Frauenrenten: Helvetia ruft nicht alle

Nr. 7 –

Die Reform der zweiten Säule entwickelt sich zum sozialpolitischen Desaster. Eine fragwürdige Rolle spielt dabei einmal mehr die Frauenorganisation Alliance F.

Portraitfoto von Katrin Bertschy, Kopräsidentin von Alliance F und GLP-Nationalrätin
Wen vertritt die Gleichstellungsorganisation? Katrin Bertschy, Kopräsidentin von Alliance F und GLP-Nationalrätin. Foto: Peter Klaunzer, Keystone

Für Kathrin Bertschy läuft es rund. Als unermüdliche Reformerin hangelt sich die grünliberale Nationalrätin und Kopräsidentin der Gleichstellungsorganisation Alliance F von einer sozialpolitischen Debatte zur nächsten. Geht es um Gleichstellungsthemen, kommt derzeit niemand an ihr vorbei. Ihr jüngster persönlicher Erfolg: Sie wird Kolumnistin des «Tages-Anzeigers». Man darf sich auf «inspirierende Innovationen» freuen – und auf einen Feminismus, der auch eine tiefe Staatsquote berücksichtigt.

Bertschys Zugewinn an Einfluss geht einher mit dem Aufstieg von Alliance F, dem Dachverband von 150 Schweizer Frauenorganisationen mit 400 000 Mitgliedern. Die Allianz, 123 Jahre alt, hat sich in letzter Zeit zur dominantesten Stimme unter den Gleichstellungslobbys entwickelt. Wobei trotz langer Historie noch einiges zu klären bleibt im eigenen Rollenverständnis. Die wichtigste offene Frage: Welche Frauen vertreten die Frauenvertreterinnen eigentlich?

Jüngste Auffälligkeit in diesem ungeklärten Verhältnis: die laufende Reform der beruflichen Vorsorge. Deren Kernziel war ursprünglich, die Finanzierung der zweiten Säule zu sichern, ohne dass die Leute Einbussen bei den Renten haben. Seit bald drei Jahren wird die Reform im Parlament auseinandergebaut und neu zusammengesetzt. Der Entscheid soll nun noch diesen Frühling fallen. Einen von den Sozialpartnern ausgehandelten und vom Bundesrat unterstützten Vorschlag schoben die Bürgerlichen vom Tisch. Er sah umfassende Kompensationen für geringere Pensionsleistungen vor, finanziert durch eine neue Abgabe auf dem Lohn. Weil Personen mit hohen Einkommen mehr daran bezahlt hätten, hätte das Modell eine erfreulich umverteilende Wirkung gehabt. Doch von diesem Mechanismus ist nichts mehr übrig geblieben.

Zusätzliche Benachteiligungen

Stattdessen kündigt sich eine Abbaureform an. Um für die Frauen, die im Schnitt rund ein Drittel weniger aus der Pensionskasse erhalten als Männer, doch noch eine Verbesserung zu erzielen, versammelte sich der Ständerat hinter einem Vorschlag, der von Alliance F kommt. Genauer von der zweiten Kopräsidentin, der grünen Ständerätin Maya Graf. Sie will den versicherten Anteil des Lohnes deutlich erhöhen. Bislang ist beim Jahreslohn ein Fixbetrag von 25 000 Franken gar nicht versichert. Und all jene, die weniger als 22 000 Franken verdienen, sind gar von der zweiten Säule ausgeschlossen – in der Schweiz sind das vornehmlich Frauen. Mit dem Ansatz von Graf würden 85 Prozent der Bruttojahreseinkommen ab 17 600 Franken versichert.* Maya Graf argumentiert: «Das Erwerbsleben verläuft nicht linear. Wenn wir den Lohn anteilsmässig versichern, greifen wir diese Realität auf und verbessern den Sparprozess für die immer zahlreicheren Teilzeitarbeitenden.» Von dieser Variante profitieren würden vor allem all jene, die zwischen 30 000 und 60 000 Franken pro Jahr verdienen. Doch die Lösung hat einen zentralen Konstruktionsfehler: Sie benachteiligt noch geringer verdienende Frauen erheblich.

