Überdurchschnittlich sozial integriert

Am Mittwochabend haben 22 Freiwillige von Solinetz an einem Onlineinput teilgenommen, wo sie lernten, was ein gutes Referenzschreiben ist. Abgewiesene Asylsuchende brauchen ein solches, wenn sie ein Härtefallgesuch einreichen möchten. Was heisst eins, mindestens zehn gute Referenzschreiben brauchen sie, so der Erfahrungswert der Anwältin, die den Input gab.

«Der Integrationsgrad der Gesuchsteller ist ein wesentliches Beurteilungskriterium bei Härtefallgesuchen. Erforderlich ist eine vertiefte Integration, d. h. eine überdurchschnittliche soziale und berufliche Integration in der Schweiz.» So steht es in der Weisung des Migrationsamtes.

Das mit dem «beruflich» kann getrost weggelassen werden, dürfen abgewiesene Asylsuchende ja gar nicht arbeiten. Gemeint ist einfach, dass die Person trotz Arbeitsverbot aufzeigen kann, dass sie absolut startklar in den Startlöchern ist, um sofort ab Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung loszulegen. Fit, gewillt und bereits von einem Arbeitgeberbetrieb sehnlichst erwartet!

Bleibt die «überdurchschnittliche soziale Integration»: Die Referenzschreiben müssen aufzeigen, dass die Person hier «persönliche Beziehungen pflegt, die über Freundschaften hinausgehen». Das heisst jetzt nicht das, was Sie vielleicht meinen, gemeint ist einfach das, was die Behörde eben meint. Es ist eine Formulierung aus einem ablehnenden Entscheid in einem Fall, wo diese eben fehlten.

Die Referenzschreiben müssen aufzeigen, dass die Person quasi eingewachsen ist in die hiesige Gesellschaft, sodass eine Ausschaffung wäre, als würde man ein mit Adern und Muskeln verbundenes Stück Gewebe aus einem Organismus reissen. Die Person muss hier aufgegangen sein wie ein guter Gugelhopf im Ofen, bloss dass Letzterer für sie nur Kälte ausstrahlte.

Das Verrückte ist, dass es viele irgendwie tatsächlich schaffen. Es beeindruckt mich oft sehr, wenn ich sehe, wie kraftvoll Menschen im Nothilfesystem ihr Leben hier führen, wo doch von staatlicher Seite alles für ihre Zermürbung getan wird.

Ich habe schon viele Referenzschreiben geschrieben, nicht einfach irgendwelche, sondern stets für Menschen, die ich tatsächlich seit Jahren kenne und die ich sehr schätze. Ich war beim Schreiben jeweils ganz unruhig, weil ich unbedingt wollte, dass meine Begeisterung für die Person aufs Papier abfärbt und dann sozusagen wie Leuchtfarbe in die Gesichter der Härtefallkommissionsmitglieder strahlt, sodass diese gleich aufstehen und rufen: Diese Person wird aufgenommen, sonst trete ich zurück.

Es gibt so viele tolle Menschen!

Aber was schreibe ich da? Eigentlich ist mir dieser Zirkus derart zuwider! Betonen zu müssen, dass jemand «überdurchschnittlich sozial integriert ist», zwingt mich jedes Mal dazu, Werte anzunehmen, die ich nicht teile. Was ist das denn für eine groteske Talentshow? Mit welchen Talenten genau?

Wie peinlich, dass mein Referenzschreiben mehr zählt, weil ich einen Schweizer Pass habe. Ich wage zu bezweifeln, dass ich deshalb eine bessere Freundin bin.

Aber wenn Sie, liebe Härtefallkommissionsmitglieder, jetzt einwerfen wollen, dass ich mir dazu keine Gedanken mehr zu machen brauche, weil meine Referenzschreiben aufgrund ihrer grossen Anzahl eh wertlos geworden seien, dann sage ich: Sie wissen gar nicht, wie viele Freundschaften so eine Schweizerin pflegen kann!

Es gibt einen Satz in der Weisung, der meinem Empfinden fundamental widerspricht. Da steht: «Die Dauer der Anwesenheit in der Schweiz begründet per se keinen Härtefall.» Ich kenne einen Mann, der seit 25 Jahren hier lebt. Es heisst, er sei «staatenlos». Ich wünschte, ich könnte jetzt einen Text schreiben, der Sie das Gewicht dieser 25 Jahre in der Notunterkunft auf Ihren Schultern spüren liesse.

Und jetzt lesen Sie weiter: «Die Dauer der Anwesenheit in der Schweiz begründet per se keinen Härtefall. Andernfalls würde die beharrliche Verletzung von geltendem Recht gewissermassen belohnt werden.» «Verletzung», «Recht» und «Belohnung». Man könnte diese Wörter, wenn schon, auch anders kombinieren.

Immer freitags lesen Sie auf woz.ch einen Text unserer Gastkolumnistin Hanna Gerig. Gerig ist seit acht Jahren Koleiterin des Vereins Solinetz, der sich für geflüchtete Menschen im Raum Zürich einsetzt. Ihre Arbeit gefällt ihr sehr. Und doch fragt sie sich manchmal, was sie da eigentlich tut; warum sie und warum das.