Unbeschwerte Kindheit? Nicht für uns

Viele schwelgen in romantischer Nostalgie, wenn sie an ihre Kindheit denken: diese unbeschwerte Zeit, als man spielerisch und ohne Verantwortung die Welt entdecken durfte. Die Fürsorge der Eltern ist einem vollkommen sicher. Das warme Bett, die warmen Mahlzeiten und die bedingungslose Liebe der Eltern sind den Kindern garantiert, und ausser das Spielen hat sie nichts zu kümmern. «Zwei Dinge hatten wir, die unsere Kindheit zu dem machten, was sie war – Geborgenheit und Freiheit», sagte Astrid Lindgren einmal. Sie muss es wissen, schliesslich hat sie Pippi Langstrumpf erfunden.

Eine migrantische Kindheit sieht jedoch anders aus: Wenn die Eltern die Sprache des Landes nicht beherrschen und keine Unterstützung erhalten, werden Kinder zu Sozialarbeiter:innen. Diese Kinder lösen Probleme und tragen Verantwortung. Sie übersetzen Briefe von allen möglichen Ämtern, Stellen und Institutionen, füllen Formulare und Steuererklärungen aus, kennen die psychischen und körperlichen Belastungen ihrer Eltern, weil sie oft auch in diesen Belangen übersetzen müssen. Schon als Kind wissen die meisten, wie viel die Eltern verdienen und was die Miete der Wohnung beträgt. Sie wissen auch, dass die Eltern auf der Suche nach einer günstigeren Wohnung sind, weil die Rechnung am Ende des Monats immer nicht aufgeht. Nachts liegen sie wach und erstellen Budgets in ihren Köpfen. Diese Kinder sind nicht sehr geborgen und frei. Und das, obwohl die Eltern ihre Kinder bedingungslos lieben und zudem unvorstellbare Hürden meistern müssen, um ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen. 

Die Erzählung der unbeschwerten Kindheit klammert die Erfahrungen migrantischer Kinder aus. Sie klammert sie nicht nur aus, sie ignoriert sie und macht sie somit unsichtbar.

Ein Bekannter erzählte mir, wie unangenehm es für ihn war, als er im Alter von acht Jahren seine Mutter zum Gynäkologen begleitete und die Frage nach dem letzten Geschlechtverkehr übersetzen und beantworten musste. Für beide war es beschämend. Solche Situationen verletzen die Würde der Kinder und der Eltern. Und vor allem trägt man solche Wunden bis ins Erwachsenenalter.

Später mit 28 Jahren wurde dieser Bekannte bei einer Weiterbildung gefragt, was seine Lebensziele seien und wie seine Träume aussähen. Die Frage und vor allem das Unvermögen, diese Frage zu beantworten, zerrütteten ihn. Kinder, die migrantisch und arm aufwachsen, erleben ständig Traumata, die sie daran hindern, als Erwachsene frei ihr Leben zu gestalten. Ihre Kindheit und Jugend bestanden nur darin, dringend notwendige Dinge zu erledigen, um Katastrophen zu vermeiden. Für sich und ihre Familien. Nur mit dem Überleben hat man jedoch die Selbstverwirklichung und das Träumen noch nicht erlernt. Migrantische Kinder haben keine unbeschwerte Kindheit. Und deshalb ist es für sie als Erwachsene oftmals zu spät, um die Selbstverwirklichung und das Träumen zu wagen. Dafür war einfach nicht genug Geborgenheit und Freiheit da.

An dieser Stelle lesen Sie immer freitags einen Text unserer Kolumnistin Migmar Dolma. Dolma ist Gewerkschafterin, im Vorstandsmitglied des postmigrantischen Thinktanks Institut Neue Schweiz und aktiv in der tibetischen Unabhängigkeitsbewegung. Sie ist 32 Jahre alt und lebt in Olten.