Rassismus in Kinderbüchern: Pippis Papa muss ja kein Kolonialist sein!
Ist es sinnvoll, rassistische Elemente aus Kinderbuchklassikern zu entfernen? Es gilt, den eigenen Blick zu dekolonialisieren – auch in der Schweiz.
Einer der besten Texte, der in den letzten Wochen zur Debatte über Rassismus in Kinderbüchern beigesteuert wurde, erschien in einem Blog. Eine Kunstwissenschaftlerin, die sich «Sula» nennt, hält dort fest, dass Weisse einmal mehr mit Weissen über Rassismus reden, ohne die fundierten Auseinandersetzungen von schwarzen AutorInnen mit dem Thema zur Kenntnis zu nehmen. Sula schliesst mit den Worten: «Und wenn ihr dann wieder ganz viel nicht gelesen, nicht zugehört, nicht hingeschaut und nicht nachgedacht habt, während unsere Kinder in den Schulen weisse Weltsicht, weisse Literatur und weisse Geschichte pauken, dann, ja dann ist es auch endlich mal wieder Zeit für eine weitere ‹Integrationsdebatte›.»
Sulas Text ist nicht zufällig auf einem Blog erschienen. Wer die Diskussion verfolgt, hat – zumindest zu Beginn – ein eindrucksvolles Abbild davon erhalten, wie sehr der Zugang zur Öffentlichkeit von Privilegien abhängen kann und nicht auf Expertise gegründet sein muss.
Die aktuelle Debatte richtig ins Rollen gebracht hat ein in Sachen Rassismus sagenhaft uninformiertes Dossier der «Zeit». Es reagiert auf die Ankündigung des Thienemann-Verlags, in einigen Kinderbüchern verletzende Begriffe wie «Neger» zu ersetzen. Ulrich Greiner, der den Hauptartikel des «Zeit»-Dossiers verfasst hat, wehrt sich gegen diese Änderungen. Sie kämen einer Zensur gleich. Und man dürfe den vielen Deutschen, für deren Lesebiografie diese Texte eine wichtige Rolle gespielt hätten, nicht «die Erinnerung stehlen». Mit dieser Formulierung erklärt er weisse Deutsche, mithin Menschen wie sich selbst, zu den eigentlichen Opfern der Auseinandersetzung.
Hautfarbe und Hygiene
In dasselbe Horn bläst im «Zeit»-Dossier Axel Hackes Artikel mit dem Titel «Wumbabas Vermächtnis. Wie ich ein harmloses Buch schrieb – und plötzlich als Rassist beschimpft wurde». Hackes «harmloses Buch» handelt davon, dass Liedtexte oftmals anders verstanden werden, als sie im Original lauten. Eine witzige Idee. Aber: Das Buch heisst «Der weisse Neger Wumbaba» und zeigt auf dem Titelbild eine Figur, die direkt dem kolonialen Archiv entnommen ist: einen halb nackten Mann im Bastrock mit überzeichneten Lippen, in seinem Haarknopf steckt ein Knochen.
Der Titel verweist auf das «Abendlied» von Matthias Claudius («Der Mond ist aufgegangen»), in dessen erster Strophe bei einigen Zuhörenden nicht «der weisse Nebel wunderbar» aus den Wiesen steigt, sondern «der weisse Neger Wumbaba». Ein «weisser Neger» – für Hacke eine «sagenhaft fremd-schöne» Gestalt. Was ist daran problematisch? Dass diese Figur eine lange und koloniale Geschichte hat. Denn die Obsession mit der schwarzen Hautfarbe ist grundlegend für den Kolonialismus und die moderne Rassenforschung. Und die Bezeichnung «Neger» – dies auch als Antwort an all diejenigen, die zurzeit wieder behaupten, das N-Wort bedeute nichts anderes als «schwarz» – ist mit dieser Geschichte untrennbar verbunden. Es vom Sklavenhandel, dem Kolonialismus und der modernen Rassenforschung zu trennen, ist ungefähr so sinnvoll wie zu behaupten, «Arier» habe nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun, weil es ursprünglich ein sprachwissenschaftlicher Begriff gewesen sei.
Innerhalb der kolonialen Farbmystik nun kommt AfrikanerInnen mit einer hellen Pigmentierung ein spezielles Interesse zu. In den Völkerschauen, die ab 1880 und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein auch in der Schweiz en vogue waren, galten sie als besondere Attraktion. Rea Brändle erzählt in ihrem Buch über Nayo Bruce die Geschichte von Amanoua Kpapo aus Accra, die 1903 als «weisse Negerin» in einer «Togotruppe» in Schweizer Städten aufgetreten ist.
