Das stille Drama von Lesbos: «Sie schlagen ihren Kopf gegen die Wand»
Die Situation im neuen Lager auf der griechischen Insel Lesbos sei noch schlimmer als im ersten, berichtet Kinderpsychologin Katrin Glatz Brubakk. Das psychische Leid der Kinder sei enorm, die Evakuierung dringend.
WOZ: Frau Glatz Brubakk, worunter leiden die Kinder und Jugendlichen in den Flüchtlingslagern auf Lesbos?
Katrin Glatz Brubakk: Sie leiden unter allem, worunter Kinder psychisch leiden können: Albträume, Konzentrationsschwierigkeiten, niedrige Frustrationstoleranz, Aggressivität sowie Panikattacken. Manche Kinder ziehen sich fast vollständig von der Welt zurück. Sie spielen nicht mehr, manche haben seit acht Monaten kaum ein Wort gesprochen. Andere sind so apathisch, dass sie nicht mehr selber essen und gefüttert werden müssen. Sie sind so antriebslos, dass sie nicht einmal mehr selber zur Toilette gehen. Neunjährige Kinder müssen teilweise selbst tagsüber wieder Windeln tragen.
Welche Folgen hatte das Feuer im Flüchtlingslager?
Seitdem das Lager Moria abgebrannt ist, gibt es hier viele Kinder, die schlafwandeln. Das Feuer hat die Kinder im September letzten Jahres aus dem Schlaf gerissen. Plötzlich mussten sie um ihr Leben rennen. Davon träumen sie noch heute. Nachts laufen sie durchs Lager und schreien: «Hilfe! Es brennt! Ich sterbe!» Da das neue Lager direkt am Wasser liegt, binden mittlerweile manche Eltern ihre Kinder nachts fest, damit sie nicht ins Meer laufen und ertrinken. Körper und Psyche brauchen erholsamen Schlaf, um nicht krank zu werden. Aber die Kinder in den Flüchtlingslagern von Lesbos haben keinen guten Schlaf. Manche Kinder leiden auch deshalb unter schwersten Depressionen. Sie verletzen sich, indem sie sich selbst beissen, sich die Haare ausreissen oder ihren Kopf gegen die Wand oder auf den Fussboden schlagen, bis sie bluten.
Gibt es auch Kinder, die so verzweifelt sind, dass sie sich das Leben nehmen wollen?
Ja. Ärzte ohne Grenzen hat im Jahr 2020 fünfzig Kinder wegen schwerer Selbsttötungsgedanken oder Suizidversuchen behandelt. Das jüngste Mädchen war acht Jahre alt. In diesem Jahr haben wir schon drei Kinder nach Suizidversuchen behandelt. Unter ihnen ist ein dreizehnjähriger Junge aus Afghanistan, der schon sehr viele Selbstmordversuche hinter sich hat.
Wie können Sie ihm helfen?
Wir sehen ihn und seine Eltern mehrmals pro Woche. Wenn nötig, verschreiben wir Medikamente und erstellen mit den Eltern Sicherheitspläne. Wir versuchen, die Lage – soweit es unter den Bedingungen hier geht – zu stabilisieren, bis die Kinder in eine psychiatrische Klinik auf dem griechischen Festland verlegt werden können. Nur in so einer Einrichtung kann eine richtige Behandlung erfolgen.
Wie können Sie anderen psychisch kranken Kindern helfen?
Indem wir mit ihnen sprechen, spielen und malen. Beim Spielen können sich die Kinder zumindest für kurze Zeit entspannen. Das baut das Stresshormonlevel im Körper ab. So werden Kinder wieder in die Lage versetzt, sich zu konzentrieren und zu lernen. Mit den älteren Kindern sprechen wir viel, um gute, aber verschüttete Erinnerungen wieder hervorzuholen. Viele Kinder malen immer wieder Schulen, weil sie endlich wieder zur Schule gehen wollen. Ein siebenjähriger Junge aus Syrien malt ständig sein grünes Fahrrad, das bei der Bombardierung seines Elternhauses zerstört wurde. Er würde so gerne wieder Fahrrad fahren. Wenn Kinder keine Träume, Wünsche und Pläne mehr haben, sehen sie keinen Grund mehr, morgens aufzustehen und weiterzuleben. Das müssen wir verhindern.