Spricht man Mattea Meyer, Kopräsidentin der SP, auf Grafs Rentenpläne an, reagiert sie verärgert. «Dass die Alliance F das als Vorlage verkauft, von der alle Frauen profitieren, finde ich krass», sagt sie. Denn ausgerechnet Angestellte, die es jetzt schon schwer haben, würden damit sogar noch Geld verlieren. Meyer hat sich das ausrechnen lassen. Eine Kassiererin, 55 Jahre alt, die Teilzeit arbeitet und dafür 2000 Franken im Monat erhält, würde nach der Pensionierung künftig zwar 300 statt 100 Franken pro Monat von der Pensionskasse erhalten. Mehr zum Leben hätte sie aber trotzdem nicht, weil ihr Einkommen immer noch so tief wäre, dass sie nach ihrer Pensionierung Ergänzungsleistungen beziehen müsste. Doch dafür hätte sie deutlich höhere Abzüge auf den Lohn entrichten müssen.

Meyer und Graf sind darüber auch schon aneinandergeraten. Graf hatte in einem Interview mit der «Aargauer Zeitung» insinuiert, wer mit 55 Jahren in einem kleinen Pensum arbeite, habe das Geld nicht nötig. Meyer sagt dazu: «Was für ein Hohn gegenüber allen Frauen, die ihr Pensum reduzieren mussten, um kranke Angehörige oder Enkelkinder zu pflegen. Oder die keine bessere Anstellung finden.» Graf selber räumt inzwischen Nachbesserungsbedarf ein, sie hofft auf eine Lösung noch während der laufenden letzten Beratungen im Parlament. Kathrin Bertschy, ihre Kollegin an der Spitze von Alliance F, sprach im «Tages-Anzeiger» von einem «unerwünschten Nebeneffekt», der aber ausserhalb dieser Reform angegangen werden müsste.

AHV-Abstimmung als Mahnmal

Nur Nebensache oder beispielhaft für eine unsoziale Ausrichtung des Frauenverbands? Meyer überrascht die Vernachlässigung von Frauen in prekären Verhältnissen nicht. Sie sagt: «Alliance F ist eine bürgerliche Organisation.» Und die Episode mit der BVG-Reform sei nur ein Beispiel, das diese Prägung illustriere. Meyer erinnert an die Haltung des Verbands zur wichtigen AHV-Abstimmung im letzten Herbst. Alliance F gab damals keine Abstimmungsempfehlung ab, weil man sich intern nicht auf eine Position einigen konnte – obwohl es um eine Schlechterstellung der Frauen ging. Graf warb schliesslich für ein Nein zur Vorlage, Bertschy intensiv für ein Ja. Mattea Meyer sagt: «Sie war sehr lautstark, obwohl sie offensichtlich nicht die Interessen der Frauen vertrat.» Siebzig Prozent der Frauen stimmten letztlich gegen die AHV-Reform, die wegen der männlichen Ja-Stimmen angenommen wurde.

Für Maya Graf dagegen zeigen die Vorgänge bei der AHV-Abstimmung, dass es Alliance F gelinge, sehr unterschiedliche politische Positionen abzubilden, ohne sich intern zu zerreissen. «Wir orientieren uns am kleinsten gemeinsamen Nenner», sagt sie. Man dürfe die Historie des Verbands nicht vergessen, der 1900 als Bund der Schweizer Frauenorganisationen von bürgerlichen Frauen gegründet worden sei. Doch heute sei die politische Ausrichtung breit. Graf verweist darauf, dass nebst FDP und Mitte auch die SP im Vorstand vertreten sei. Nur in dieser Breite seien Verbesserungen für die Frauen erreichbar, glaubt sie. Viele gemeinsame Erfolge würden das zeigen.

Doch genau diese Anbindung würden manche SP-Politikerinnen lieber heute als morgen beenden. Hinter vorgehaltener Hand jedenfalls. Denn SP und Grüne können nicht wirklich Einfluss ausüben, verschaffen Alliance F aber einen ausgewogenen Anstrich. Publikationen, in denen Alliance F als die «Stimme der Frauen» gewürdigt wird, finden sich zuhauf. SP-Nationalrätin Tamara Funiciello stört sich daran. Sie fordert eine eigene linke Dachorganisation als Ergänzung zu Alliance F: «Die Kassiererin mit Migrationserfahrung wird heute zu wenig gehört.» Sonst würde sich Alliance F für Frühpensionierungen, Mindestlöhne, Arbeitszeitreduktion einsetzen, «doch das passiert alles nicht».