Weisse Schwarze finden zudem in Verbindung mit Hygiene Erwähnung. Denn eine Argumentation, mit der man schwarze Menschen erniedrigt hat, beruht auf der Verbindung von heller Haut mit Reinlichkeit und dunkler mit Schmutz. Seifenwerbungen um 1900 zeigen schwarze Menschen, die sich (zur Belustigung der weissen Kundschaft) mit Seife weiss schrubben.
Die Warenhauskette Globus kündigt im April 1933 in mehreren Inseraten im Zürcher «Tages-Anzeiger» eine neue «Reklame-Idee» an. Die beliebte Kinderfigur Globi bringt einen «weissen Neger» aus Afrika mit, ein – wie es heisst – «einmaliges hochoriginelles Exemplar», das in Tat und Wahrheit so wenig originell ist wie Hackes Wumbaba. Die neue Werbefigur des Globus kombiniert den Sensationseffekt aus den Völkerschauen mit dem Reinlichkeitsdiskurs. Der «weisse Neger» wird in den folgenden Jahren als Aushängeschild für die Weisswarenwochen eingesetzt, in denen es darum geht, Haushaltswäsche im grossen Stil an die Schweizer Frau zu bringen und sie damit auch an ihre Rolle als Hüterin der Reinlichkeit zu erinnern.
Wer glaubt, die rassistische Verbindung von Hygiene und Hautfarbe sei Geschichte, liegt falsch. In einem Schweizer Kinderbuch aus dem Jahr 2000 macht Familie Moll in einem ostafrikanischen Land Ferien. Als der «afrikanisch» gekleidete Papa Moll an einem Marktstand an einem Gewürz riecht, muss er niesen. Die Geschichte endet mit den Worten: «Molls Gesicht wird schwarz wie Russ. Er sieht nun von Kopf bis Fuss völlig afrikanisch aus, so, als wär’ er hier zu Haus.»
Wenn also Hacke behauptet, sein «weisser Neger» sei eine originelle poetische Erfindung, die mit Rassismus nichts zu tun habe, blendet er die koloniale Geschichte aus, die sich mit jedem Wort seines Buchtitels verbindet, mit dem N-Wort, mit der Farbe Weiss und mit dem Namen «Wumbaba», der eine alte Tradition aufruft, afrikanische Sprachen lächerlich zu machen.
Zum Beispiel Pippi Langstrumpf
Nun ist diese koloniale Amnesie, wie sie schwarze AktivistInnen beispielsweise auf der Plattform «Der Braune Mob» seit Jahren dokumentieren und kritisieren, nicht nur Hackes Problem. Vielmehr zeigt gerade die aktuelle Debatte, wie sehr es der weissen Mehrheitsgesellschaft an einem Wissen um die eigene rassistische Verstrickung mangelt.
Diese kollektive Gedächtnisschwäche in Bezug auf die eigene Kolonialgeschichte offenbart sich auch in einem Hauptargument gegen die Dekolonisation von Kinderbüchern. Oftmals wird behauptet, die Texte gäben lediglich den Zeitgeist wieder. Schauen wir uns dieses Argument am viel diskutierten Beispiel von Pippi Langstrumpf an.
Pippis Vater reist nach Ozeanien und wird dort, wie die Erziehungswissenschaftlerin Maureen Maisha Eggers zeigt, in kolonialer Manier zum König der Taka-Tuka-Insel. Astrid Lindgren hat das Buch 1945 zum ersten Mal veröffentlicht, zu einem Zeitpunkt also, als die Unabhängigkeitsbewegungen in Asien und Afrika in vollem Gang waren. Die Nachricht von der indischen Protestbewegung um Mahatma Gandhi oder von den Panafrikanischen Kongressen, so muss vermutet werden, hatte auch Schweden erreicht. Dass Lindgren die vorherrschende koloniale Denkweise zum Ausdruck gebracht hat, muss man ihr nicht als intentionalen Rassismus auslegen. Es ist aber auch nicht so, dass sie es nicht hätte besser wissen können.