Können die Eltern ihren psychisch kranken Kindern helfen?
Es gibt im Lager viele Eltern, die ich sehr dafür bewundere, wie sie ihren Kindern trotz der widrigen Umstände die bestmögliche Geborgenheit geben. Aber auch die Resilienz dieser Eltern ist irgendwann aufgebraucht. Zudem gibt es im Lager viele Kinder, die alleine geflohen sind oder keine Eltern mehr haben.
Viele Kinder waren schon vor Moria traumatisiert.
Viele, die vorher noch nicht psychisch krank waren, werden es hier. Die meisten Kinder sind aber bereits von dem traumatisiert, was sie in ihrer Heimat oder auf der Flucht erlebt haben. Sie haben erlebt, wie Familienangehörige verhungert sind oder vor ihren Augen enthauptet wurden. Viele haben erlebt, wie Angehörige ertrunken sind, als die völlig überladenen Schlauchboote zwischen der Türkei und Griechenland sanken. Vor allem Mädchen, die alleine flohen, wurden oft mehrmals vergewaltigt, mussten mit ihrem Körper für eine Übernachtung oder den nächsten Fluchtabschnitt bezahlen.
Gibt es für psychisch kranke Kinder im Lager Heilungschancen?
Hier können wir uns nur darum bemühen, sie am Leben zu halten. Wir kleben nur ein Pflaster auf die Brandwunde, während die Menschen noch im Feuer stehen. Als Therapeutin macht mich das total fertig, denn ich weiss, dass es möglich wäre, diese Kinder unter normalen Bedingungen zu heilen.
Sind wenigstens die Bedingungen im neuen Lager besser?
Nein! Zwar wurden vor kurzem ein paar Paletten unter die Zelte gelegt, sodass sie nicht ständig überflutet sind. Auch hat man mittlerweile Plastikplanen über die Zelte gezogen, damit es nicht immer hineinregnet. Und es gibt jetzt ein paar Duschen im Lager, damit man sich zumindest einmal in der Woche waschen kann. Früher war das hier gar nicht möglich. Aber es gibt immer noch viel zu wenig Toiletten. Und die sind so dreckig, dass viele Menschen möglichst wenig essen und trinken, damit sie nicht so oft aufs Klo müssen. Das Essen, für das sie lange Schlange stehen müssen, ist oftmals zu wenig, und manchmal ist es zudem vergammelt. Immerhin haben die verschärften Sicherheitsmassnahmen dazu geführt, dass es weniger Messerstechereien gibt. Aber alles in allem kann man das doch keine Verbesserung nennen. Den meisten Menschen geht es jetzt schlechter, als es ihnen im katastrophalen Lager Moria ging.
Warum?
Weil ihre Hoffnung schwindet. Als ich vor fünf Jahren das erste Mal in Moria war, herrschte hier noch eine ganze andere Stimmung. Die Menschen waren froh, dass sie die gefährliche Bootsfahrt überlebt hatten, und hofften, sich bald eine neue Existenz aufbauen zu können. Von dieser Hoffnung ist kaum noch etwas geblieben. Fast achtzig Prozent der Menschen, die jetzt in den Lagern auf Lesbos leben, sind seit mindestens fünfzehn Monaten hier. Sie sind zermürbt. Mittlerweile geben viele die Hoffnung auf, dass das Leben jemals besser wird. Bei vielen Menschen sind die Reserven aufgebraucht. Sie brechen einfach zusammen.
Leiden Kinder stärker als Erwachsene unter der Perspektivlosigkeit?
