Es mangelte nicht an grossen Worten, als die vereinigte Bundesversammlung an diesem 12. September 2023 zusammentrat, um den 175. Geburtstag der Schweiz zu feiern.
«Hier in der Mitte des Saales liegt das grosse Werk, das wir heute feiern», sprach Martin Candinas, der amtierende Nationalratspräsident. «Die Schöpfer der Bundesverfassung von 1848 haben dem zerstrittenen Bündnis der Kantone in kürzester Zeit eine Staatsform auf den Leib geschneidert, die auch im Jahr 2023 noch sitzt.»
«Der Aufbruch von 1848 lässt uns erkennen, was die liberale Demokratie im Kern ist», sprach Alain Berset, der Bundespräsident. «Sie ist die Staatsform des Optimismus, der menschlichen Würde und der Freiheit, des Fortschrittsglaubens – oder mehr noch des Fortschrittswillens.»
«Sieben Generationen haben seither ihre Spuren hinterlassen und an der unglaublichen Geschichte weitergeschrieben», ergänzte Ständeratspräsidentin Brigitte Häberli-Koller. «Sie haben neue Artikel hinzugefügt, andere gestrichen und die Bundesverfassung der gesellschaftlichen Realität angepasst.»
Der gesellschaftlichen Realität angepasst?
Am Vormittag dieses feierlichen 12. September war der Ständerat zusammengetreten, um über die Ärmsten im Land zu beraten: die Menschen, die von Nothilfe leben müssen. Die EVP-Politikerin Marianne Streiff fordert für alle Geflüchteten eine humanitäre Legalisierung, deren Gesuche nach dem alten Asylverfahren bis 2019 abgelehnt wurden und die sich trotzdem noch immer in der Schweiz aufhalten. Dabei handelt es sich um 3000 Menschen, darunter zahlreiche Kinder, die sich mit nur wenigen Franken pro Tag durchschlagen müssen. Der Nationalrat hatte das Begehren unterstützt.
Und was entschieden nun die Ständerät:innen?
Bevor sie zum Staatsakt für die Verfassung schritten, in deren Präambel heute betont wird, «dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen», bevor sie den pathetischen Reden lauschten und den lustigen Sprüchen von Komiker:innen und einer musikalischen Begleitung, bevor sie bestimmt auch ein Glas Weisswein tranken oder auch zwei, lehnten sie die Legalisierung mehrheitlich ab. Praktisch diskussionslos.
Für das Protokoll des heutigen Tages kommt man nicht umhin, die Namen all der Ständerät:innen von Mitte-Partei, FDP und SVP aufzulisten, die an ebendiesem Feiertag den Grundsatz ihrer Verfassung und die Menschenwürde mit Füssen traten.
Es handelt sich um:
Bauer, Philippe; Burkart, Thierry; Caroni, Andrea; Chassot, Isabelle; Dittli, Josef; Engler, Stefan; Ettlin, Erich; Fässler, Daniel; Friedli, Esther; Gapany, Johanna; Germann, Hannes; Gmür-Schönenberger Andrea; Hefti, Thomas; Hegglin, Peter; Juillard, Charles; Knecht, Hansjörg; Kuprecht, Alex; Maret, Marianne; Michel, Matthias; Minder, Thomas; Müller, Damian; Noser, Ruedi; Reichmuth, Othmar; Rieder, Beat; Salzmann, Werner; Schmid, Martin; Stark, Jakob; Wicki, Hans; Würth, Benedikt; Z’Graggen, Heidi.