Bürgerliche Roadshow

Sich neben Alliance F zu etablieren, wird aber zunehmend schwieriger. Die Organisation gedeiht. 2017 arbeitete auf der Geschäftsstelle noch eine Person, 2021 waren es zwölf. Eine «Kampagnenorganisation» sei Alliance F geworden, sagt Funiciello. Mehrere grosse Projekte hat der Verband lanciert – «Spin-offs» nennt das Maya Graf –, mit frischer Start-up-Mentalität, mit Hashtags gegen Gewalt an Frauen. Als sich 2019 der grosse Frauenstreik ankündigte, hatte Alliance F gemeinsam mit der Operation Libero schon eine eigene Aktion lanciert. «Helvetia ruft» heisst die Kampagne, die mehr Frauen in die Parlamente bringen will. Eine andauernde fröhliche Roadshow, die kürzlich darin gipfelte, dass sich bürgerliche Parteipräsidenten in patriarchal-gönnerhafter Pose das Versprechen abringen liessen, mehr Frauen auf die Wahllisten zu setzen.

Das alles könnte einen positiven Effekt auf die Gleichstellung von Mann und Frau haben. Was es sicher bewirkt, ist eine verstärkte Abstützung von Alliance F. Bei der BVG-Reform haben die Gewerkschaften schon vor Ablauf der Beratungen im Parlament das Referendum angekündigt. Ob es dann, anders als bei der AHV-Reform, an der Urne reicht, könnte auch davon abhängen, wie sich Alliance F verhält. Und wie sie wahrgenommen wird. Als «Stimme der Frauen» – oder doch vor allem als bürgerliche Lobbyorganisation.

* Korrigenda vom 16. Februar 2023: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion wird die vom Ständerat vorgeschlagene Eintrittsschwelle in die Pensionskasse mit 17200 Franken beziffert. Tatsächlich sind es 17600 Franken.

Nachtrag vom 30. März 2023 : In der Alliance F knallt es

In der Alliance F bestehen schon länger Spannungen aufgrund der politischen Ausrichtung. Nun haben die SP-Frauen vergangenes Wochenende an ihrer Mitgliederversammlung beschlossen, ihre Mitgliedschaft bis auf Weiteres zu sistieren. Auslöser ist die Positionierung der grössten Frauenorganisation der Schweiz bei der Reform der beruflichen Vorsorge. Alliance F hatte offensiv für die Vorlage lobbyiert – obwohl diese für viele Frauen keine Verbesserung, sondern teilweise sogar eine Verschlechterung in der zweiten Säule bringt. SP, Grüne und Gewerkschaften haben deshalb das Referendum dagegen angekündigt.

Tamara Funiciello, Nationalrätin und Kopräsidentin der SP-Frauen, sagt: «Damit wurde eine Grenze überschritten. Es gibt demokratische Gepflogenheiten, und die wurden nicht eingehalten.» Die grüne Ständerätin Maya Graf, eine der beiden Präsidentinnen von Alliance F, hatte im Parlament Briefe verteilt, in denen sie im Namen der Allianz für eine Zustimmung zur Reform warb – dabei habe es gar keinen demokratischen Entscheid innerhalb des Verbands dazu gegeben, klagt Funiciello. Das sei nur ein halbes Jahr nach der AHV-Abstimmung letzten Herbst, für die Alliance F noch Stimmfreigabe beschlossen hatte und bei der siebzig Prozent der Frauen gegen eine Erhöhung ihres Rentenalters stimmten, als Affront wahrgenommen worden.