Wir Erwachsenen haben Lebenserfahrung. Wir haben in unserem Leben bereits Probleme erlebt und gelöst und wissen aus Erfahrung, dass nach schwierigen Zeiten oft bessere Zeiten kommen. Vor allem Kinder, die ihr gesamtes bewusstes Leben auf der Flucht oder in einem schlimmen Flüchtlingslager verbracht haben, wissen das nicht. Darum verzweifeln sie leicht.
Was macht es mit einem Kind, wenn es unter solch schlimmen Bedingungen aufwächst?
Das hat katastrophale Folgen. Kinder sind stärker als Erwachsene von der Umgebung abhängig. Sie brauchen Sicherheit, Geborgenheit und Planbarkeit, um sich gesund entwickeln zu können. All das ist im Lager nicht gegeben. Die Kinder stehen unter Dauerstress. Sie haben immer das Gefühl, auf der Hut sein zu müssen. Wenn man chronisch in Alarmbereitschaft ist, kann sich der Teil des Gehirns, der unter anderem fürs Planen, Lernen, die Regulierung von Gefühlen und die Etablierung guter zwischenmenschlicher Beziehungen zuständig ist, nicht richtig entwickeln.
Im Lager können die Kinder auch nicht zur Schule gehen. Welche Folgen hat das?
Wenn sie irgendwann an einem sicheren Ort leben, wird es für viele eine grosse Herausforderung werden, zur Schule zu gehen. Viele von ihnen haben noch nie eine Schule besucht, andere seit Jahren nicht mehr. Sie müssen erst lernen, sich zu konzentrieren, still zu sitzen und zuzuhören. Je älter sie sind, desto grösser sind ihre Wissenslücken.
Werden sie das Versäumte je aufholen können?
Sobald Kinder gute Lebensbedingungen erhalten, können ihre Gehirne oft Unglaubliches leisten. Aber je länger die Kinder zuvor im Lager gelebt haben, desto länger werden sie brauchen, um sich zu integrieren, und desto mehr Unterstützung werden sie dabei brauchen. Abgesehen davon, dass wir schon jetzt eine moralische Pflicht haben, diesen Kindern zu helfen, verursachen wir durch die unterlassene Hilfeleistung auch riesige sozioökonomische Kosten, die unsere Gesellschaften später tragen müssen. Auch deshalb müssen wir die Kinder hier so schnell wie möglich rausbringen. Jeder Tag zählt!
Wer ist schuld daran, dass die Geflüchteten auf Moria so leiden?
Die Bedingungen im Lager sind nicht das Resultat einer Naturkatastrophe, die wir nicht verhindern konnten. Sie sind die Folge von politischen Entscheidungen. Seit über fünf Jahren machen ich und viele andere immer wieder auf diese Schande Europas aufmerksam. Politische Entscheidungsträger versprechen uns dann, dass es besser wird – aber das Gegenteil ist der Fall! Vor allem die Kinder müssen aufs griechische Festland und in andere europäische Länder gebracht werden, wo sie gesund aufwachsen können. Es muss eine europäische Lösung geben. Aber: Europa guckt zu, wie diese Menschen langsam zugrunde gehen. Es ist eine politische Wahl, Menschen so zu behandeln. Nach dem Feuer sagte die EU: Nie wieder Moria! Jetzt haben wir ein zweites Moria.
Katrin Glatz Brubakk
Die Norwegerin Katrin Glatz Brubakk (50) unterrichtet Klinische Kinderpsychologie an der Universität Trondheim.
Sie kehrt im Auftrag von Ärzte ohne Grenzen jedes Jahr für mehrere Monate nach Lesbos zurück, wo sie traumatisierte und suizidgefährdete Kinder und Jugendliche behandelt. «Wenn sich die geflüchteten Kinder einmal in dein Herz geschlichen haben, lassen sie dich nicht mehr los», sagt sie zu ihrer Motivation.