Anruf bei: Sascha Girke, Seenotretter

WOZ: Sascha Girke, Sie stehen in Trapani auf Sizilien vor Gericht, weil Sie als Seenotretter der deutschen «Iuventa»-Crew angeblich Beihilfe zur illegalen Einreise geleistet haben sollen. Wie lange dauert das Verfahren schon?

Sascha Girke: Wir stecken immer noch in der Vorverhandlung. Die allein zieht sich schon seit zwei Jahren hin. Ich habe bisher an ungefähr dreissig Prozesstagen teilgenommen. Der Richter spricht von der längsten Vorverhandlung in der Geschichte von Trapani.

Nun kam es am Samstag zu einer spektakulären Wende.

Genau, die Hauptzeug:innen der Staatsanwaltschaft mussten aussagen, Pietro Gallo, Floriana Ballestra und Lucio Montanino. Sie verstrickten sich im Kreuzverhör in zahlreiche Widersprüche. Sie haben offenkundig keine Ahnung von dem, was da vor ihren Augen passierte, weder von Seenotrettung im Speziellen noch von grundlegenden maritimen Verhaltensweisen.

Gallo, Ballestra und Montanino begleiteten die Seenotrettungen als Sicherheitsleute einer Reederei. Sie wollen nach wenigen Tagen beobachtet haben, dass Sie mit Schleppern kooperierten …

Im Verhör mussten sie zugeben, dass sie nichts von dem, was sie damals behaupteten, selbst beobachtet hatten. Sie hätten sich das nur so vorgestellt. Im Saal schüttelten alle die Köpfe. Selbst die Staatsanwältin meinte: «Beleidigen Sie nicht unsere Intelligenz!»

Die WOZ hatte gemeinsam mit der «Zeit» bereits 2019 eine Recherche veröffentlicht, in der Gallo seine Beschuldigungen widerrief. Was ist das Motiv dieser angeblichen Zeug:innen?

Sie haben sicher eine politisch rechte Einstellung. Vor allem aber – das zeigen von der Polizei abgehörte Anrufe von Gallo und Ballestra – haben sie sich einen persönlichen Vorteil versprochen: Gallo hofft auf seine Rückkehr in den Polizeidienst, aus dem er früher einmal geschasst wurde. Ballestra, ebenfalls aus dem Dienst entlassen, hatte sich einen Job bei der Lega Nord versprochen. Sie haben sich ja zuerst bei Lega-Chef Matteo Salvini gemeldet, der die Vorwürfe dann politisch instrumentalisierte.

Was bedeutet es für die Anklage der Staatsanwaltschaft, dass die Zeug:innen nicht glaubwürdig sind?

Die Existenz vertrauenswürdiger Augenzeug:innen galt stets als das entscheidende Merkmal des «Iuventa»-Falles. Andere Untersuchungen gegen Seenotretter:innen, bei denen es keine solche gab, wurden eingestellt. Spätestens jetzt sind auch in unserem Fall alle Beweise diskreditiert.

Die Schlussverhandlung findet Ende Februar, Anfang März statt. Hoffen Sie auf einen Freispruch?

Wir können so weit optimistisch sein. Doch auch wenn das Verfahren gegen uns eingestellt wird, so wäre das nur bedingt ein Grund zur Freude. Gerade die Groteske am Samstag zeigte einmal mehr: Die Ermittlungen, die von Anfang an jeglicher Grundlage entbehrten, waren ein strategisches Mittel des Staates, um die Seenotrettung zu blockieren und unliebsamen Aktivismus zu kriminalisieren.

Wie steht es aktuell um die Seenotrettung im Mittelmeer?

Auf die Beschlagnahmung der «Iuventa» 2017 folgte eine Phase der Kriminalisierung der Seenotrettung. Mit dramatischen Folgen: 10 000 Menschen haben gemäss der Uno-Migrationsagentur IOM seither im zentralen Mittelmeer ihr Leben verloren, 200 000 wurden von der libyschen Küstenwache gewaltsam zurückgeschafft. Heute sind zwar wieder ähnlich viele Rettungsschiffe unterwegs wie damals. Aber aufgrund juristischer Restriktionen sind ihre Kapazitäten leider viel geringer.

Sie sind ausgebildeter Rettungssanitäter. Beteiligen Sie sich nach einem allfälligen Freispruch wieder an Seenoteinsätzen?

Absolut, das steht nicht infrage! Während der Vorverhandlung war mir das nicht möglich, sie hat zu viel Zeit, Ressourcen und Kraft gekostet.

Was ist eigentlich aus der «Iuventa» geworden?

Das Schiff wurde von den italienischen Behörden im Hafen von Trapani sich selbst überlassen. Es wurde geplündert und zerstört. Da es zu sinken drohte, wurde es letztes Jahr an Land gebracht. Mittlerweile befindet es sich in einer Werft, wo es notdürftig instand gehalten wird. Wir haben juristisch erreicht, dass uns der Staat das Schiff bei einer Einstellung des Verfahrens zurückgeben muss – und zwar im Zustand bei der Beschlagnahmung. Eine Reparatur dürfte ins Geld gehen.