Die Basis der SP-Frauen hat ihrem Vorstand nun den Auftrag erteilt, bis im September aufzuzeigen, was mögliche Auswege aus der Krise sind. «Wir müssen jetzt in der Alliance F klären, wie wir mit umstrittenen Themen umgehen», sagt Funiciello. Sie glaube zwar weiterhin, dass die Frauenbewegung geschlossen auftreten müsse, um durchsetzungsfähig zu bleiben. Von den SP Frauen wird jedoch auch die Schaffung einer eigenen, linken Dachorganisation geprüft, die ein Gegengewicht zu den dominierenden bürgerlichen Strömungen in der Alliance F schaffen würde.

Dort versucht man derweil, den Konflikt nicht weiter eskalieren zu lassen. Auf Anfrage teilt der Verband mit: «Wir haben die SP Frauen bereits kontaktiert und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch.»  

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Kommentare

Kommentar von _Kokolorix

Sa., 18.02.2023 - 11:23

Linksgrün hat keinen Einfluss auf die bürgerlichen Entscheidungen. Immer und immer wieder demonstrieren die bürgerlichen Kräfte, dass sie die Linken und Grünen zwar den Mund fusselig reden lassen, einige Lippenbekenntnisse absondern, am Ende aber knallhart ihre Agenda durchsetzen und keinerlei Rücksicht auf andere nehmen.
Gemeinsame Auftritte sind nur Green- bzw. Socialwashing. SP und Grüne sollten sich von solchen Organisationen fernhalten.

Kommentar von VaneKaes

So., 19.02.2023 - 12:52

Roadshow? Flugshow der Air FLP. Ein paar Egos mittels vermeintlich „breiter“ Allianz zu polieren & Ratsklassenwechsel damit zu ermöglichen, ist doch etwas komplett anderes, als vorherrschende Strukturen solidarisch und nachhaltig zu verändern. Ok, cool, genau so funktioniert Lobbyarbeit. Bravo. Aber: Der Schaden, der dabei bei allen anderen Frauen dadurch angerichtet wird, ist furchtbar. Feministische Kollektive sind sachorientiert - der feministische Streik wird gross. Echte feministische Erfolge und Lösungen denken Alle mit - was für ein Hohn gegenüber arbeitenden, pflegenden, betreuenden Frauen, Töchtern, Schwiegermüttern und Grosseltern: Natürlich gibt es mit 55-Jahren Gründe in einem „kleinen“ Pensum zu arbeiten: Dass Alliance F diese nicht kennt und benennt, zeigt, woher der Sprit für die Show stammt. Alliance F verletzt damit ein Grundgebot echter feministischer Arbeit - wir anerkennen alle Formen der Arbeit. Unzählige Mütter reduzieren in der Schweiz ihre Erwerbstätigkeit um ihren Töchtern die Kinder zu hüten - weil es an Infrastruktur fehlt. Pflegen ihre Eltern - weil es an Lohn, Zeit und Personal in Pflegeeinrichtungen fehlt. Alliance F als bürgerliche Lobbyorganisation scheint etwas überholt in gewissen Fragen. Wie auch die Idee, dass Frauen und Männer nur „arbeiten“, wenn sie am Ende des Monats einen Lohnzettel im Kasten haben. Zeit für eine zeitgemässe Bewegung & Verhinderung des sich abzeichnenden Desasters in Form einer Abbaureform.

Kommentar von Helen Issler

So., 19.02.2023 - 17:38

Im Artikel vom 16.2.23 werden Alliance F ihre Erfolge in der Gleichstellungspolitik und ihre Fähigkeit Kompromisse zu erreichen, als fragwürdige Rolle vorgeworfen und der Verband wird als bürgerlich bezeichnet. Als Mitglied mit zwölf jähriger Mitarbeit im Vorstand (bis 2021) wirkt das auf mich als neidische Polemik und sorry, als wenig fundierte Recherche. Im jetzigen AF Vorstand sind drei (!) Frauen SP - Mitglieder, zwei Grüne, zwei Mitte, zwei GLP, zwei FDP und eine Parteilose. Ausgewogener geht nicht. Mit unseren Co-Präsideninnen Ständerätin Maya Graf (Grüne) und Nationalrätin Kathrin Bertschy (GLP) versucht und will alliance F das politisch bestmögliche für die Mehrheit der Frauen in der Schweiz zu erreichen. Wer's besser kann, nur zu!