In der neuen deutschsprachigen Auflage wird Pippis Vater nicht mehr als «Negerkönig», sondern als «Südseekönig» bezeichnet. Reicht das? Pippi Langstrumpf ist ein Mädchen, das sich über gesellschaftliche Zwänge hinwegsetzt und auf ihre eigene Stärke baut. Gerade darum ist sie nach wie vor unentbehrlich.
Aber wollen wir unseren Kindern weiterhin koloniale Märchen von weisser Überlegenheit und schwarzer Unterwürfigkeit erzählen? Nähme Pippi Langstrumpfs Geschichte Schaden, wenn ihr Vater ein Seemann ohne koloniale Ambitionen wäre? Eine solche Änderung würde es vielmehr möglich machen, das Buch mit nicht weissen LeserInnen zu teilen, wie Simone Dede Ayivi im «Tagesspiegel» schreibt: «Denn eigentlich bedeutet die Frage nur: Sollen unsere liebsten Kinderbücher auf rassistische Begriffe verzichten, damit sie auch schwarze Kinder und Eltern zu ihren Lieblingsbüchern erklären können?»
Schwarze Menschen werden durch rassistische Darstellungen in Kinderbüchern verletzt. Das ist der wichtigste und fraglos ausreichende Grund, um rassistische Kinderbücher zu ändern oder nicht mehr zu verwenden. Wir müssen uns aber auch darüber klarwerden, was wir mit weissen Kindern machen, wenn wir ihnen die Überlegenheit des weissen Blicks beibringen und sie davon abhalten, sich mit schwarzen Figuren identifizieren zu können. Auch da gäbe es viel aus der antikolonialen Literatur zu lernen. Von Aimé Césaire zum Beispiel, der beschreibt, wie der Kolonialherr seine eigene Menschlichkeit verliert, indem er andere entmenschlicht.
Ein zurzeit oft geäusserter Vorschlag verlangt, dass problematische Stellen in Kinderbüchern nicht geändert, sondern von den Eltern beim Erzählen erklärt werden. Aber wie soll das möglich sein, solange ein kollektives Wissen über den Kolonialismus, den Sklavenhandel, die Rassenforschung und über die Geschichten Asiens, Lateinamerikas, Ozeaniens oder Afrikas kaum vorhanden ist? Und schliesslich: Wie soll das vor sich gehen?
Erklären – oder weglegen
Nehmen wir zum Beispiel das nach wie vor beliebte Hörstück «De Schorsch Gaggo reist uf Afrika» von 1970. Zu Beginn reisen zwei Schweizer Knaben wegen der Schokolade nach Afrika. Ich erzähle meiner kleinen Tochter also, dass Schokolade nicht nur ein Markenzeichen der Schweiz, sondern auch Kolonialware ist und dass beides miteinander zu tun hat. Dann weise ich sie darauf hin, dass die Tiere in der Geschichte akzentfrei deutsch sprechen, während die afrikanischen Menschen dies nicht tun. Und warum können Kasperli und Schorsch in der Fremde ihre eigene Sprache verwenden, während die Einheimischen radebrechend deutsch sprechen müssen?
Rassistisch sei die Überlegenheitsfantasie, die beiden kleinen Schweizer Buben könnten den erwachsenen Mann und seine Tochter vor einem Löwen retten, werde ich ihr erklären. Wie es auch ganz und gar unmöglich sei, dass jemand aus der Schweiz nach Afrika gehe und dort auf der Stelle einfach alle Probleme löse, schon gar nicht mit einem Schweizer Cervelat. Wenn die beiden Knaben den Kakaobaum und das Mädchen Susu als ihren Lohn in die Schweiz mitnehmen, erläutere ich ihr den kolonial-patriarchalen Zugriff auf materielle und menschliche Ressourcen, insbesondere Frauen.
Vermutlich wären wir beide an diesem Punkt sehr erschöpft. Falls sich meine Tochter – was sehr wahrscheinlich ist – nicht längst ihren Legosteinen zugewandt hätte. Und überhaupt: Ich habe keine Lust, mein Kind freiwillig solchen Erzählungen auszusetzen. Erklären muss ich ihr diesbezüglich noch genug.
Vorerst suche ich weiterhin nach Kindergeschichten, die wenigstens darum ringen, nicht rassistisch, sexistisch und homophob zu sein. Weil sie eine Welt denkbar machen, von der ich meinem Kind wirklich erzählen möchte.
Patricia Purtschert, Kulturwissenschaftlerin, ist Mitautorin von «Postkoloniale Schweiz – Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien» (Transcript Verlag, 2012).