Alles, was klar ist
Bislang habe ich in dieser Kolumne versucht, stets einmal um die Ecke zu denken. Heute möchte ich alles aufschreiben, was klar ist. Die SVP hat kürzlich eine neue Initiative lanciert, die zum Beispiel ganz klar zu verwerfen ist. Ich möchte sie hier nicht mal besprechen. Ich möchte lieber von Menschen erzählen, deren Situation eine Klarheit in mir hervorruft, die es in meinem Job mehr und dringender braucht als jede hadernde Fragerei.
Zum Beispiel die Geschichte von P., dessen Härtefallgesuch vor zwei Monaten abgelehnt wurde, weil er zu wenig gut integriert sei. Mir ist es zuwider, nun aufzuzählen, in wie vielen Schwingervereinen P. seit Jahren mittrainiert, aber ich sage Ihnen, das würde selbst Marcel Dettling beeindrucken. Im ablehnenden Härtefallentscheid stand, dass neben all der Schwingerei zwei enge Freunde nicht genügten, um von «genügender sozialer Verwurzelung» zu sprechen. Ich habe dann kurz gezählt, wie viele enge Freundinnen ich habe.
Oder letzte Woche, als zwei Kolumbianerinnen bei mir im Büro standen, um sich den Plan der Deutschkurse erklären zu lassen. Sie wünschten von mir, dass ich ihnen alle Deutschkurse ankreuze, die in Gehdistanz von der Turnerstrasse seien. Das ist die Zivilschutzanlage im Zürcher Kreis 6. Ob sie denn kein ÖV-Ticket kaufen könnten? Nein, erzählten mir die beiden, «no money for people from america del sud». Weil ihre Chancen auf Asyl als gering eingeschätzt werden, werden sie also einfach mal präventiv ausgeschlossen von jeglicher Grundversorgung. Ja, man kann auch auf unterirdischem Niveau Ungleichbehandlung auf die Spitze treiben.
Und eine Frau mit fast gleichem Jahrgang wie ich wurde nach Kroatien ausgeschafft, obwohl das Unispital attestierte, dass man aufgrund einer Infektion einen schweren chirurgischen Eingriff an ihr hatte vornehmen müssen und, ich zitiere, «eine Ausschaffung lebensbedrohlich» sein könne. Die Frau sitzt jetzt wegen fehlender medizinischer Nachbehandlung im Rollstuhl. Der Mann ist noch in der Schweiz, er war gerade nicht da, als die Polizei kam – ihre drei kleinen Kinder, mit ihr zusammen ausgeschafft, werden den Rollstuhl stossen müssen.
Oder ich denke an den Mann aus Eritrea, der gemäss einem erfahrenen Asylrechtsanwalt auf jeden Fall hätte Asyl bekommen müssen. Er leistete sechzehn Jahre Militärdienst in Eritrea und desertierte dann. Doch die Rechtsvertretung hatte wohl geschlafen. Jetzt ist er seit neun Jahren in der Schweiz, bekommt Nothilfe, ist also fast ohne Rechte, und geht langsam, langsam ein. Ich kenne ihn und weiss, wie seine Augen leuchten könnten. Sie tun es nicht mehr oft. Fünf Kinder musste er in Eritrea zurücklassen. Er telefoniert mit ihnen, sie fehlen ihm. Um ihnen Geld schicken zu können, hat er sich stark verschuldet. Nun hat er Angst vor seinen Gläubigern. Und keine Chance auf ein positives Härtefallgesuch. Wie wird er alt werden? Wo? In Ruanda? Oder werde ich mit ihm im Altersheim sein? Wird er vorher an Kummer sterben?
Ich bin ja bekanntlich dem Hadern und Zweifeln nicht abgeneigt. Wo immer es etwas im Zwielicht anzuschauen gibt, rücke ich es hinein ins Flimmern. Wenn ich allerdings nahe bei den Menschen bin, dann bin ich militant. Ich kämpfe für meine Überzeugungen, die dann wären: So nicht! So geht man nicht mit Menschen um!
Ich könnte auch jetzt beginnen, darüber nachzudenken, warum «die Menschlichkeit» als Argument für mich zweifelhaft ist. Überzeugt von der Gleichheit und den gleichen Rechten aller Menschen, benutze ich das Wort «Menschlichkeit» nicht gern als Argument. Was soll denn «unmenschliche Behandlung» bitte schön sein? Nichts leichter, als mir zu vergegenwärtigen, zu welch ungeheuren Taten eben diese menschlichen Wesen, die Menschen, fähig sind.
Aber jetzt bin auf Abwege geraten. Heute wollte ich alles aufschreiben, was klar ist.
Dazu gehört die Frage, was menschlich ist, nicht.
Immer freitags lesen Sie auf woz.ch einen Text unserer Gastkolumnistin Hanna Gerig. Gerig ist seit acht Jahren Koleiterin des Vereins Solinetz, der sich für geflüchtete Menschen im Raum Zürich einsetzt. Ihre Arbeit gefällt ihr sehr. Und doch fragt sie sich manchmal, was sie da eigentlich tut; warum sie und warum das.