Arbeitslos und schikaniert

«Wer in der Schweiz wohnt und arbeitslos wird, hat einen Anspruch auf eine Entschädigung aus der Arbeitslosenversicherung.» So steht es zumindest auf der Website des RAV des Kantons Zürich. Dass die Realität eine ganz andere ist, erzählt die Geschichte meines Vaters.

Mein Vater kam 1987 im Alter von zwanzig Jahren in die Schweiz. Lesen und Schreiben bereiten ihm Mühe. Er wäre damals sehr gerne in die Schule gegangen oder hätte zumindest einen Deutschkurs besucht, doch er wurde nach seiner Ankunft in der Schweiz vom Schweizerischen Roten Kreuz direkt einer Fabrik zugeteilt. So landete er bei einer Glasweberei in Wädenswil und bekam eine Mitarbeiternummer. Für die Fabrikarbeit wurden Deutschkenntnisse weder gebraucht noch gefördert. Dafür eignete er sich ein grosses Vokabular in Italienisch, Türkisch und Serbokroatisch an. Nach 25 Jahren in Fabriken wurde mein Vater 2008 entlassen und arbeitslos. Die Arbeitslosigkeit hielt an, über zwei Jahre lang. Nicht weil mein Vater sich nicht bemühte, eine neue Stelle zu finden, sondern weil er zu den Fabrikarbeiter:innen gehört, die auf dem Arbeitsmarkt keine Stelle mehr finden, egal wie sehr sie sich bemühen.

Er meldete sich beim RAV und erhielt eine Fallnummer.

Beim RAV musste er die Bewerbungen auflisten, die er im jeweiligen Monat getätigt hatte. Die Vorgabe vom RAV lautete zwölf pro Monat. «Früher konnte ich selbst auswählen, für welche Fabrik ich arbeiten möchte. Überall gab es Arbeit», sagte er mal zu mir. «Man musste nur vorbeigehen und man hatte einen Job. Heute sagen alle: Bewerbung per E-Mail!» Alle schwärmen von der Digitalisierung, aber niemand möchte von den unzähligen Verlierer:innen sprechen. Mein Vater kann keinen Computer bedienen. Er ist allerdings ein äusserst pflichtbewusster Mensch. 

Als er zu seinem RAV-Termin fährt, trägt er einen Plastiksack mit den Unterlagen bei sich. Erst nach dem Aussteigen bemerkt er, dass er den Sack im Zug liegen gelassen hat. Dort drin befanden sich die Listen mit seinen Arbeitsbemühungen der letzten zwei Monate. Sein RAV-Berater beschuldigt ihn der Lüge und stellt eine Verfügung aus: Ihm werden über 8000 Franken an Arbeitslosengeldern gestrichen, die schon ausbezahlt wurden. Das war vor dreizehn Jahren, doch die Schulden sind immer noch aktuell. Die ganze Geschichte entdeckte ich erst vor ein paar Jahren, als ich seinen Betreibungsregisterauszug holte, um die Bewerbung für eine neue Wohnung zusammenzustellen. 

Das Problem sind nicht ein paar «böse» RAV-Berater:innen, das Problem ist, dass das Recht auf Arbeitslosengeld von einer rechtsbürgerlichen Politik seit Jahrzehnten angegriffen und eingeschränkt wurde, sodass Menschen, die in die Arbeitslosigkeit rutschen, immer mehr von Sanktionierung berichten. Arbeitsuchende werden unter den Generalverdacht gestellt, faul und arbeitsunwillig zu sein. Wie soll sich jemand mit gestärktem Selbstbewusstsein auf eine neue Stelle bewerben, wenn er ausgerechnet von jener Stelle schikaniert und erniedrigt wird, die ihm eigentlich dabei helfen sollte, sich in die Gesellschaft zu integrieren?

Mein Vater hat sein Leben lang in der Schweiz gearbeitet. In der Fabrik, Schichtarbeit, auch in der Nacht. Als die Fabriken aus inländischer Profitgier ins Ausland verlegt wurden, hat er in Restaurants gearbeitet, auch samstags und sonntags. Er hat jahrzehntelang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt. Er ist mehr als seine AHV-Nummer. Er ist kein Dossier, keine Zahl und kein Fall. Er ist ein Mensch und er hat eine Würde. Die Arbeitslosengelder sind keine Almosen und Arbeitslose keine Bettler:innen.

Die Leistungen aus der Arbeitslosenkasse stehen den Menschen zu.

An dieser Stelle lesen Sie immer freitags einen Text unserer Kolumnistin Migmar Dolma. Dolma ist Gewerkschafterin bei der Syna, im Vorstand des postmigrantischen Thinktanks Institut Neue Schweiz und aktiv in der tibetischen Unabhängigkeitsbewegung. Sie ist 32 Jahre alt und lebt in Olten. 

WOZ Debatte

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Kommentare

Kommentar von Florian Müller

Fr., 17.11.2023 - 15:04

Best-RAV-t !!

Die Geschichte Ihres Vaters zeigt Mentalität und Regeldichte in Schweiz und auch in Deutschland, wo niemand etwas zu viel bekommen darf, vor allem wenn er arm ist.

Wir könnten einführen, was wir bereits mit Kindern und Alten machen:
Kinderzulagen, Ausbildungszulagen und AHV sind Grundbeträge, denn jeder und jede braucht Geld zum Leben. Auch Stellenlose haben Anrecht auf menschenwürdige Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse.