Affirmative Action: Ein amerikanisches Klagelied

Der Oberste Gerichtshof der USA hat die Praxis der Affirmative Action an US-Hochschulen für verfassungswidrig erklärt. Race dürfe, so die Richter, kein Faktor bei Zulassungsentscheidungen an Universitäten und Colleges mehr sein.

Der Grundtenor der sechs konservativen Richter:innen war von einer gewissen Selbstzufriedenheit getragen. Affirmative Action war für sie eine Krücke gewesen, derer die USA eigentlich nicht mehr bedürften. Schon 2007 bemerkte der Oberste Richter John Roberts verschnupft, «das beste Mittel, Race-Diskriminierung zu stoppen», bestehe darin, «nicht mehr aufgrund der Race zu diskriminieren». Mit Affirmative Action, so der Supreme Court in seiner Entscheidung, befördere die Universität «Stereotype, die Individuen als Produkt ihrer Race» behandelten und «ihren eigentlichen Wert als Bürger» negierten. Als solche könne sie nur «weitere Verletzung verursachen». Clarence Thomas, erst der zweite afroamerikanische Richter am Obersten Gerichtshof, bemerkte, er sei «seit langem davon überzeugt, dass Race-Präferenzen bei der Hochschulzulassung [Schwarze und Lateinamerikaner:innen] mit einem Zeichen der Minderwertigkeit brandmarken».

Die Hoffnung, dass diese Entscheidung jetzt den Wert der Bürger:innen steigern, Verletzung und Spaltung heilen, Stigmatisierung abbauen könne, ist etwas, was gewisse europäische Beobachter:innen der amerikanischen Rechten erstaunlich bereitwillig abnehmen. 

Dabei lässt sich genau sagen, was nun passieren wird: Im Bundesstaat Kalifornien wurde Affirmative Action an öffentlichen Unis bereits 1996 per Volksentscheid abgeschafft. Vor dieser «Proposition 209» waren die Student:innen der Universität Berkeley ungefähr repräsentativ für die kalifornischen Highschool-Absolvent:innen. 2022 dann stellten Latinas und Latinos 12 Prozent der Student:innen – obwohl sie ungefähr 50 Prozent der achtzehnjährigen Kalifornier:innen ausmachen. Bei Afroamerikaner:innen sieht es ähnlich aus, nur auf sehr viel geringerem Niveau: 2,8 Prozent der Student:innen in Berkeley gegenüber 5,5 Prozent der Achtzehnjährigen.  

Und doch üben diese 2,8 Prozent weiterhin eine besondere Faszination auf die politische Imagination der USA aus. Die politische Vergiftung, die angeblich von Affirmative Action ausging, hat deren Ende in Kalifornien problemlos überlebt. Noch immer hört man jedes Jahr Bewerber:innen (oder deren Eltern) klagen, sie seien nur wegen Affirmative Action nicht in Berkeley zugelassen worden.

Wenn wir über strukturellen Rassismus nachdenken, liegt unser Hauptaugenmerk – berechtigterweise – auf dem, was er mit jenen macht, die ihm ausgesetzt sind. Umgekehrt kann man natürlich auch fragen, was er mit denen macht, die von ihm profitieren. Die Gefühle der Überlegenheit oder des Verdiensts aus ihm beziehen.

Affirmative Action war als Programm nicht immer erfolgreich. Aber für das geistige Inventar jener Amerikaner:innen, die entweder nicht von ihr profitierten oder nicht begriffen, dass sie von ihr profitierten, gehörte sie zum festen Hausstand. Als Narrativ gab sie privilegierten Menschen das wohlige Gefühl, eigentlich Opfer zu sein: das Schimpfen über die angebliche Ungerechtigkeit der Zulassungen zum College als probate Fabel. Alles, was im Leben richtig lief, hat man selber verantwortet. Den Job, den man nicht bekam, das Wunsch-College, das einen nicht annahm, daran war dann halt Affirmative Action Schuld. Und deshalb wird die Klage über Affirmative Action auch nach deren Ende weitergehen: weil die Amerikaner diese Klage längst brauchen. 

Immer freitags lesen Sie an dieser Stelle die Kolumne unseres Gastautors Adrian Daub. Der Autor, Kritiker und Literaturwissenschaftler lehrt als Professor für vergleichende Literaturwissenschaften und Germanistik an der Universität Stanford. Er lebt in San Francisco und Berlin.