdings unter dem Motto der Abtreibung. Die Flammenkinder, so die OrganisatorInnen der Wallfahrt, sind wie die abgetriebenen Föten unschuldig getöteter Kinder. Sie dienen den Pilgerinnen als Fürsprecher vor Gott. Seit 2001 kann – mit dem Segen des Erzbischofs – Frauen, die abgetrieben haben, die Wallfahrt als kirchliche Strafe auferlegt werden. Die Wallfahrt kann aber auch die Strafe sein für den Gebrauch von Verhütungsmitteln: Denn das sei Kindsmord in den ersten Stunden der Schwangerschaft.

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